Von Lars Becker, Europa-Union Hamburg
2022 ist das Europäische Jahr der Jugend. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte dies am 15. September 2021 in Ihrer »Rede zur Lage der Union« an. Kommission, Rat und Parlament folgten dem Vorschlag.
Vor dem Hintergrund des ökologischen und digitalen Wandels solle das Jahr genutzt werden, um »neue Perspektiven für die Zukunft sowie Chancen zum Ausgleich der negativen Auswirkungen der Pandemie auf junge Menschen und die Gesellschaft insgesamt [zu] bieten«. Junge Bürger/innen, insbesondere aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen, sollen zur Teilhabe ermutigt und politische »Maßnahmen, die der persönlichen, sozialen und beruflichen Entwicklung junger Menschen dienen«, bekannter gemacht werden.
Den Rahmen für das Europäische Jahr sollen die EU-Jugendstrategie 2019 – 2027, die Europäischen Jugendziele und die Prioritäten der Kommission 2019 bis 2024 bilden und an zahlreiche Vorhaben in den Bereichen Jugend und Bildung anknüpfen.
Auch verweist die Kommission auf das Programm NextGenerationEU, das zur Bewältigung der Corona-Pandemie aufgesetzt wurde, sowie auf die laufende Konferenz zur Zukunft Europas und stellt diese als Maßnahmen mit hoher Relevanz für die Jugend dar.
Die Zielvorgaben sind relativ hochgesteckt. Allerdings handelt es sich bei näherer Betrachtung im Wesentlichen um eine zeitweise Akzentuierung bestehender jugendpolitischer Themensetzungen. Das Jahr wird aus dem bestehenden Haushalt finanziert, und für EU-weite Koordinationsmaßnahmen werden »mindestens 8 Millionen Euro« bereitgestellt.
Inhaltlich sind von der Kommission jedoch keine großen neuen Impulse zu erwarten. Aus dem Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der der Europäischen Kommission, ist zu hören, von der Leyen habe das Thema ohne größere Vorbereitung im eigenen Apparat auf die Agenda gesetzt, und bislang gibt es von EU-Seite keine konkreten Pläne, wie – über bestehende längerfristige Themen hinaus – das Jahr umgesetzt werden soll. Entsprechend verwundert es wenig, wenn auch in Bundes- und Landesbehörden die Planungen zur Begleitung des Jahres kaum fortgeschritten sind.
Mit der Jugend …
Gleichwohl, auch wenn allzu große Erwartungen unbegründet wären, bietet diese thematische Schwerpunktsetzung gerade für Jugendverbände eine gute Chance, ihre Themen zu platzieren und mitzuwirken – und möglicherweise ihre Mitwirkungsrechte zu stärken.
Von der Leyen betonte immer wieder, dass nicht nur über sondern mit »der Jugend« gesprochen werden müsse. So unterstreicht sie zum Beispiel mit Blick auf die Konferenz zur Zukunft Europas, darauf geachtet zu haben, dass in den Bürgerforen ein Drittel junge Menschen säßen. Dies ist mit Blick auf die Mitwirkung nicht organisierter Bürger/innen sicherlich erstrebenswert; allerdings fällt auf, dass die organisierte Jugend vergleichsweise schwach vertreten ist. Von der Leyen weist darauf hin, dass die Präsidentin des Europäischen Jugendforums im Plenum der Konferenz zur Zukunft Europas vertreten ist; verschweigt dabei aber, dass diese lediglich eine von rund 400 Vertreter/innen ist, die im Plenum sitzen.
Institutionell sind zivilgesellschaftliche Jugendorganisationen kaum vertreten, während ansonsten ein buntes Spektrum von Akteuren beteiligt ist. Da die Konferenz zur Zukunft Europas ein befristetes Projekt ist, würde sich auch ein Blick auf bestehende Vertretungsstrukturen lohnen. So fällt zum Beispiel auf, dass Jugendorganisationen im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) kaum bis gar nicht vertreten sind. Unter den von Deutschland benannten Mitgliedern ist zwar die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) vertreten, der Deutsche Bundesjugendring hingegen nicht. Da eine grundlegende Reform des EWSA – mitsamt seiner seit Gründung eher intransparenten und widersprüchlichen Besetzungspraktiken – leider nicht absehbar ist, wäre das Europäische Jahr der Jugend eine gute Gelegenheit, zumindest die Besetzungspraxis breit zu diskutieren und Reformwege aufzuzeigen. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung böte hierfür übrigens ebenfalls gute Ansatzpunkte im nationalen Kontext, da schon in der Präambel versprochen wird: »Wir werden junge Menschen an Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligen.«
Wenn das Versprechen von mehr Mitsprachmöglichkeiten für »die Jugend« ernst gemeint ist, dann gilt es, auch bestehende Strukturen zu stärken. So richtig deliberative Ansätze sind – wie bei den Europäischen Bürgerforen, die auf eine repräsentative Vertretung auch junger Menschen setzen, so wenig können sie klassische Formen der Interessenvertretung ersetzen. Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerverbände würden sich zu Recht beklagen, wenn sie nicht mehr gehört würden und / oder der Gesetzgeber auf repräsentative Befragungen oder deliberative Formate mit repräsentativ ausgewählten Arbeitgebern oder Arbeitnehmern setzen würde. Diese neueren Formate sind als Ergänzung bestehender Strukturen durchaus sinnvoll. Aus den Ergebnissen können z.B. Wissenschaft, Politik oder Interessenvertreter/innen Schlüsse ziehen und sie für ihre Arbeit nutzen. Allerdings müssen derartige Ergebnisse aus unterschiedlichen Perspektiven gedeutet werden. Die Perspektiven der Jugendverbände sind relevant, werden aber oft nicht gehört. Das Europäische Jahr sollte deshalb deutlich machen, dass es nicht reicht, Jugend nur in Sonntagsreden als relevant zu bezeichnen, sondern dass die Perspektiven der Jugend in bestehenden oder neuen Beteiligungsstrukturen gehört werden müssen. So wie jene von Seniorenorganisationen oder den ohnehin schon einflussreichen Arbeitsgeber- oder Arbeitnehmerorganisationen. Letztere haben ohnehin sehr viel mehr Ressourcen – nicht nur finanziell (und dadurch im Hauptamt) sondern auch an sozialem und Bildungskapital. Es gibt häufiger privilegierte Zugänge zu politisch einflussreichen Akteuren und Entscheidungsträgern – oft unterstützt über soziale Netzwerke, die über viele Jahre aufgebaut wurden, genauso wie einen viel höheren Grad der Professionalisierung im Lobbying durch viel mehr Erfahrung.
Dass das Europäische Jahr der Jugend Chancen birgt, dass Jugendperspektiven stärker wahrgenommen werden, zeigen auch Überlegungen in unserer Hansestadt. So soll das Europäische Jahr der Jugend für eine Bewerbung Hamburgs als Europäische Jugendhauptstadt genutzt werden, und diese gilt es über das Jahr vorzubereiten.
Perspektiven auf die Zukunft
Das Europäische Jahr der Jugend soll in seiner Perspektive nicht auf die Gegenwart verengt werden, sondern mit Blick auf die Zukunft ausgerichtet sein; nicht auf Jugendpolitik im engeren Sinne verkürzt werden oder auf kurzfristige – wenn auch wichtige – Maßnahmen, wie der Bekämpfung heutiger Jugendarbeitslosigkeit, beschränkt werden. Es gilt alle Themen der Hohen Politik und insbesondere der großen Zukunftsthemen aus einer Jugendperspektive heraus zu deuten, zu kommunizieren und im politischen Handeln mitzudenken.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte hierzu: »Vom Klima über Soziales bis hin zu Digitalem — junge Menschen stehen im Zentrum unserer politischen Entscheidungen und Prioritäten. Wir wollen ihnen zuhören, wie wir es auch auf der Konferenz zur Zukunft Europas tun, und wir wollen gemeinsam die Europäische Union von morgen gestalten. Eine Union, die stärker ist, wenn sie den Ansprüchen unserer Jugend gerecht wird, verwurzelt in Werten und ist kraftvoll im Handeln.«
Gelänge dies, könnte das Europäische Jahr der Jugend auch ein Jahr der EU-Zukunftsthemen werden, und die Jugend könnte wichtige Zukunftsthemen antreiben, darauf drängen sie anzugehen und nicht aufzuschieben.
Vorsicht vor leeren Partizipationsversprechen
An diesem Beteiligungsversprechen müssen sich Kommission und staatliche Akteure messen lassen. Sie müssen »liefern«, denn das Vertrauen in Politik bzw. politische Akteure sinkt; obgleich zumindest hierzulande die Zufriedenheit mit dem politischen System an sich steigt. In der Shell-Jugendstudie 2019 konstatierten 71% der befragten Jugendlichen: »Politiker kümmern sich nicht darum, was Leute wie ich denken.« Dies korrespondiert mit der Jugendbefragung des Europäischen Parlaments 2021. Hier gibt eine Mehrheit an, kaum Einfluss auf politische Prozesse zu haben; ein ganzes Drittel sagt sogar, dass sie keinerlei Einfluss hätten. Im europäischen Vergleich ist die Gruppe der Jugendlichen, die das Gefühl haben, kaum politischen Einfluss nehmen zu können, hierzulande sogar noch verhältnismäßig klein.
Interessant ist das Gefälle zwischen jenen mit hohem Bildungsstand und jenem mit niedrigerem bzw. jenes zwischen wohlhabenden und eher armen jungen Menschen. Insbesondere höher Gebildete oder solche mit einem höheren ökonomischen Status haben das Gefühl, dass ihnen Einflussmöglichkeiten fehlen. Gerade jene also, die die »Partizipationsversprechen« politischer Akteure besonders häufig rezipieren.
Partizipationsversprechen, die nicht eingelöst werden, werden nicht dabei helfen, diese Grundhaltung einer großen Mehrheit junger Menschen zu ändern. Im Gegenteil. Sie mögen in Sonntagsreden gut klingen, sind aber dazu geeignet, nachhaltig spezifische Formen von Politik- oder besser Politiker/innenverdrossenheit zu befördern.
Die EU läuft dabei leider perspektivisch in Gefahr sich – auch beim Europäischen Jahr der Jugend – zu verheben. Eine klassische Werbestrategie der EU-Institutionen für die europäische Integration war und ist es, erfolgreiche Politiken, die einer Mehrheit der Bevölkerung gut zu vermitteln sind, in den Mittelpunkt zu stellen. Es ist kein Zufall, dass das freie Reisen und der freie Handel bis heute Leitmotive der Öffentlichkeitsarbeit sind. Es ist auch kein Zufall, dass symbolträchtige Verbraucherschutzthemen wie etwa die Regelungen zum EU-Roaming jahrelang ein Anker für die Kommunikation sind, obwohl vergleichsweise kleine Teile der Bevölkerung davon regelmäßig profitieren und der reale Nutzwert für die meisten EU-Bürger/innen eher gering ist. Aber diese kleinen Erfolgsgeschichten funktionierten in der Kommunikation sehr gut, weil relevante Teile der Bevölkerung oft genug die Auswirkungen solcher Regulationsentscheidungen bemerken und als positiv wahrnehmen.
Die Themen, die die Kommission nun aufruft, sind ungleich größer, und die Wahrscheinlichkeit, dass sehr breite Mehrheiten der EU-Bevölkerung mit den Politiken zur Digitalisierung, zum Klimaschutz, zur Migrationspolitik, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit usw. so zufrieden sein werden – wie mit den Politiken in den bisherigen Schwerpunktfeldern der EU, ist deutlich kleiner. Hierfür gibt es vielfältige Gründe: Die Komplexität dieser Themen; größere Interessen- und Zielkonflikte, durch die Win-Wins schwerer zu erzielen sind; sowie geteilte oder mangelnde Zuständigkeiten der EU.
Die Konferenz zur Zukunft Europas soll nun all diese Großthemen auf einmal adressieren; und natürlich unter starker Beteiligung »der Jugend«. Einer Jugend, die – wie wir zum Beispiel bei den letzten Bundestagswahlen an den Stimmgewinnen bei den Jungwähler/innen sowohl der Grünen als auch der FDP sehen konnten – alles andere als eine homogene Gruppe ist.
Bei den kommenden Großthemen, die die EU nun bearbeiten will, wird das technokratische Narrativ, dass es nur auf »gute Politik« ankomme, nicht mehr tragen. Es wird zunehmend häufiger einen politischen Meinungsstreit geben mit Ergebnissen, die nicht mehr so breit als positiv bewertet werden. In klassischen nationalstaatlichen Demokratien ist dies kein Problem, denn sie leben von Konsens und Meinungsstreit und dem gelegentlichen Wechsel, wenn eine breite Konsensbildung nicht möglich ist.
Die Kommission hat Themen aufgerufen, die nicht rein konsensbasiert verhandelt werden können. Demzufolge wird auch die Ansprache und Einbindung der europäischen Jugend nicht dazu führen, dass eindeutige Leitlinien entwickelt werden können, was »die Jugend« will. Es wird nicht funktionieren, sie für sich einzunehmen. Echte Beteiligung der Jugend im Europäischen Jahr der Jugend wird aufzeigen, dass wir in pluralen Gesellschaften leben, in dem das Miteinander stets politisch neu verhandelt werden muss.
Dafür bedarf es einerseits nach der Konferenz zur Zukunft vertragliche Reformen der EU, die ihre Handlungsfähigkeit dort erhöht, wo rein technokratische Moderation nicht zum Ziel führt, und andererseits der Bündelung von Interessen und ihrer Vertretung. Diese ist keine Einbahnstraße von oben herab, sondern führt in beide Richtungen. Wie erfolgreich das Europäische Jahr der Jugend wird, hängt insofern nicht alleine von den politischen Akteuren ab – sondern auch vom politischen Vorfeld, da sich diese Form des Agenda-Setting für eigene Jugendthemen nutzbar machen läßt.
Jugendakteure haben insofern das Glück, dass dieses Thema zum Türöffner werden kann, und sie sollten diese Chance dafür nutzen.
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Weitergehende Informationen
• Unterrichtung über die Kommissionsvorlage zum Europäischen Jahr der Jugend: https://dip.bundestag.de/vorgang/vorschlag-f%C3%BCr-einen-beschluss-des-europ%C3%A4ischen-parlaments-und-des-rates/282563?f.wahlperiode=19&f.wahlperiode=20&rows=25&pos=8
• EU Jugendstrategie 2019-2027: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=OJ:C:2018:456:FULL
• EU-Jugendziele: https://youth-goals.eu
• Eurobarometer: European Youth Survey 2021: www.europarl.europa.eu/at-your-service/files/be-heard/eurobarometer/2021/youth-survey-2021/report.pdf