Von Tilmann Dieckhoff, Sozialistische Jugend – Die Falken
Jedes Jahr fahren die Falken im Sommer in ein Ferien-Zeltlager. Während dieser Camps leben die Kinder und Jugendlichen, unterstützt von ehrenamtlichen Helfern/innen, in Zeltgruppen zusammen und organisieren den Zeltlageralltag in demokratischen Strukturen. Die Gruppe der Teilnehmenden ist immer bunt gemischt. Sie kommen aus den Falken-Stadtteilgruppen, vom Kindergarten Falkennest in Billstedt und ebenso aus den Hamburger Flüchtlingsunterkünften, die durch das Spielmobil Falkenflitzer besucht werden. So war es auch in diesem Sommer. Es wurde allerdings ein sehr besonderes Zeltlager.
Für drei Wochen fuhren knapp 80 Kinder und Jugendliche aus Hamburg und Schleswig Holstein diesmal auf die Nordseeinsel Föhr, um unter dem Motto »schön vielfältig – vielfältig schön« ihre Ferien zu verbringen und sich in Workshops mit Schönheitsidealen, Selbstinszenierung und Werbung auseinanderzusetzen. Auch an diesem Zeltlager nahmen Kinder und Jugendliche teil, die mit ihren Eltern vor Verfolgung, Diskriminierung und daraus resultierender Armut nach Deutschland flüchteten und hier nun in isolierter Wohnlage, in Flüchtlingsunterkünften, in Ausgrenzung leben müssen.
Bis vier Tage vor der Rückreise verbrachten die Hamburger Falken ein sehr schönes Zeltlager – mit allen Freuden und Problemen, die auf einem Zeltlager der Falken so vorkommen. Am Freitag, den 27. Juli, erhielt das Zeltlager abends um halb neun jedoch einen Anruf von der Ausländerbehörde. Diese erklärte, dass sie gerade in der Wohnung einer Familie stehe, deren vier Töchter am Zeltlager teilnahmen, und diese abschieben wolle. Die Familie sollte über Nacht von Hamburg nach Düsseldorf gebracht und von dort nach Skopje, Mazedonien, ausgeflogen werden. Die Ausländerbehörde erklärte, dass sie die Verantwortlichen des Zeltlagers über das weitere Vorgehen bei dieser Abschiebung informieren würde, was sie jedoch nicht tat. Bis heute nicht. Nachdem klar war, dass die Kinder nicht am selben Abend aus dem Zeltlager herausgeholt werden würden, blieb aufgrund der Nichtinformation für die restlichen Tage jedoch die Ungewissheit, ob noch mit einem »Besuch« der Ausländerbehörde zu rechnen wäre.
Nur mit immenser Anstrengung konnten die Falken Kontakt zur Mutter der Kinder herstellen. Sie selbst war, nachdem ihr die Ausländerbehörde den Informationsbrief der Falken zum Zeltlager – mit der Nummer des Notfalltelefons – abgenommen hatte, nicht mehr in der Lage, im Zeltlager anzurufen. Über eine Unter-stützer/innen-Gruppe aus Hamburg erfuhren wir, dass der Vater in der besagten Nacht abgeschoben, die Familie also auseinander gerissen wurde. Wie nun mit der weiteren Abschiebung der Roma-Familie umgegangen würde, blieb unklar. Auch, ob die Kinder direkt aus dem Zeltlager abgeschoben würden oder nicht.
Diese Situation stellte sich für die überwiegend jungen ehrenamtlichen Helfer/innen als unerträglich dar und machte eine »normale« Fortsetzung des Zeltlageralltags äußerst schwierig. Es bedurfte zahlreicher Telefonate und E-Mails, um drei Tage nach dem Anruf der Ausländerbehörde eine Zusicherung zu erhalten, dass die Kinder nicht aus dem Zeltlager abgeholt würden und die Falken wie geplant, mit allen Kindern, nach Hamburg zurückkehren könnten. Am Ende war es Michael Neumann, Hamburgs Innensenator, der das Zeltlager darüber informieren ließ.
Diese Situation, nicht zu wissen, ob die vier Mädchen aus dem Zeltlager abgeholt würden oder nicht, verbreitete unter den Helfern/innen Angst und Verunsicherung. Gleichzeitig musste das Zeltlager möglichst »normal« weitergehen. Die Kinder sollten nichts über die versuchte Abschiebung erfahren, was auf einem Zeltlager, auf dem es Handys gibt und noch weitere 250 junge Menschen, nicht einfach ist: Unter einem Vorwand wurden Telefone eingesammelt und den Kindern Normalität vorgespielt. Hätten Kinder auf dem Zeltlager von der Abschiebung erfahren, wäre dies wohl das chaotische Ende dieses Zeltlagers gewesen. Die Mutter der vier Mädchen hatte sich gewünscht, dass diese bis zum Schluss auf Föhr bleiben und erst in Hamburg von der Abschiebung erfahren sollten. Und auch für die anderen Kinder und Jugendlichen sollte das Zeltlager bis zum Schluss eine positive Erfahrung sein. Dem Helfer/innen-Team wäre es wohl kaum möglich gewesen die Fragen, Emotionen und Ängste der Kinder und Jugendlichen aufzufangen, wäre das Vorgehen der Ausländerbehörde bekannt geworden.
Nach Beendigung des Zeltlagers wurden die Kinder, wie von der Mutter gewünscht, durch Helfer/innen der Falken nach Hause gebracht und ihnen dort gemeinsam mit der Mutter erzählt, dass die Abschiebung droht und ihr Vater bereits nicht mehr in Deutschland sei.
Abgesehen davon, dass die aus Mazedonien stammende, in ärmsten Verhältnissen lebende Roma-Familie nun, nach der inzwischen stattgefundenen Abschiebung der restlichen Familie, einer vollkommenen Perspektivlosigkeit ausgesetzt ist, kritisieren die Falken im Wesentlichen zwei Punkte:
1. Die Falken sehen im Verwaltungshandeln der Ausländerbehörde eine deutliche Geringschätzung des ehrenamtlichen Engagements in Jugendverbänden: Der Landesförderplan der Stadt Hamburg sieht ausdrücklich vor, dass sich in Jugendverbänden Menschen ehrenamtlich betätigen. Es sollen Talente gefördert werden, »gerade auch der jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Junge Menschen sollen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung gefördert und Benachteiligungen vermieden oder abgebaut werden.« (Landesförderplan »Familie und Jugend« der Freien und Hansestadt Hamburg). Ferner sollen Jugendverbände außerschulische Bildungsarbeit leisten und Angebote zur Freizeitgestaltung und Erholung bieten.
Diesen Ansprüchen gerecht zu werden, war in den letzten Tagen des Zeltlagers nahezu unmöglich. Der Versuch der Abschiebung bedeutete für alle Helfer/innen eine deutliche Mehrbelastung in der Zeltlagerarbeit. Zum einen, da sich zwei Helfer/innen nahezu ausnahmslos um Informationen über den Fortgang der Abschiebung bemühten, und zum anderen, weil mit dem Stress, der Angst und der Ungewissheit umgegangen werden musste. Eine derartige Belastung ist unseres Erachtens für die in Jugendverbänden zumeist jungen Ehrenamtlichen nicht zumutbar.
Es ist unerträglich, wenn Kinder durch ihre Gruppenhelfer/innen belogen und ihre Handys eingezogen werden müssen, um ein Zeltlager weiter durchführen zu können. Auch ist es unerträglich, dass ein Zeltlager nur unter Angst fortgesetzt wird, resultierend aus der Nichtinformation über den weiteren Verlauf des Zeltlagers.
2. Wir sehen im Verwaltungshandeln der Ausländerbehörde einen klaren Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonventionen. Durch die getrennte Abschiebung der Familie wurde die Familie unnötigerweise auseinander gerissen und so gegen Artikel 9 und 18 der UN-Kinderrechtskonvention verstoßen. Auch hat jedes Kind ein Recht auf Erholung und Freizeit (Artikel 31). Dieser Anspruch wurde im beschriebenen Fall durch die geplante Abschiebung negiert.
Dass den Roma-Kindern, als Angehörige einer diskriminierten Minderheit in Mazedonien, das Recht auf Bildung, Gesundheit und Entwicklung verwehrt bleibt, liegt nicht im Einflussbereich der Ausländerbehörde. Sehr wohl aber, dass »bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen, der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden«, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig Berücksichtigung finden muss (Artikel 3 UN-KRK).
Die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken werden auch in Zukunft Kinder aus Flüchtlingsfamilien zu Seminaren und Zeltlagern mitnehmen und zu Gruppenstunden einladen. Wir setzen uns weiter gegen Ausgrenzung und Diskriminierung ein. Kinder haben Rechte – Jugendverbandsarbeit bietet eine gute Möglichkeit, diese wahrzunehmen und auf sie aufmerksam zu machen. Dafür braucht sie jedoch auch die notwendige Wertschätzung.