Von Jara Hamdorf und Hanna Lubcke, Hamburg
Das Projekt. Der Wahl-O-Mat zum Aukleben (WOMZA), neben der digitalen Variante von der Bundeszentrale für politische Bildung zur Verfügung gestellt, wird deutschlandweit in vielen Städten genutzt. Zumeist aufgestellt an Orten mit viel Publikumsverkehr, lädt er Passanten ein, sich mit den politischen Themen der Wahl auseinander zu setzen und darüber mit anderen ins Gespräch zu kommen. Das Besondere in Hamburg: Das analoge Tool ist eingebettet in ein Format politischer Bildung, das auf die Gruppennutzung durch junge Menschen zugeschnitten ist. Jede Gruppe wird von ausgebildeten Teamer*innen begleitet. Entwickelt wurde dieses Bildungsformat durch die hiesige Landeszentrale für politische Bildung und den Landesjugendring Hamburg, die diesmal zur Europawahl bei der Durchführung des Projektes miteinander kooperieren. 55 Schulklassen und weitere Gruppen junger Menschen haben das kostenfreie Angebot genutzt.
Der Spielort ist ein besonderer: Mitten in der HafenCity, im Start-Hub der Körber-Stiftung, haben Erst- und Jungwähler*innen die Möglichkeit, über die Wahl zum Europaparlament zu diskutieren und ihre Haltung zu den Thesen zu finden. Politische Bildung mit Hafenblick.
Europa. Zu Beginn kommen die Teilnehmenden, diesmal eine Gruppe »Bufdis« – Jugendliche vom Bundesfreiwilligendienst beim Diakonischen Werk –, in einem der Seminarräum der Körber-Stiftung zur Einstimmung zusammen. Zwei Teamer*innen geben erst einmal eine Einführung in das Thema Europawahl. Es geht um die verschiedenen Institutionen der EU und ihre Rollen: neben dem Parlament gibt es noch den EU-Rat, die EU-Kommission, den Rat der EU und den Europäischen Gerichtshof. Was erstmal kompliziert scheint, wird anschaulich erklärt. Vor allem geht um die Rechte des europäischen Parlamentes in diesem großen Gefüge verschiedener Institutionen. Dann geht es um die Wahl selbst: Wie viele Sitze hat jedes EU-Land im gemeinsamen Parlament? Welche Fraktionen gibt es? Welche Parteien stehen zur Wahl? Sind es nationale Listen oder etwa europaweite Wahllisten der Parteien? Das ist alles wiederum sehr komplex und unterscheidet sich stark von nationalen Wahlen. Und das alles klingt nach schwerem »Unterrichtsstoff« für Jugendliche. Hier aber zeigt sich bereits ein Vorteil des WOMZA-Projektes: Die Teamer*innen sind nur wenig älter als die Teilnehmenden. Über die politischen Themen wird im einer Peer-to-Peer-Situation diskutiert. Auf Augenhöhe und in einer gemeinsamen Sprache. Die Atmosphäre ist locker.
Kleben. Nach einer halben Stunde geht es gemeinsam weiter zu den Planwänden des WOMZA – dem zentralen Element des Wahl-O-Mat zum Aufkleben. Die Jugendlichen erhalten Klebepunktzettel mit grünen und roten Punkten. Und los geht’s. In Gruppen verteilen sie sich vor den Planwänden, auf denen die gleichen 38 Thesen wie bei der digitalen Variante stehen. Was direkt auffällt: Viele der zur Debatte stehenden Thesen sind zwar kurz und knackig formuliert. Doch um zu verstehen, was politisch damit jeweils impliziert ist, setzen die Thesen viel Vorwissen voraus. Da kommen viele Fragen auf. Zumal die Themen sehr divers sind: Es geht um Energiequellen, Fachkräfte, den Krieg in der Ukraine, Seenotrettung und die EU-Außengrenzen – und noch viel mehr. 38 Thesen, 38 politische Themenfelder. Hier helfen die Teamer*innen weiter und beantworten aufkommende Fragen.
Debatten. Die EU-Wahl ist für viele der Jugendlichen im Raum die erste Wahl, an der sie teilnehmen dürfen. Doch von wegen politische Neulinge. Statt still und leise die Klebepunkte bei den Thesen anzubringen, wird in den Gruppen erst einmal lebendig und kontrovers diskutiert. Argumente werden abgewogen, unterschiedliche Ansichten eingebracht. Manchmal geht es auch über die bloße Positionierung zu einer These hinaus– zum Beispiel beim Rechtsruck in der Gesellschaft und beim Klimawandel. Einige Jugendliche diskutieren, was auch sie selbst dagegen tun könnten.
Die begleitenden Teamer*innen berichten von ihren Erfahrungen in den zurückliegenden Gruppenbegleitungen: Jede Schulklasse oder Jugendgruppe sei unterschiedlich an die Thesen herangegangen, mal sei eine stärkere Unterstützung notwendig gewesen. Ein anderes Mal lief es wie von selbst. Zudem seien die intensivsten Diskussionen an unterschiedlichen Themen entbrannt. Das rühre daher, dass das Spektrum der teilnehmenden Gruppen sehr breit sei. Es reicht von Schulklassen aus Gymnasien oder Stadtteilschulen bis hin zu Klassen aus berufsbildenden Schulen. Auch eine Gruppe junger Menschen mit Lernbehinderung war schon mit dabei.
In Präsenz und/oder Online? Der WOMZA ist dem Online-Tool ähnlich. Die Teamer*innen erklären, dass er eine gute Orientierung bietet. Eine weitere Beschäftigung mit den zur Wahl stehenden Parteien ersetzt er jedoch nicht, deshalb ermutigen sie die Jugendlichen, sich weiter zu informieren. Das gehe besser mit dem Online-Tool. Hier bietet der Wahl-O-Mat etwas, was analog nicht geht: Online werden zu jeder These Hintergründe und die jeweiligen Antworten der Parteien dargestellt. Neu sei beim diesmaligen Wahl-O-Mat-Projekt in Hamburg, beide Formate miteinander zu verknüpfen. Jeweils eine Kleingruppe innerhalb der Teilnehmenden nutze das Smartphone zusätzlich bei der Durchführung. Das werde man nach dem Projektende auswerten und schauen, ob sich daraus Vorteile ergeben.
Fast fertig. Nach dem Kleben der Punkte geht’s zur Auswertung. Die Klebepunktzettel bieten nun, je nachdem, welche roten oder grünen Punkte zu den Thesen davon abgezogen wurden, ein unterschiedliches »Lochraster«. Das macht die individuelle Errechnung der Übereinstimmungswerte zu den Parteien erst möglich. Die Jugendlichen stecken ihren Zettel dazu in einen Kasten, der wie eine große Wahlurne ausschaut. Im Inneren werkelt ein Scanner, der die Werte errechnet und das Ergebnis auf einem kleinen Zettelchen flugs ausspuckt. Einige der Teilnehmenden sind über ihr Ergebnis überrascht, andere erzielen, was sie erwartet haben.
Die Gruppe findet sich anschließend im Kreis zusammen, um gemeinsam auszuwerten. Es geht auch darum, was der Wahl-O-Mat leisten kann und was nicht. Dass das Tool keine Wahlempfehlung ausspricht, und warum das so ist, ist schnell geklärt. Besonders kontrovers gevotete Thesen werden noch einmal angesprochen. Viele finden den WOMZA besser als das online-Format, weil ihnen beim Diskutieren erst klar geworden sei, wie komplex manche politischen Themen sind und ihre erste Intention nicht unbedingt die richtige gewesen sei.
»Mir hat’s gut gefallen. Meine Gruppe hatte unterschiedliche Meinungen. Der Austausch zeigte, dass man manche Sachen erstmal falsch versteht«, berichtet eine Teilnehmerin. »Mir hat’s auch gut gefallen und besonders, dass wir so viel diskutieren konnten«, schließt sich eine andere an.
Die Langsamkeit des Analogen. Der Wahl-O-Mat zum Aufkleben ist sehr aufwendig: Er verbraucht viel Material, die speziell gedruckten Klebepunktzettel und weiteres. Zudem sind Vorbereitung und Durchführung des Gesamtprojektes sehr arbeitsintensiv. Demgegenüber erscheint das Online-Tool smarter und zeitgemäßer, weil er effizienter in den Kosten ist und eine viel größere Reichweite generieren kann. Doch in der Langsamkeit des Analogen steckt ein riesiger Vorteil: Diskussionen stehen im Vordergrund. Statt alleine am Smartphone durch die Thesen zu wischen, kommen hier Jugendliche miteinander ins Gespräch über Politik und diskutieren über politische Entscheidungen, die sie selbst betreffen.
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Fotos: © Philine Hamann, Sozialbehörde Hamburg, und Jara Hamdorf, LJR Hamburg