Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2012, Rubrik Titelthema

»Die Spuren sind das eine, ihre Deutung das andere«

Gedenkorte und die Schwierigkeiten mit der Authentizität

Von Harald Schmid, Hamburg

Von der »Vergangenheitsbewältigung« zur »Erinnerungskultur«
Wer heute zwischen 15 und 25 Jahren alt ist, hat eine politische Sozialisation erfahren, in der das öffentliche Erinnern an die Zeit des Nationalsozialismus selbstverständlicher Teil eines pädagogischen und geschichtspolitischen Konsenses ist. Die Jahrzehnte der »Vergangenheitsbewältigung«, in denen demonstrative Verdrängung und Verleugnung ebenso wie teilweise unversöhnliche Konflikte der Generationen im Streit um Schuld, Verantwortung und Erinnerung vorherrschten, sind weitestgehend überwunden. Stattdessen findet man heute fast nur noch Zustimmung – oder Überdruss.

Anders als etwa noch in den 1980er-Jahren gibt es keine nennenswerte Abwehr mehr gegen die öffentliche Präsenz der Vergegenwärtigung von Hitler, Zweitem Weltkrieg, Widerstand, Gewaltherrschaft und Völkermord. Einzig Rechtsextremisten bekämpfen weiterhin die Orientierung Deutschlands an jenen Einsichten und Werten, die aus der Auseinandersetzung mit der singulären Katastrophe und den schockierenden Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes erwachsen sind.

Dieser partei- und milieuübergreifende Konsens ist Ergebnis vielfältiger Entwicklungen der deutschen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg und mündet in eine Erinnerungskultur, die aktuell in Veränderung begriffen ist. Um nur die wichtigsten Aspekte zu nennen: zuvorderst die große Zeitdistanz zur Epoche des Faschismus, damit unmittelbar verbunden das Aussterben der Tätergeneration und das »Verstummen der Zeitzeugen«; der mehrfache Generationenwechsel und der damit verknüpfte, auch familiäre und emotionale Abstand; fachwissenschaftlich ist auf die Historisierung des Nationalsozialismus zu verweisen; hinzu kommen epochale Umbrüche: die deutsche Vereinigung mit ihren nationalisierenden Tendenzen, die auch ein Motor des Diskurses »Deutsche als Opfer« sind, ferner die europäische Einigung sowie weitere entnationalisierende und globalisierende Entwicklungen. Alles in allem ist die politische Kultur Deutschlands heute eng mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und deren monströse Verbrechen verwoben, wenngleich sich die normativen Bindewirkungen infolge der oben angedeuteten Entwicklungen zunehmend abschwächen.

Pointiert gesagt: Musste man zu Zeiten der »Vergangenheitsbewältigung« stets mit starken Widerständen gegen kritische Thematisierungen der NS-Zeit rechnen, kann man heute einen Konsens im Umgang mit dieser Geschichte erwarten. Die Herausforderung unserer Tage besteht weniger im Kampf gegen Verdrängung sondern überhaupt für ein Interesse an dieser Geschichte – und für die demokratische Weitergabe und Transformation eines historisch-politischen Erbes an eine radikal pluralistische Gesellschaft, an nachwachsende Generationen ohne direkten generationellen Zugang zu dieser Zeit und an Migranten mit ganz anderen Horizonten des Geschichtsbewusstseins. Die Erkenntnis, dass die konfrontative Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein generationelles Projekt war und inzwischen weitgehend abgeschlossen ist, ringt dabei mit den Versteinerungen einer ritualisierten und professionalisierten, von einer Tendenz zum Affirmativen geprägten Kultur des Erinnerns.

Es geht also um eine Reihe von Fragen, die die jüngsten Veränderungen reflektieren: Welcher Stellenwert hat die Geschichte des Nationalsozialismus heute, fast acht Jahrzehnte nach dessen Machtübernahme, welche Bedeutung hat die öffentliche Erinnerung daran? Wie kann man der Routinisierung des Gedenkens entgehen, wie kann Vergangenheit immer wieder für die Gegenwart zum »Sprechen« gebracht werden? Wie kann die Bedeutung des Nationalsozialismus immer wieder in ein politisch wie intellektuell glaubwürdiges Verhältnis zur Gegenwart gebracht werden? Wie können das negative Erbe des Nationalsozialismus und die positive Tradition kritischer Auseinandersetzung damit den nachwachsenden Generationen angemessen vermittelt werden – ohne Zeigefinger, ohne Ideologisierung, und doch mit ernsthafter Bemühung um eine Reflexion und Aneignung dieser lastenden Vergangenheit? Und wie können wir es schaffen, die im internationalen Vergleich bemerkenswert selbstkritische Grundstruktur der Erinnerungskultur fortzuschreiben?

Authentizität – suggestiver Mythos der Erinnerungskultur
Ein herausragender Bestandteil dieser hier nur angedeuteten Erinnerungskultur sind die Gedenkstätten. Dieser Begriff ist schon lange nicht mehr angemessen, geht es dabei doch um weit mehr als Gedenken.

Umgreift er in einem weiten Sinne sämtliche Orte des Gedenkens – vom einfachen Grabstein bis zur großflächigen Erinnerungsstätte mit professionellem Personal und diversen Angeboten für die politisch-historische Bildungsarbeit, sind mit »Gedenkstätte« im engeren Sinne nur jene Orte bezeichnet, die am historischen Ort eines Lagers, eines Gefängnisses oder eines Ereignisses mit Gedenk-, Informations- und Bildungsangeboten an Leiden und Opfer, an Taten und Täter erinnern. Sie bringen also – als Gedenk- und Lernort – Vergangenheit und Gegenwart in der Bildungsarbeit zusammenbringen. Insofern lassen sich die Gedenkstätten für die Opfer des »Dritten Reichs« und zu dessen Herrschaftsstruktur als vergegenständlichte Grundidee westdeutscher Vergangenheitsaufarbeitung begreifen: dass Lernen aus der Geschichte nicht nur möglich, sondern auch nötig sei. Mit Blick auf die Bedingtheit historischer Erkenntnis und museumsdidaktischer Gestaltung repräsentieren sie zeittypische »Kristallisationskerne des Verstehens« (Wolfgang Benz).

Ort und Erinnerung gehen an den Gedenkstätten eine enge Symbiose ein: Die Orte scheinen das Historische zu evozieren, die Erinnerungen auf den Ort zurückzuwirken. So entsteht eine »Aura«, eine mit Vergangenheit, Raum und Ethos zum Eindruck des »Authentischen« gleichsam angefüllte Atmosphäre. Authentizität bezieht sich auf die Gewissheit, am historischen Ort des fraglichen Geschehens zu sein, dessen materielle Überreste und originale Zeugnisse der hier einst leidenden, handelnden und mordenden Menschen vorzufinden. Das Authentische wird dabei als echt und unmittelbar, die Kopie, Rekonstruktion, Veränderung oder Fälschung als Verlust gedeutet. Es geht also um Bedeutungskonstruktionen, Eigenschaften, die Dingen zugeschrieben werden, somit um eine Relation zwischen Menschen und Objekten.

In der heutigen Museums- und Gedenkstättenarbeit ist die Überzeugung fest verankert, dass die Auseinandersetzung mit materiellen Überresten einen besonderen Wert in der Vermittlung von Geschichte hat: einerseits durch die konkret-sinnliche Anschaulichkeit, andererseits durch eine Art gegenständlicher Beweiskraft des »authentischen« Zeugnisses. Authentisch ausgewiesene historische Relikte werden als »Chance der historischen Sinnbildung« (Jörn Rüsen) begriffen und genutzt.

So betreiben Gedenkstätten-Mitarbeiter/innen mitunter einen beträchtlichen Aufwand bei der Suche nach Spuren und deren Erhaltung. Bezeugen doch bauliche und sonstige materielle Relikte, überlieferte Stimmen der Opfer und aufgezeichnete Aussagen von Überlebenden Faktizität und Evidenz dieser Geschichte. Gebäude wie ein Arrestbunker oder eine Häftlingsunterkunft, seien sie auch stark verfallen, verwittert oder überwachsen, dokumentieren, beglaubigen und symbolisieren eine Leidensgeschichte, die just hier stattfand, nur eben sieben Jahrzehnte früher. Kurzum, Authentizität scheint einen unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit zu eröffnen.

Doch, so der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann, »die Spuren sind das eine, ihre Deutung das andere«. Spuren, Relikte, Überreste sind als solche stumm: »Auch die scheinbar klarsten und willfährigsten Texte oder archäologischen Materialien sprechen erst dann zu uns«, schreibt der französische Historiker Marc Bloch, »wenn wir sie zu befragen wissen.« Der Eindruck von Authentizität kann also entstehen durch das Zusammenwirken von geschichtspädagogischer Inszenierung und subjektiven Interpretationen und Imaginationen. Gewiss, das Areal, die Überreste, die historische Dokumentation einer Gedenkstätte eröffnen einen Raum der Geschichte, aber eben keinen direkten Zugang zur Vergangenheit. Letztere ist kategorisch vorüber, es gibt grundsätzlich keinen Weg »zurück«. Einzig die Möglichkeit verbleibt, durch Quellen und Überreste, durch historisch-kritische Methode und immer wieder viel Verstehens- und Deutungsarbeit Vergangenheit zu rekonstruieren – im Wissen, dass dies bestenfalls näherungsweise möglich ist. Denn Geschichte, von alters her stets doppeldeutig und sowohl das Geschehen selbst als auch die Erzählung darüber bezeichnend, ist als Bericht über Vergangenes immer eine Konstruktion, eine aus der Gegenwart verfasste Deutung von Ereignissen, über die man nie alles und immer zu wenig weiß, die man als wichtig ausgewählt und andere als unwichtig an den Rand gedrängt oder übergangen hat.

In diesem Sinne erzählen und vermitteln Wissenschaft, Politik, Kultur und Kunst uns immer wieder Vergangenheit als Geschichte für die Gegenwart. Diese prinzipiellen geschichts-theoretischen Überlegungen sollte man sich gerade in einem Kontext vor Augen halten, der wie die Gedenkstätten zur NS-Zeit mit intensiven, historisch-auratisch und politisch-ethisch angefüllten »Botschaften« eine Nähe suggeriert, die die kategorische Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart mitunter vergessen lässt.

Ist das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ein authentischer Ort? Nein, an diesem großflächigen Mahnmal gab es vor 1945 weder ein Konzentrationslager noch eine andere Repressionsstätte des Hitler-Regimes. Und doch entfaltet das »Holocaust-Mahnmal« eine eigene, durch den zentralen Ort in der Bundeshauptstadt des neuen Deutschland und durch die Monumentalität der Gestaltung bedingte Geschichtsaura. Der Ort hat nichts mit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden zwischen 1933 und 1945 zu tun. Aber aus politischen Gründen wird hier daran erinnert, so dass der Ort längst zu einem der bekanntesten Symbole dieser Verbrechen geworden ist. Das Stelenfeld von Berlin ist nicht authentisch aber hochsymbolisch. Es steht im kollektiven Bildgedächtnis gleichsam neben dem historischen Lagertor von Auschwitz.

Auch Gedenkstätten an den Orten ehemaliger Konzentrationslager oder an Schauplätzen der Verfolgung können diese symbolische Kraft entwickeln. Allerdings benötigen sie in erster Linie den Schein des Authentischen. Das vor Ort mit museumsdidaktischen Mitteln inszenierte Wissen, es mit einem historisch bedeutsamen Ort in der übergreifenden Geschichte der Gewaltverbrechen des »Dritten Reiches« zu tun zu haben, ist gewissermaßen das wichtigste Kapital einer solchen Gedenkstätte. Hierfür spielen Relikte (respektive deren Überreste) wie Lagerbaracken, Wachtürme, Sanitäranlagen, Stacheldrähte, Zaunpfähle, Arrestbunker, Grundmauern, Appellplätze, Straßen und Gegenstände des Lagerlebens eine zentrale Rolle. Fast alle Gedenkstätten können in diesem Sinne Relikte von Terror und Leiden vorweisen.

Alternative Wege. Was aber, wenn es keine oder nur ganz wenige Überreste gibt? Wenn die materielle Überlieferung zahlenmäßig auf so niedrigem Niveau ist, dass erinnerungskulturelle Authentizität auf diesem Wege kaum erreichbar ist? Wenn, um mit Detlef Hoffmann zu sprechen, das »Gedächtnis der Dinge« nicht mehr funktioniert? Manche Gedenkstätten befinden sich in dieser Situation und sind genötigt, alternative Wege zu gehen. Vielleicht am Augenfälligsten ist hier das Beispiel der Vernichtungslager Belzec, Kulmhof, Sobibor und Treblinka, dasselbe trifft auf die kaum bekannten Vernichtungslager Bronnaja Gora und Maly Trostinez zu. An diesen Orten beseitigte die SS nahezu sämtliche Spuren, auch die schriftlichen, an anderen wie Auschwitz und Majdanek gelang dies aufgrund der heranrückenden Roten Armee bloß teilweise; oft überlebten nur ganz wenige Opfer den Massenmord, sodass auch die mündliche Überlieferung heikel ist.

Authentizität ist also eine gewichtige Ressource für Gedenkstätten – und wo es an materiellen Überresten mangelt, haben die Einrichtungen ein echtes Problem mit dem »Echten«. Diese Herausforderung ist nicht neu und hat zu unterschiedlichen Umgangsweisen damit geführt. Dabei geht es primär darum, die Vorstellungskraft von Besuchern seriös zu aktivieren, um das Unsichtbare wenigstens in die individuelle Imagination zurückzuholen.

Doch auch wo es diesen Mangel nicht gibt, sollten die Attribute »original« und »authentisch« nur mit Vorbehalt verwendet werden. Denn eine professionelle Inszenierung lässt leicht vergessen, dass es eine solche Authentizität im engeren Sinne gar nicht geben kann. Blieben materielle Überreste wie eine Holzbaracke überhaupt erhalten, wurden sie oft direkt nach Kriegsende oder in den erinnerungsfeindlichen fünfziger Jahren beseitigt; wo nicht, wurden sie zunächst oft umfunktioniert zu anderen Zwecken und später abgerissen; ansonsten waren sie dem Zahn der Zeit ausgesetzt und verfielen. In Gedenkstätten wurden sie dann oft zu Präsentationszwecken bearbeitet, sei es zur Konservierung, sei es zur herzeigbaren Rekonstruktion, sei es als Überformung oder Umfunktionierung. Authentizität im Sinne von »ursprünglichem Zustand« ist ein nachvollziehbarer Wunsch nach glaubwürdiger Anschaulichkeit, aber letztlich eine Fiktion. »Ironischerweise müssen die ›authentischen‹ Objekte in permanenter Arbeit konserviert und erhalten werden, damit sie ihren ›authentischen‹ Charakter bewahren können«, heißt es treffend bei den österreichischen Historikern Gerhard Botz, Daniela Ellmauer und Alexander Prenninger. Aber mehr noch, auch von einer authentischen Erinnerung eines Zeitzeugen zu sprechen, ist zumindest problematisch – zu viel wissen wir inzwischen über die Unzuverlässigkeit menschlichen Erinnerns, zu viel über die permanente Neukonstruktion der Vergangenheit im Gedächtnis. Aber gewiss, in einem weniger strikten Sinne haben wir es hier mit Authentizität zu tun – in jenem Sinne, dass materielle oder persönliche Zeugnisse aus der Zeit der NS-Diktatur vorliegen. Mit diesem »Pfund« müssen Gedenkstätten, müssen Erinnerungskulturen wuchern, sollten aber das Problem der Authentizität nicht beschönigen.

Authentizität heißt in Gedenkstätten also: Umgang mit nicht mehr Existentem, Umgang mit Verändertem – und dadurch generell Umgang mit Spuren und Schichten unterschiedlicher früher Praxen. »Gedenken ist auf diese Weise immer gestört, nie eindeutig« (Detlef Hoffmann). Anders gesagt: Authentizität ist immer kontaminiert, sowohl der verändernde Eingriff als auch der belassende Nicht-Eingriff sind in Gedenkstätten Teil der Inszenierung von Geschichte – Einsichten, die auch für die Hamburger Erinnerungskultur und die Diskussion um die Gestaltung des Lohseplatzes am ehemaligen Hannoverschen Bahnhof der Hansestadt bedeutsam sind.

Der Erinnerungsort Lohseplatz
Der 1872 gebaute Hannoversche Bahnhof wurde nach der 1906 erfolgten Eröffnung des Hamburger Hauptbahnhofs nur noch als Güterbahnhof genutzt. So war der Hannoversche Bahnhof im »Dritten Reich« eingebunden in die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Zwischen 1940 und 1945 fungierte er als Hamburger Deportationsstätte. Von hier fuhren mindestens 20 Deportationszüge mit über 7692 Juden, Sinti und Roma in die Gettos, Konzentrations- und Vernichtungslager, von denen wohl weit weniger als tausend überlebt haben. Nach der zeitgeschichtlichen und erinnerungskulturellen »Wiederentdeckung« des Ortes in den 1990er-Jahren hat die Stadt Hamburg den weiteren Umgang mit dem Areal auf dem ehemaligen Großen Grasbrook und heutigen Lohseplatz – benannt nach dem Architekt und Ingenieur Hermann Lohse – in der neu entstehenden Hafen-City in einem bemerkenswert umsichtigen, mehrjährigen Diskussionsprozess reflektiert und vorangebracht. Mit einer Ausstellung, der Einrichtung einer Steuerungsgruppe, mit Kolloquien, Wettbewerbsausschreibungen und Gutachten, ersten Übergangs-Neugestaltungen soll die Errichtung sowohl eines Informations- und Dokumentationszentrums als auch einer Gedenkstätte realisiert werden – eingebettet in einen multifunktional genutzten Park.

Mit dem Projekt »Gedenkort Lohseplatz« hat Hamburg die Chance, endlich der erinnerungskulturell bislang in der Stadt marginalen Deportationsgeschichte einen herausgehobenen Ort zu widmen. Seit Oktober 1993 erinnert am Hamburger Hauptbahnhof eine Gedenktafel der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft Hamburg an die hiesigen Deportationsopfer. Bei der Gesamtschule Winterhude wurde im Jahre 1996 das »Denk-Mal Güterwagen« eingeweiht, ein Erinnerungsprojekt von Schülern, Lehrern und Anwohnern, das mit zwei vor einem Güterwaggon der Deutschen Reichsbahn stehenden Skulpturen zweier Lehrerinnen der früheren Schule Meerweinstraße gedenkt, die in den Transporten vom Hannoverschen Bahnhof ins Ghetto deportiert wurden und ums Leben kamen. Schließlich wurde 2005 am Lohseplatz im Rahmen des Hamburger Tafelprogramms eine weitere Tafel angebracht.

Allein, das Projekt Lohseplatz kann sich auf nur wenige historische Relikte stützen, Authentizität ist sozusagen Mangelware. Die Reste des im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Hannoverschen Bahnhofs wurden in den 1950er-Jahren gesprengt. Deshalb gibt es heute außer Resten des ehemaligen »Bahnsteigs 2« und von Bahngleisen keine weiteren materiellen Überreste des Bahnhofs, wobei Lage und Materialität der letzteren infolge diverser Veränderungen nicht mehr der historischen Beschaffenheit entsprechen.

Zentrale Fragen. Im Mittelpunkt des derzeit größten Hamburger Gedenkprojekts steht also der Lohseplatz, der vormalige Bahnhofsvorplatz. Die zentralen Fragen des Projekts beziehen sich auf die Freiraumgestaltung und lauten: Wie kann dieser historische Ort mit minimalen Überresten museumsdidaktisch zum »Sprechen« gebracht werden? Und wie können Vorgeschichte und Nachnutzung intelligent und ansprechend präsentiert werden? Die frühere Kultursenatorin Karin von Welck sagte: »Gerade in der HafenCity, wo sich heute Hamburgs Zukunft am stärksten auftut, sollen die dunklen Seiten der Hamburger Geschichte bewusst mit einbezogen werden.« Der geplante Gedenkort, so von Welck weiter, »dokumentiert auf Dauer in markanter Anschaulichkeit den tiefen Einschnitt, den die nationalsozialistische Verfolgung und die Deportationen in unserer Stadtgeschichte hinterlassen haben.« Damit ist die gestalterische Herausforderung benannt.

Eine Zeitzeugin der Hamburger Deportationen, Ingrid Wecker, hat den Hannoverschen Bahnhof als »ein Symbol dieser grauenvollen Zeit« bezeichnet. Wie kann diese Perspektive in die avisierte Gestaltung des Gedenkortes einfließen? Kann das heute weitgehend Unsichtbare hier wieder sichtbar werden? Die Berliner Kunsthistorikerin Stefanie Endlich hat im Rahmen eines Kolloquiums zur Gestaltung des Lohseplatzes mehrere Typen des Umgangs mit historischen Orten ohne oder nur wenigen Relikten benannt: künstlerische und architektonische Markierung, deutende Neugestaltung, Hinführung zum konkreten Ort (etwa mit Tafeln oder Installationen) sowie Schutz der baulichen Spuren.

Zum einen soll das Problem weniger Überreste am historischen Ort Lohseplatz eine künstlerische Antwort finden, zum anderen eine räumliche: Da sich der vormalige Bahnsteig 2 ebenso wie die historischen Gleisverläufe heute außerhalb des geplanten Lohseparks befinden, sieht das inzwischen vorgelegte Konzept eine diagonal durch das Areal des Lohseparks gezogene, landschaftsgestalterische Verbindung zwischen den beiden, ungefähr 400 Meter voneinander entfernten Orten vor. Damit soll der historische Weg der Deportationszüge in der Gestalt einer Sichtachse visuell kenntlich gemacht werden. Den Gestaltungswettbewerb hat 2010 das Landschaftsarchitektenbüro Vogt aus Zürich für sich entschieden. Man darf gespannt sein, ob und wie am Lohseplatz die »Überbleibsel alter Schrecken«, wie die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger das »Authentische« der Gedenkstätten sarkastisch umschrieben hat, für uns Nachlebende zum Sprechen gebracht werden. Teil dieser Entwicklung sollten auch die Ergebnisse des Wettbewerbs »Wie wollt ihr euch erinnern?« sein.

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Zu dem Autor

Dr. Harald Schmid, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker, Hamburg, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten und am Historischen Seminar der Christians-Albrechts-Universität zu Kiel. Veröffentlichungen zu Erinnerungskultur, Geschichtspolitik und Regionalgeschichte.