Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3-2022, Rubrik Titelthema

Nicht-Nachhaltige Entwicklung

Das Konzept »Bildung für nachhaltige Entwicklung« im Widerspruch von Systemmodernisierung und grundsätzlicher Systemtransformation

Von Peter Euler, Universität Darmstadt*

Anders als noch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist das Thema »Umwelt« heute in der Öffentlichkeit angekommen. Der UN-Weltgipfel in Johannesburg 2002 beschloss zudem einen »pädagogischen Flügel« der UN-Umweltpolitik unter dem Begriff einer »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE), der sich seitdem etabliert hat, allerdings bis zur völligen Konturlosigkeit seiner selbst. Doch was ist ein angemessenes Verständnis der Problematik und was trägt zum Gelingen der damit visierten, überlebensnotwendigen »Großen Transformation« [1] bei? Längst sind prominente Akteure aus der Anfangszeit heute scharfe Kritiker:innen einer versäumten Entwicklung für eine nachhaltige Entwicklung geworden und mahnen schnellstmögliche Systemveränderung an.

Soll also institutionalisierte Bildung ihrer aufklärerischen und menschheitlichen Aufgabe gerecht werden, dann besteht ihr Auftrag nicht darin, eine hinter dem gegenwärtigen Stand der Einsicht zurückbleibende Nachhaltigkeitsideologie in den Bildungsbetrieb einzubauen, sondern in der Anstrengung, das allgemeine Bewusstsein auf die Höhe der Einsicht in die Gründe der sich noch immer verschärfenden Nicht-Nachhaltigkeit zu bringen. In diesem Sinne hat Bildung eine entscheidende Funktion für ein humanes Überleben, wie es Heydorn in seinem letzten Aufsatz »Überleben durch Bildung« (Heydorn, 2004a) bereits prinzipiell für unsere Epoche zum Ausdruck brachte.

Umweltkrise: Vom katastrophalen Unfall zur katastrophalen Normalität
Das Bewusstsein der Umweltkrise entstand durch eine Kette katastrophaler Unfälle, die sich nicht nur in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben, sondern auch zur katastrophalen Normalität ausgewachsen haben. Erinnert sei stichwortartig an: Seveso 1976 (Dioxin-Katastrophe), Bhopal/Indien 1984 (Pestizid-Katastrophe), Basel/Sandoz 1986 (Rheinverseuchung mit Löschwasser), Harrisburg 1979 (Atomunfall auf Three Mile Island/USA), Tschernobyl/Ukraine 1986 (bis dato der schwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung der Atomenergie), Fukushima/Japan 2011 (Kernschmelzen in drei Blöcken des AKW Fukushima-Daiichi).

Die Kette katastrophaler Unfälle ist mittlerweile in einen Zustand katastrophaler Normalität übergegangen. Diese lässt sich z. B. an den riesigen Plastikstrudeln auf allen Ozeanen ablesen. Aber nicht nur die ungeheuren Mengen der Vermüllung kennzeichnen das Problem, sondern immer entschiedener werden »Kipp-Punkte« bzw. die »planetaren Grenzen« (Weizsäcker & Wijkman, 2017, S. 44) überschritten. Das hat zur Folge, dass »der Natur mit ihren Ökosystemen die Fähigkeit genommen wird, sich verlässlich zu regenerieren« (Göpel, 2020, S. 30). […]

Historische Zäsur: Die Entstehung und Begründung der UN-Nachhaltigkeitspolitik
Die globale Umweltkrise provozierte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine global angelegte UN-Nachhaltigkeitspolitik und markiert damit eine historische Zäsur in der Zivilisationsgeschichte der Menschheit. Erstmals war nicht ein Mangel an Produktivkräften zu überwinden, sondern dessen überlebensgefährdende zerstörerische Expansion.

Um diese Zäsur zu verstehen, ist es notwendig, die Stadien zu rekonstruieren, die zu diesem Konzept der nachhaltigen Entwicklung geführt haben. Dieses Vorgehen folgt den Prinzipien einer historisch-genetischen Didaktik, die über die Genese einer Sache ihr angemessenes und kritisches Verständnis eröffnet. […]

Wortursprung: »nachhaltende Nutzung«
Der Wortursprung findet sich in einer ersten systematischen Abhandlung des Oberberghauptmanns von Carlowitz über Forstwirtschaft, in der er »angesichts eines akuten Mangels der Ressource Holz«, den Begriff »›nachhaltende‹ Nutzung des Rohstoffs« (Kehren & Winkler, 2019, S. 377) systematisch forstwirtschaftlich begründet. In der Konsequenz bedeutet das – salopp formuliert –, dass dem Wald nicht mehr Holz entnommen werden darf, als in diesem nachwächst.

Der Begriff Nachhaltigkeit markiert über den begriffsgeschichtlichen Anfang hinaus jedoch eine Zäsur im Mensch-Natur-Verhältnis. Sie lässt sich formulieren als eine Wende von einer für den Menschen bedrohlichen Natur zu einer Bedrohung der natürlichen Lebensbedingungen durch den Menschen. Genau das markiert die Entstehung der »Naturschutzbewegung«.

Naturschutz
Mit der Expansion des Industriekapitalismus entsteht historisch erstmals eine organisierte weltweite Naturschutzbewegung, die die Natur als zu schützendes Gut wahrnahm. Die Naturschutzbewegung schlägt sich am Ende des 19. und zu Beginn des
20. Jahrhunderts in einer Vielzahl von Vereinigungen nieder, u. a. in einer Weltnaturschutzkonferenz 1913 in Bern (Kupper, 2013).

Umweltschutz
Doch mit den rasch wachsenden gefährlichen Folgen des »technisch-ökonomischen Fortschritts« und der katastrophalen Einbrüche durch zwei Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert sich der Schutzgedanke vom »Naturschutz« zum »Umweltschutz«. Es handelt sich bei dem Begriff um eine Lehnübersetzung von »enviromental protection« (Radkau, 1989, S. 360).

Ohne Frage politisiert der Begriff die Auseinandersetzung mit der Natur, indem er sie – in durchaus auch problematischer Weise – funktional anthropologisiert. In der Umweltpolitik richtete sich das Interesse zentral auf die Bereiche: Boden, Wasser, Luft, Klima, die auch gesetzlichen Schutzbestimmungen unterstellt werden. 1972 beschloss die UN erstmals ein Umweltprogramm (UNEP).

Die Grenzen des Wachstums
Doch die Bedeutung von Umweltschutz erfuhr unmittelbar darauf eine systematische Zuspitzung durch die ebenfalls 1972 veröffentlichte Studie »The Limits of Growth« (»Die Grenzen des Wachstums«). Ihre öffentliche Beachtung war enorm, weil diese Studie eine Perspektivverschiebung von Natur und Umwelt auf die Folgen herrschender Ökonomie vornahm. Sie hat »den empfindlichsten Nerv moderner Gesellschaften getroffen« (Welzer & Wiegandt, 2013, S. 8), nämlich ihren Glauben an ein unbegrenztes, exponentielles wirtschaftliches Wachstum als Bedingung von Wohlstand.

Nachhaltige Entwicklung
Die 1983 gegründete Weltkommission für Umwelt und Entwicklung veröffentlicht unter dem Namen ihrer Vorsitzenden Gro Harlem Brundtland den Bericht »Our common future«. Er »formulierte erstmals eine Richtlinie dafür, woran sich menschliches Wirtschaften orientieren muss, wenn es nachhaltig sein will.« Nachhaltigkeit war nun zum »Orientierungspunkt« (Göpel, 2020, S. 46) geworden. Unter Nachhaltigkeit »verstehen wir eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren eigenen Lebensstil zu wählen« (Hauff, 1987, S. XV).

Im Zentrum steht von nun an nicht mehr isoliert der Natur- und Umweltschutz. Beide sind vielmehr integriert in das übergeordnete politische Ziel globalen menschlichen Überlebens: »Nachhaltigkeit ist ein Ziel mit zwei wesentlichen Komponenten: Zum einen müssen sich die wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschen innerhalb der biophysikalischen Grenzen des Systems Erde bewegen […] Der zweite Aspekt der Nachhaltigkeit ist die Forderung, allen heute lebenden Menschen und zukünftigen Generationen ein Leben in Würde, Gerechtigkeit und Frieden zu sichern.«
(Wiegandt, 2013, S. 10)

Um eine solche Entwicklung zu erreichen, sind drei Strategien entscheidend:
• die Effizienz, im Sinne einer gesteigerten Ressourcen-Produktivität;
• die Konsistenz, im Sinne von naturverträglichen Technologien und Praxen sowie
• die Suffizienz, im Sinne einer »Lebens- und Wirtschaftsweise, die dem Überverbrauch von Gütern und damit von Stoffen und Energie ein Ende setzt« (Linz 2015).

Die Suffizienzforderung steht nun gänzlich im Widerspruch zu einer Ökonomie, die »Umsätze und Profite zu sichern und zu steigern« (Wiegandt in Wiegandt & Welzer, 2013, S. 61) hat und zudem in den Wohlstandszonen des Globus permanent kulturindustriell angeheizte Bedürfnisproduktion betreibt.

Zeit der Weltkonferenzen: Rio+
1992 findet dann in Rio de Janeiro der sog. »Erdgipfel« statt, die bis dato größte Konferenz dieser Art (United Nations Conference on Environment and Development, UNCED), in der erstmals die Themen Entwicklung und Umwelt in der Weltöffentlichkeit als notwendig verbundene Menschheitsziele deklariert und verhandelt werden.

Im Zentrum steht die »Rio-Erklärung«, die das Ziel verfolgt, »durch die Schaffung von neuen Ebenen der Zusammenarbeit zwischen den Staaten, wichtigen Teilen der Gesellschaft und den Menschen eine neue und gerechte weltweite Partnerschaft aufzubauen«. Dies soll geschehen durch »internationale Übereinkünfte, die die Interessen aller achten und die Unversehrtheit des globalen Umwelt- und Entwicklungssystems schützen« und die anerkennen, »dass die Erde, unsere Heimat, ein Ganzes darstellt, dessen Teile miteinander in Wechselbeziehung stehen« (Töpfer, 1992).

In Rio wurde zudem die sog. »Agenda 21« aus der Taufe gehoben: »Mit diesem Aktionsprogramm werden detaillierte Handlungsaufträge gegeben, um einer weiteren Verschlechterung der Situation entgegenzuwirken […]. Es enthält wichtige Festlegungen, u. a. zur Armutsbekämpfung, Bevölkerungspolitik, zu Handel und Umwelt, zur Abfall-, Chemikalien-, Klima- und Energiepolitik, zur Landwirtschaftspolitik sowie zu finanzieller und technologischer Zusammenarbeit der Industrie- und Entwicklungsländer« (ebd.).

In ihrem staatlich unterschriebenen Veränderungswillen misstraut sie diesem doch zugleich. Denn sie betont eigens »die Teilhabe der Frau an einer nachhaltigen Entwicklung«, »Kinder und Jugendliche«, »nichtstaatliche Organisationen«, »indigene Bevölkerungsgruppen« usw. Der Erdgipfel verstand sich zudem als Auftakt eines Prozesses, in dem Nachhaltigkeit zur »humane[n] Leitkategorie« (Kehren & Winkler, 2019, S. 376) avanciert.

Zur schleichenden Entschärfung des Nachhaltigkeitsbegriffs
Die Etablierung im herrschenden Diskurs erfolgt allerdings um den Preis, dass die »systemkritischen Aspekte dieses Gedankens in einer systemkonformen Konsens-Fassung bzw. Leerformel zum Verschwinden gebracht« (Bierbaum & Kehren, 2018, S. 646) werden.

Argumentativ äußert sich die Entleerung in einer Gleichsetzung der Begriffe »grün« und »nachhaltig«. Schmidt-Bleek, ein Pionier der Umweltbewegung, […] kritisiert in seinem Buch »Grüne Lügen. Nichts für die Umwelt, alles fürs Geschäft« die Reduktion der Nachhaltigkeitsproblematik auf die Schadstoffreduktion: »Für ihn marschiert die Umweltpolitik in die Irre, weil sie nur den Schadstoffen hinterherläuft, aber die riesigen, naturzerstörenden Materialverbräuche außer Acht lässt« (Ronzheimer, 2014). Genau dieses oberflächliche Verständnis von »Nachhaltigkeit« ist allerdings zum gängigen geworden.

Dieser Vorstellungswechsel nährt wiederum die Illusion einer rein technologisch zu bewerkstelligenden vermeintlich grünen Problemlösung unter Ausblendung des damit verbundenen neuen Verschleißes von Material, Energie und Arbeitskraft. Bei aller Wichtigkeit der verheerenden Klimaentwicklung und der notwendigen Klimapolitik unterliegt auch sie einer fast ausschließlichen Fokussierung auf die Schadstoffreduktion, mustergültig im Glauben an die Elektromobilität. »Der geplünderte Planet« (Bardi, 2013) rückt dadurch aus dem Blick. Dieser fachwissenschaftlich hochwertige 33. Bericht des Chemikers und Analysten Udo Bardi, unterstützt von einem 16-köpfigen internationalen Expertengremium, an den Club of Rome liefert eine äußerst differenzierte Studie über den Ressourcen- und Rohstoffabbau. Sie belegt, dass die zerstörerische Qualität unseres Zivilisationsprozesses wesentlich in den Extraktionen, im Raubbau der Planetenkruste besteht, die in der verkürzten Perspektive der Schadstoffminimierung in der Gefahr steht, ausgeblendet zu werden. Denn auch die sog. Alternativtechnologien erfordern Extraktionen in großem Umfang. Eine Zahl kann hierfür zur Veranschaulichung hilfreich sein: »Zwischen 1980 und 2010 hat sich der jährliche Rohstoffverbrauch von Biomasse, mineralischen Rohstoffen und fossilen Brennstoffen von unter 40 auf 80 Milliarden Tonnen mehr als verdoppelt.« (Hartmann, 2016)

In dieser Zeit gab es im Übrigen eine Vielzahl von Klimakonferenzen, wodurch eine Haltung befördert wurde, Klima mit Nachhaltigkeit gleichsetzt. Dadurch wird nur allzu leicht ausgeblendet, wie die »Verwüstung weiter Teile der Erde ständig voranschreitet, die Bodenerosion zunimmt, das Artensterben ansteigt, ganze Biotope vernichtet werden, die Vergiftung der Umwelt anhält, Wassermangel immer weiter um sich greift und der Zugang zu Natur und ihren Ressourcen immer mehr Menschen durch Privatisierungen, Vertreibungen und Patente drastisch erschwert wird« (Hansen zitiert nach Klein, 2009, S. 154).

Im Verbund damit hat sich auch längst eine »Nachhaltigkeitsindustrie« (Welzer, 2013, S. 26) etabliert, die in den begüterten Zentren völlig unnütze Konsumprodukte noch als nachhaltig verschleiert und dadurch einer »grünsensibilisierten« Kundschaft als unproblematisch anpreist.

Die entgrenzte Kapitalisierung als Treiber der Nicht-Nachhaltigkeit
Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger von 2001, kritisiert, dass angesichts der »drei existentiellen Krisen […], die Klimakrise, die Ungleichheitskrise und eine Krise der Demokratie«, die herrschende Wirtschaftswissenschaft und ihre Instrumente »nicht den leisesten Hinweis darauf [geben], dass wir ein Problem haben könnten« (Stieglitz zitiert nach Göpel, 2020, S. 74). Mit anderen Worten: Die Fachdisziplin hat gemessen an einem vernünftigen Zweck dieser Wissenschaft nicht nur versagt, sondern sie hat maßgeblich zu den gattungsgefährdenden Problemen beigetragen. Sie hat entschieden Anteil daran, dass sich ihr Menschenbild, das des »homo oeconomicus«, der nicht nur »egoistisch«, sondern auch »unersättlich« (Göpel, 2020, S. 80) ist, fest etabliert hat. Der Mensch organisiert »seine Wirtschaft nämlich nicht als Kreislauf, sondern als gigantisches, inzwischen weltweit installiertes Förderband, bei dem zunächst Rohstoffe und Energie aufgeladen, unterwegs in Güter verwandelt und hinten als Geld einerseits und Müll andererseits wieder abgeladen werden« (ebd., S. 83). […]

Doch verstehen kann man diese menschheitsgefährdende Eskalation nur, wenn man den Kapitalismus und seine extreme Radikalisierung seit den 70er-Jahren begreift. Das, was meist unter dem Titel »Neoliberalismus« firmiert (vgl. hierzu Walgenbach, 2019), ist eine politisch gewollte ökonomische Reaktion (Thatcherismus, Reaganomics) zur Aufrechterhaltung des in die Krise geratenen Kapitalismus. Gravierend verändert sich dabei die enorm gewachsene Bedeutung des Finanzkapitals, was auch im Begriff »Kasino-Kapitalismus« [2] zum Ausdruck kommt.

Innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung vollzog sich schon zuvor eine »Verkehrung« (Koneffke, 2004, S. 192), die im Aufstieg des Bürgertums und seiner ökonomischen Theorien nicht denkbar war, dass nämlich »mit dem Kapitalismus statt der Vernunft das Wertgesetz als Prinzip der zur vollendeten Unvernunft verkehrten Vernunft die bürgerliche Gesellschaft beherrscht« (Koneffke, 2006, S. 210). D. h., dass der Kapitalismus sich gegen die Errungenschaften menschheitlicher Kultur und damit gegen die naturalen und sozialen Bedingungen menschlichen Lebens wendet. In unserer Gegenwart hat diese organsierte Unvernunft nun die Form der Nicht-Nachhaltigkeit im globalen Ausmaß angenommen. Deshalb verlangt Nachhaltigkeit »eine Wirtschaftsform, die ihre eigene Voraussetzung nicht konsumiert« (Welzer, 2019, S. 124).

Die zerstörerische Ausweitung der Kapitalverwertung hat Dörre als »Neue Landnahmen« begreifbar gemacht. Sie umfasst die sog. äußere Landnahme (Globalisierung) und die innere Landnahme, welche die Privatisierung öffentlicher Leistungen, u. a. Gesundheit, Pflege und Bildung, umfasst, also den Bereich der Daseinsfürsorge und letztlich die Einvernahme der Subjektivität der Menschen. In eins damit existieren Effekte und Strategien, die einem vernünftigen Zweck des Wirtschaftens gänzlich zuwiderlaufen. Das Ziel des Wirtschaftens sollte sein, »die Bedürfnisse der Konsumenten zu befriedigen«. Gegenwärtig verkehren sich aber Zweck und Mittel: »Die Bedürfnisse werden gestaltet, um die Renditeinteressen der Anteilseigner zufriedenzustellen« (Löhr zitiert nach Wiegandt & Welzer, 2013, S. 80). Daraus entwickelten sich Effekte wie »Obsoleszenz«, »Rebound«, »Neuerungssucht« (Neomanie) und eine »permanente Beschleunigung«. Wer also ernsthaft eine nachhaltige Entwicklung will, für den gerät die herrschende Form der Ökonomie ins Fadenkreuz der Kritik: »Um die Plünderung und Zerstörung des Planeten Erde zu stoppen, braucht es ein alternatives Wirtschaftssystem« (Guggenbühl zitiert nach Klein, 2009, S. 154). […]

[Stattdessen] vollzieht sich insgesamt eine »Refeudalisierung der Welt«: »Und diese neue Feudalmacht trägt das Antlitz der transkontinentalen Privatgesellschaften.« Ziegler erinnert uns: »Die 500 größten transnationalen kapitalistischen Gesellschaften der Welt kontrollieren heute 52,8 % des Bruttosozialprodukts des Planeten.« Deren »kumulierte Guthaben« entsprechen denen »der 133 ärmsten Länder der Welt« (Ziegler, 2007, S. 213).

Damit gerät auch die Formel eines sog. »Grünen Kapitalismus«, die in den westlichen Zentren des Kapitalismus politisch als Lösung des Problems gehandelt wird, objektiv unter Kritik, nämlich als ökonomisch unhaltbar und politisch als Vehikel neuer Landnahmen. Gerade angesichts des »Green Deal« wird »Klimapolitik« in diesem Konzept als »Wachstumspolitik« gedacht und gefordert. Analysen weisen aber nach, dass »›ökologisches Wachstum‹ die Vorteile verbesserter Ressourceneffizienz auffressen würde.« Zudem werden grünkapitalistische »umweltpolitische Teilerfolge immer wieder zu Lasten sozialer Lösungen, auf Kosten der Lohnabhängigen, auf dem Rücken der Bevölkerung in konkurrenzschwächeren Ländern und zudem vorbei an langfristigen strukturellen Lösungen auch für künftige Generationen realisiert«.

Darüber hinaus zielen die Machteliten auf »Versorgungssicherheit« der Energieträger und Naturressourcen, die »im Notfall auch militärisch zu sichern« sind, wobei, »wie in allen Ressourcenkriegen mit verheerenden Umweltfolgen« [3] zu rechnen ist.

Über allem stehend gilt aber für den »Grünen Kapitalismus«, dass die Handlungsmöglichkeiten »durch Wirtschaftlichkeit nach dem Maß der Profitabilität begrenzt« sind. Hieraus folgt, dass ein »kapitalistisch rentabler Klimaschutz … systemisch bedingt hinter dem bereits technisch Möglichen« zurückbleibt und damit erst recht hinter der dringend nötigen und in Paris beschlossenen »Abwendung einer Klimakatastrophe« (Klein, 2009, S. 218 f.).

Wer also über Nachhaltigkeit reden will, darf nicht über den ökonomischen Treiber der nicht-nachhaltigen Entwicklung schweigen. Das bedeutet nicht, die abstrakte Negation des Kapitalismus mit der Lösung des Problems zu verwechseln. Es gilt vielmehr zu erkennen, dass im Unterschied zur ersten (fordistischen) Phase kapitalistischer Naturausbeutung in der gegenwärtigen (postfordistischen) Phase (vgl. Görg, 2003, S. 134 ff. und 167 ff.) die Nachhaltigkeitspolitik eine »Modernisierung der Naturbeherrschung« darstellt, die »Schutz als Nutzung« (Görg, 2003, S. 282) organisiert. »So wird der tropische Regenwalt als ›Urwaldapotheke‹, die genetische Vielfalt als ›grünes Gold‹ und die biologische Vielfalt als ›Naturkapital‹ bezeichnet« (ebd., S. 264). Dieser »extrem gesteigerte Utilitarismus« radikalisiert die »Inwertsetzung« (ebd., S. 282) der Natur, die einer Vorstellung von Natur entspricht, die auch bildungspolitisch im Bereich des Unterrichts der Naturwissenschaften forciert wird (vgl. Luckhaupt, 2020), nämlich im Sinne eines »Machbarkeitswahns« (Türcke, 2021). Die daraus erwachsenden Widersprüche bestimmen mittelbar und unmittelbar die gegenwärtigen und kommenden politischen Kämpfe.

Nachhaltigkeitspolitik im Widerspruch von bloßer Systemmodernisierung und grundsätzlicher Systemtransformation
»Die Nachhaltigkeitsagenda der UNO ist nicht nachhaltig«, so jüngst E. U. von Weizsäcker. Er konstatiert »ein Tabu, bei den Vereinten Nationen, diesen fundamentalen Antagonismus zwischen ökonomischen und ökologischen Zielen anzusprechen« (Weizsäcker, 2019). Er hat zwar Verständnis für das Tabu, weil nach einem berühmten Satz der ehemaligen indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi als Wortführerin der Entwicklungsländer gilt: »Poverty is the biggest polluter.« Doch diese Konsequenz für den gegenwärtigen Stand wäre fatal: »Das galt für die lokale Verschmutzung. Heute aber geht es beim Klima, bei den Ozeanen und der Biodiversität eher um das Phänomen »Affluence is the biggest polluter.« Die Logik ›erstmal reich werden und dann sich um die Umwelt kümmern‹ wäre heute total kontraproduktiv.« (Weizsäcker, 2019)

Strategien für eine nachhaltige Entwicklung sind schon in der globalpolitischen Diskussion. Doch wirkliche Eingriffe in die herrschende politisch-ökonomische »Megamaschine« (Scheidler, 2015) wurden bislang von den Nutznießern derselben abgelehnt. Beispiele einer Systemtransformation nennt Weizsäcker: zum einen das »Access und Benefit Sharing« (ABS-Prinzip, Nagoya Protokoll, 2010), »welches die Nutznießer genetischer Ressourcen (insbesondere Pharma- und Saatgutkonzerne aus dem Norden) verpflichtet, ihren ökonomischen Vorteil mit den Herkunftsländern der genetischen Ressourcen fair zu teilen« (Weizsäcker, 2019).

Zum anderen nennt er das »Budgetprinzip«. Es würde festlegen, »dass alle Länder der Welt ein pro Kopf der heutigen Bevölkerung gleichgroßes Recht auf Nutzung der Atmosphäre erhalten, dass aber die historischen Verbräuche darauf angerechnet werden müssen. Dann haben die alten Industrieländer ihr ›Budget‹ im Wesentlichen schon verbraucht und müssten nun mit Entwicklungsländern Verträge abschließen, in denen diese den Industrieländern Lizenzen verkaufen.« (ebd.)

In diesem Zusammenhang ist besonders auf die in der Literatur als »vergessene Konferenz« firmierende Konferenz von »Cocoyoc« (Mexiko 1974) hinzuweisen. In dieser gemeinsamen Konferenz von UNEP und UNCTAD über »Rohstoffnutzung, Umweltschutz und Entwicklung« stand die in fünf Jahrhunderten entstandene Verteilungsungerechtigkeit auf der Tagesordnung: »A growth process that benefits only the wealthiest minority and maintains or even increases the disparities between and within countries is not development. It is exploitation« (zit. nach Kehren & Winkler, 2019, S. 378 f.). […]

Welches Verhältnis besteht denn überhaupt zwischen Bildung und »nicht-nachhaltiger Entwicklung«?
Von einer »Bildung für nachhaltige Entwicklung« im Bildungsbereich gegenwärtig zu sprechen, ist allerdings gänzlich vermessen. »Denn die heutigen Trends sind überhaupt nicht nachhaltig« (Weizsäcker & Wijkman, 2017, S. 17). Pädagogische und bildungspolitische Aktivitäten müssen sich davor hüten zu suggerieren, Intentionen mit Wirkungen zu verwechseln und damit Kompensationsfunktion für die herrschende Politik einzunehmen, nach dem Motto: »Pädagogik soll richten, was politisch nicht gelingt« (Euler, 2014b, S. 12).

Damit einhergehend ist zu vermeiden, dass eine naive und substanzlose Beanspruchung des Konzepts von BNE Platz greift. Dazu ist es hilfreich, an die heftigen Auseinandersetzungen vor der Etablierung von BNE zu erinnern, als die Frage lebhaft diskutiert wurde, ob, und wenn ja, wie denn überhaupt pädagogisch auf die verheerende Umweltzerstörung zu reagieren sei. Daher ist ungeschminkt zu fragen, in welchem Verhältnis denn »Bildung und Nicht-Nachhaltigkeit« stehen bzw. inwiefern und wodurch Bildung zur Urteils- und Handlungsfähigkeit beitragen kann und soll, die dann vernünftigerweise auch zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen kann.

Die Antwort darauf hat sich mit einer längst fälligen Re-Vision von Pädagogik, Bildung und Schule zu verbinden. Denn unsere Bildungsinstitutionen bleibt immer offenkundiger systembedingt weit hinter den »objektiv gegebenen besseren humanen Möglichkeiten« zurück (Euler, 2016, S. 85). Die pädagogischen Anstrengungen haben dahin zu gehen, dass institutionalisierte Bildung weniger Teil des Problems, als vielmehr eine Bedingung dafür ist, die »Möglichkeit, uns in unserem Menschsein zu verbessern« (Dörpinghaus, 2009, S. 5).

Denn die Entstehung von BNE in den frühen 2000er-Jahren fällt in eine Periode internationaler Bildungspolitik, in der den Vorstellungen von Erziehung und Bildung immer stärker ihre Substanz entzogen und der Pädagogik ihr genuin rationaler Charakter in Theorie und Praxis abgesprochen wird (vgl. Casale et al., 2010). Denn seit über 20 Jahren diktiert eine international über die OECD organisierte »›neue […] Steuerung‹« (Ratke, 2015, S. 215) auch das deutsche Bildungswesen. »Das meiste, was zur Durchsetzung der Optimierung des Systems durch Reformen ersonnen worden ist, kommt nicht aus dem genuinen Ideenhaushalt der Pädagogik.« Die Sprache ist die des »Business«, denn es geht um »Qualitätsentwicklung und -kontrolle, um Organisations-, Produkt- und Personalentwicklung, Schulmarketing« usw. (Gruschka, 2019, S. 19 f.). An die Stelle von Bildung tritt eine schwache Kompetenzvorstellung, im Sinne systemaffirmativer Könnensformeln. Der »Bildungsbegriff« verliert dadurch »seine politisch kritisch-widerständige Dimension« (Dörpinghaus, 2009, S. 3).

Dass Pädagogik eine funktionale Aufgabe für die bestehende Gesellschaft erfüllt, ist hier nicht das Neue. Eine solche ist schlicht die Existenzbedingung von Pädagogik. Entscheidend ist vielmehr, wie sie dies im Unterschied zu vorpädagogischen Integrationspraktiken tut. Das Spezifische der pädagogischen Funktionssicherung, wie sie seit dem 17. Jahrhundert mit dem Aufstieg des Bürgertums konzipiert wurde, besteht nämlich darin, dass die »Integration« in diese neue bürgerliche Gesellschaft nicht über den Weg irrationaler Gewalt erfolgen soll, sondern dass dies mit den Mitteln von »Einsicht und Erkenntnis« (Koneffke, 2018a, S. 116) zu erfolgen hat, und zwar für alle Mitglieder dieser Gesellschaft. Das aufklärerische Konzept der Allgemeinbildung bedeutet seit Comenius »omnes-omnia-omnino«, also alle Menschen alles prinzipiell Wichtige zu lehren, und zwar »in Richtung auf das Ganze«. Denn das Ziel der Bildung ist die Teilhabe an der »Allgemeinen Beratung der Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten«, so der Titel des Hauptwerkes von Comenius (Schaller, 2003, S. 52 f.).

Die pädagogische Integration gründet in der Vorstellung vom Menschen als vernunftbegabtes Wesen und verfährt gemäß den Grundsätzen einer auf der Würde des Menschen basierenden gesellschaftlichen Verfassung. Ziel pädagogischer Bildung ist daher die Befähigung zum individuell und gesellschaftlich verantwortungsvollen Urteilen und Handeln, eben Mündigkeit und nicht Anpassung an das herrschende Nicht-Nachhaltigkeit erzeugende Wirtschaftssystem. Genau in dieser allgemeinen Integration durch Erkenntnis und Einsicht besteht »das subversive Moment in der bürgerlichen Pädagogik« (Koneffke, 2018a, S. 116), das Gernot Koneffke in seinem bedeutenden Aufsatz »Integration und Subversion« mikrologisch herausgearbeitet hat. Im frühen bürgerlichen Selbstverständnis steht die Insistenz auf allgemeiner Mündigkeit unmittelbar in Verbindung zur Beförderung wirtschaftlicher Prosperität, eben der Beseitigung des Mangels und damit des möglichen Wohlstands für alle. Dies markiert die subversive Seite gegenüber den alten feudalen Mächten. Die Subversion des Bildungsprinzips entpuppt sich aber auch als Kritik an der bürgerlichen Entwicklung, und zwar dann, wenn anstelle dessen das Prinzip der Kapitalverwertung zum Subjekt der Geschichte zu werden beginnt und dies in immer deutlicherem Widerspruch zu den menschheitlichen Werten bürgerlicher Kultur steht. In dieser gesellschaftlichen Dynamik entwickelt die bürgerliche Gesellschaft eine reaktionäre Tendenz aus, »das subversive Moment durch das integrative zu überformen« (ebd., S. 116 f.).

Man kann diesbezüglich vom »Kapitalismus als Fehltritt« (Koneffke, 2018b, S. 210) sprechen, denn dass die befreiende Ökonomie selbst zur Last der Befreiten werden könnte, war in keiner Konzeption der großen bürgerlichen Ökonomen der Frühzeit angelegt (vgl. hierzu auch Göpel, 2019, S. 64 ff.). »Dass die Kapitalverwertung zur Geißel ausarten könnte […] stand außerhalb des Vorstellungsvermögens und bleibt der historische Skandal.« (Euler, 2009, S. 103)

Der Wahnsinn einer Ökonomie, die wider besseres Wissen das Überleben der Gattung gefährdet, ist der bislang gewaltigste Ausdruck dieses »Fehltritts«. Folglich verlangt »Nachhaltigkeit als bildungspolitischer Auftrag« (Kehren & Winkler, 2019, S. 375) den humanen Gehalt der Bildung, und zwar für alle Menschen auf diesem Globus, im Sinne einer Neubestimmung (vgl. Heydorn, 2004b, S. 56) auf der Höhe der widersprüchlichen Zivilisationslage wieder in das Zentrum pädagogischer Bildungsarbeit zu stellen. Das bedeutet, die oben benannte Umsteuerung als Fehlentwicklung zu erkennen. Zugleich verlangt das Ernstnehmen der überlebensnotwendigen Orientierung an Nachhaltigkeit ein auf vielen Ebenen zu führendes Engagement der Lehrkräfte für eine Re-Vision von Bildung und Schule, die unter der Idee eines kritischen Verständnisses der Gegenwart ihre menschheitliche Orientierung wiederzugewinnen vermag.

Didaktische Konsequenzen
Wer BNE wirklich will, für den steht daher die »Sachanalyse« des Verstehens der »nicht-nachhaltigen Entwicklung« im Zentrum aller Bildungsanstrengungen. […] »›Nachhaltigkeit‹ im Bereich institutionalisierter Bildung ernst genommen, hat […] die Aufgabe im Fachunterricht, im schulischen Leben und in außerschulischen Vernetzungen die fachlichen und politischen Dimensionen der Gründe für eine nichtnachhaltige Entwicklung sachlich angemessen zu erarbeiten, um sie zu verstehen und um dadurch Perspektiven sowohl für das individuelle Handeln als auch für die Möglichkeiten kollektiven Handelns zu gewinnen.« (Euler, 2014a, S. 172)

Didaktisch entscheidend ist dabei, zu realisieren, dass Nachhaltigkeit kein konkreter Gegenstand ist, sondern eine Perspektive auf prinzipiell alle Bereiche der existierenden Zivilisation und folglich damit auch auf alle curricularen Inhalte organisierter Bildung. Daraus folgt:

1. die Bildung eines grundsätzlichen Bewusstseins der Nicht-Nachhaltigkeit in seiner historisch spezifischen Verbindung von Ökonomie, Politik und Gesellschaft. D. h., dass hier nicht von »der« Wirtschaft im unspezifischen Sinn zu reden ist, sondern von der verheerenden Rolle tendenziell unbegrenzter Kapitalverwertung vor allem durch extrem mächtige transnationale Akteure. Diese steht wiederum in engster Verbindung zu Teilen der sie begünstigenden Politik und zu widersprüchlichen gesellschaftlichen Interessen, die von einem extremen Arm-Reich-Gefälle, national wie international, bestimmt sind.

2. die Tendenz zur Nicht-Nachhaltigkeit innerhalb der spezifischen Problem- und Handlungsfeldern zu identifizieren, u. a.: Umweltzerstörungen, Artensterben, globale Armut und massenhaftes Elend, sozial gefährlicher Reichtum, Gesundheit, Konsum, Mobilität, Ernährung, Energie, Wohnen, Weltwirtschafts- und Weltfinanzbeziehungen.

3. die curricularen Inhalte mit den nicht-nachhaltigen Tendenzen in den Problem- und Handlungsfeldern in Beziehung zu setzen. Auf eine Weise, dass dadurch sowohl die Identifizierung der Probleme als auch die Kritik und Überwindung der Fehlentwicklungen rational zugänglich werden.

Dabei ist stets zu beachten, dass eine dreifache Relation von Ebenen (die Idee der Nachhaltigkeit, die spezifischen Problem- und Handlungsfelder und die besonderen fachlichen Inhalte) bestimmend ist, die Kehren & Winkler als »didaktischen Dreischritt« näher ausgeführt haben (Kehren & Winkler, 2019, S. 386).

Ein solches Vorgehen erfordert allerdings von Seiten der Lehrkräfte, die Unterrichtsinhalte nicht als isoliert, sondern in ihrer Verstrickung in die herrschenden Probleme zu verstehen. Eine solche Perspektive verlangt von den Lehrenden ein Bewusstsein der Janusköpfigkeit ihrer zu vermittelnden Inhalte. Erst dadurch kann sowohl deren Mitwirkung an der Nicht-Nachhaltigkeit als auch deren Potenz zur interdisziplinären Problemerkenntnis und zur Problemüberwindung eingesehen und zum Gegenstand werden. Gerade aber das kann das Interesse der Schüler:innen am Verstehen der Welt sowie der individuellen und sozialen Eingebundenheit in sie wecken und verstärken und Engagement befördern. Für die Forschung und Lehre von Wissenschaft und Technologie ist zu verlangen, das Gewicht auf die Ermöglichung einer, wie ich es genannt habe, »reflektierten Sachkompetenz« (Euler, 1999, S. 267 ff.) zu legen. Mit diesem Begriff soll bildungstheoretisch die Konsequenz der seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gravierend veränderten Lage technologischer Zivilisation eingeholt werden, in der die Technologisierung längst vom Produktionsbereich in alle Ebenen der Reproduktion eingedrungen ist, samt deren Folgen für die Veränderung der Subjektivität im »entfesselten Kapitalismus« (Eisenberg, 2015).

Eine entscheidende bildungstheoretische Konsequenz, die daraus zu ziehen ist, besteht darin, dass unter den Bedingungen der technologischen Durchdringung tendenziell aller Lebensverhältnisse »Funktion und Kritik« und »Zweck- und Mittelkompetenzen« (Euler, 1999, S. 276 und S. 278) nicht mehr in Gestalt der »Two Cultures« (Kreuzer, 1987) zu denken sind. Für die Bildungsarbeit ist verlangt, »Reflexion und Sache« in ihrem sie konstituierenden Verhältnis zu begreifen, wofür, abgeleitet aus dem weitergedachten Kantischen Begriff »reflektierter Urteilkraft«, der Begriff der »reflektierten Sachkompetenz« steht [4]. Wissen und Erkenntnis dürfen nicht mehr als quasi wertneutral problemblind der Fortschreibung nicht-nachhaltiger Entwicklung dienen, sondern sind im Hinblick auf ihr mögliches humanes Potenzial zu reflektieren. […]

Negativ ist [dabei] darauf zu achten, dass nicht »grüne« Simplifizierungen auf Kosten der notwendigen Einsichten in die Nachhaltigkeitsproblematik Platz greifen. Dem arbeitet leider eine Orientierung an der sog. »Gestaltungskompetenz« zu. Hieraus resultiert eine Tendenz zur »Formalisierung« der Themen, die zu einer problemverkürzenden »Individualisierung« führt und damit zugleich eine der Nachhaltigkeit widersprechende entpolitisierende »Pädagogisierung« impliziert (vgl. hierzu Kehren, 2016, S. 136 ff.). Neben der Ausblendung von Macht- und Herrschaftsaspekten vollzieht sich hierbei eine überstarke Orientierung am Konsum zu Ungunsten der systembedingten Zwänge der Produktion, was den zunehmend beklagten Mangel an politischer Bildung weiter verstärkt.

Positiv sind aus den Erforschungen der Nicht-Nachhaltigkeit für die Didaktik unabdingbare Denk- und Erkenntniswege zu lernen. Zentrale Aufmerksamkeit gilt der Rekonstruktion der globalen Zusammenhänge: von der Produktion bis zum Konsum und zurück, und zwar bezogen auf die zu analysierenden materialen, energetischen und sozioökonomischen Bedingungen in den wichtigen Feldern des globalen Waren- und Finanzverkehrs sowie der Bewegungsrechte bzw. Bewegungsverbote der Menschen. Im Verbund damit sind der Umfang und die Art des Konsums zu erkennen, also die gewaltigen Unterschiede zwischen existenzieller Armut und Hyperkonsum.

Dabei kommt der Perspektive der Glokalität große Bedeutung zu, also der sachanalytischen Rekonstruktion der asymmetrischen Wechselbeziehungen vom Lokalen zum Globalen und zurück. Das Verstehen der gegenwärtigen Weltverhältnisse verlangt die Erkenntnis ihrer Genese, also der Geschichte heutiger nationaler und vor allem internationaler Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Insofern ist Bildung im oben bezeichneten Sinne eine Notwendigkeit zur Erkenntnis von Nicht-Nachhaltigkeit, wenn sie nicht naiv bzw. schlecht-idealistisch überhöht zur Lösung des Problems erklärt wird.

»Die Gesellschaft muss so gebildet sein, dass sie ihr menschliches Ziel kennt und die Gefährdung, in der sie sich befindet. Zwischen Ziel und Gefährdung ist der Weg zu finden.« (Heydorn, 2004a, S. 273) Genau hierdurch ergibt sich das Ziel pädagogischer Praxis: »Wo Pädagogik sich des Widerspruchs von Bildung und Herrschaft bewusst ist, kann sie auch im Globalisierungsprozess Einsprüche auslösen.« (Koneffke, 2018b, S. 198)

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* Der ungekürzte Beitrag von P. Euler wurde zuerst publiziert unter dem Titel »›Nicht-Nachhaltige Entwicklung‹ und ihr Verhältnis zur Bildung. Das Konzept ›Bildung für nachhaltige Entwicklung‹ im Widerspruch von Systemmodernisierung und grundsätzlicher Systemtransformation«. In: Christian Michaelis u. Florian Berding (Hg.), Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung. Umsetzungsbarrieren und interdisziplinäre Forschungsfragen. wbv 2022, Bielefeld

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Fußnoten

1 Der Begriff geht auf Karl Polanyis Werk »The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen« von 1957 zurück [...].
2 Der Begriff geht auf Susan Strange zurück: Casino Capitalism. Oxford 1986, Reprint Manchester 1997.
3 »Als mit den steigenden Rohstoffpreisen zu Beginn des Jahrtausends die Sorge der europäischen und deutschen Industrie wuchs, den günstigen Zugang zu Rohstoffen zu verlieren, kam ›Rohstoffsicherheit‹ auf die politische Agenda: ›Wir sind die größte Volkswirtschaft der Welt. Deshalb brauchen wir ungehinderten Zugang zu Rohstoffen‹, sagte der damalige EU-Handelskommissar Karl de Gucht.« (Hartmann, 2016)
4 »Die gegenwärtige ›gesellschaftliche Praxis der Technologisierung‹ markiert eine historische Zäsur, die auch die Beurteilungsvoraussetzungen selbst erfasst« (Klappentext meiner Arbeit »Technologie und Urteilkraft. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs«, Euler, 1999). Sachkompetenz ohne reflektierten Bezug zum gesellschaftlichen Zusammenhang widerspricht angesichts der realen technologischen Zivilisationslage jeder vernünftigen Vorstellung von Bildung. Daher werden in der oben genannten Arbeit die »bildungstheoretischen Implikationen reflektierender Urteilskraft (Kant)« (ebd., S. 236 ff.) fruchtbar gemacht und daraus der Begriff »Reflektierte Sachkompetenz« (ebd., S. 267 ff.) als Prinzip der Bildung entwickelt. D. h., dass die umfassende gesellschaftliche Technologisierung eine Neufassung der Bildung erfordert, indem die Urteilkraft verstärkt und in besonderer Weise, nämlich bezogen auf die Bedingungen und Folgen wissenschaftlich-technologisch bestimmter gesellschaftlicher Realität, die zentrale Bestimmung der Bildung zukommt.

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