Von Bianca Gerlach, Hamburg
Der Älteste ist 25 und eine absolute Ausnahme. 21jährige sind alte Hasen. Die Mitglieder von Minas Tirith sind strikt, wenn es um die Grundsätze des Stammes geht. Und einer davon heißt: Junge Menschen leiten jüngere an. Die Gruppe gehört zum Pfadfinder- und Pfadfinderinnenbund Nord, kurz PBN. Ihr Treffpunkt: die »Alte Wache« in Ohlsdorf.
Dunkelgelb gestrichen, große Fenster, die Architektur eines Gutshauses. Fast herrschaftlich wirkt von weitem das Haus, das direkt an der U-Bahn-Haltestelle Ohlsdorf liegt. Die erste Etage nutzt der Stamm Andwaranaut mit dem Namen eines Goldrings in germanischen Sagen. Minas Tirith, benannt nach der weißen Stadt in der Trilogie »Herr der Ringe« bewohnt die zweite. An diesem Dienstagabend trifft sich unter anderem die Sippe von Okula, wie der 19jährige Jan-Evan Lütje des Stammes Minas Tirith mit Pfadfinder-Name heißt. Einmal in der Woche kommt die Gruppe in der großen Halle im Obergeschoß zusammen. Heute sind nur vier seiner sieben Sipplinge hier. Sie kicken ausgelassen einen alten Fußball durch den kalten Raum mit dem Charme eines unausgebauten Dachbodens. Unverkleideter Boden, schief, ungemütlich. Darüber gelegt vier Teppiche, orientalisch gemusterte Woll-Läufer, ausrangiert aus Eltern-Wohnungen. Provisorisch, aber gemütlich. Ein Bild des Namensgeber, der weißen Stadt, ziert die eine Wand, aufgemalt daneben zwinkert ein waldgrüner, großer Drache, links neben der Tür steht in großen Buchstaben gekritzelt: »Hauke stinkt«. Die Jüngsten des Stammes sind zehn Jahre alt.
Seit 1997 gehört die ehemalige Polizeiwache in Ohlsdorf den beiden Ortsgruppen. Seitdem hat sich einiges verändert. Vor rund zehn Jahren hatte der Stamm nur noch rund 15 Mitglieder. Inzwischen tingeln die älteren Stammesmitglieder jeweils nach den Sommerferien in ihrer Kluft durch Schulen, zeigen Dias, schwärmen von den Fahrten, von der Natur. Mit Erfolg. 14 Sippen treffen sich jetzt regelmäßig in Ohlsdorf. Nachdem das alte Heim in der Kellinghusenstraße abgerissen wurde, hat ihnen die Stadt die »Alte Wache« gegen eine geringe Pacht überlassen. Renovierungsbedürftig. Die Kids reparieren selbst. Falls nötig holen sie sich Unterstützung der Eltern. Es wird genagelt, geschraubt und vor allem gemalt. Im unteren Geschoß blitzen Schränke und Türrahmen in feuerrot, oben schlängeln sich bunte Farbtupfen die Wände entlang. Man sitzt auf Holzbänken, Matratzenbergen. Fast wie im Baumhaus. Draußen.
»Bindung durch Kontinuität schaffen«, beschreibt Okula das Ziel eines Sippenleiters. Ein Satz wie aus dem Lehrbuch. Von verstaubter Theorie ist jedoch keine Spur. Der sympathische Jugendliche zählt auf, was er mit seiner Sippe alles anstellt: basteln, toben, spielen, Lieder singen, Besuche im Theater, Kino. Kurz: Er engagiert sich, zeigt Initiative, hat Freude an seiner Tätigkeit. Und das ehrenamtlich – so wie alle hier. Die wöchentlichen Treffen dienen dazu, die Gruppe zusammen zu halten, den Kids etwas beizubringen, darunter Pfadfinder-Lieder und wie man sich auf Wanderschaft verhält. Einmal im Monat geht Okula, so wie alle anderen Sippen des Stammes, mit seinen Kids auf Fahrt. Kostenpunkt: Zwischen fünf und acht Euro. Ein Wochenende lang geht es mit der Bahn in die nähere Umgebung, nach Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise und in die Lüneburger Heide. Eine der Devisen von Minas Tirith dabei ist die Nähe zur Natur. Ihr Fortbewegungsmittel: die Füße. Übernachtet wird in Kohten, »dort, wo es uns gerade gut gefällt«, so Okula. Vertrieben worden seien sie noch nie. Trotz wildem Camping. Der Respekt vor so viel Initiative wiegt scheinbar mehr. Zelten in großen Lagern, wie man es von anderen Pfadfindern kennt, ist eher die Ausnahme. Man bevorzugt den Ausflug in der Kleingruppe. Die Planung einer solchen Tour übernimmt der Sippenleiter, eine Funktion, die man ab 16 Jahren übernehmen kann. Da die »Äl-teren« mit 21 Jahren aus dem aktiven Stammesleben ausscheiden, müssen die Jüngeren früh einspringen, um den Stamm am Leben zu halten. Sie werden deshalb animiert, ihre eigene Gruppe aufzumachen. Das Ergebnis: Eigenständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Organisationsgeschick. Ohne Schule, ohne Erwachsene.
Unten im Keller erzählen Stahltüren von der Vergangenheit des Hauses. Die ehemalige Polizeiwache verwahrte Straftäter in den Zellen im Untergeschoß. An den massiven Türen sind inzwischen grell-orange Schilder angebracht und trotz Farbe, trotz langer Vergangenheit, ist die Atmosphäre seltsam, bedrohlich irgendwie. Von ihrer ursprünglichen Funktion ist jedoch nichts mehr zu merken. Den einen Raum haben die Kinder und Jugendlichen zu einer Sauna umgebaut, den anderen nutzt man als Fotolabor. Beides in Eigenregie. Ebenso im Untergeschoß ist der Büroraum. Zwei Computer und ein Drucker. Hier unten wird verwaltet, Fahrten werden organisiert und Fliegende Blätter, hausinterne Mitteilungen geschrieben und vervielfältigt. An diesem Abend nutzt der Älteste des Stammes, 25 Jahre alt und »eigentlich gar nicht mehr Stammesangehöriger«, so Okula, das mit Holz vertäfelte Zimmer: Er hilft mit der Kassenabrechnung. Von der Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben pro Quartal bis hin zum Ausfüllen von behördlichen Formularen, etwa um einkommensschwachen Kindern die Teilnahme an den Sommerfahrten zu ermöglichen, machen die Jugendlichen des Stammes alles eigenverantwortlich. »Das lernt man,« so Okula, »und außerdem sind ja erstmal Ältere da, die es einem zeigen können.«
Die drei Sipplinge aus Okulas Gruppe, die heute gekommen sind, heißen Lennart, Enzo und Max, 13 und 14 Jahre alt. Einen von ihnen hört man im großen Saal wimmern. Es dreht ihm gerade jemand schmerzvoll den Arm um. Ein Spiel. Und vielleicht einer der Gründe, weshalb Pfadfinder und Pfadfinderinnen getrennte Ortsgruppen bilden. »In dem Alter stelle ich es mir relativ schwierig vor, mit beiden zusammen auf Fahrt zu gehen«, erklärt Okula. Das morgendliche Baden in einem See, ein Abend in der Sauna. Tatsächlich: Schwer vorstellbar mit Beginn der Pubertät. Weshalb es die drei Jungs lieber zum Toben in die »Alte Wache« als zum Daddeln an den Computer zieht? »Weiß nicht«, sagt Lennart und kichert verlegen. Die zwei anderen zucken mit den Schultern. Was macht daran Spaß? Wieder Schulterzucken. Okula, ihr Leiter, wirft ein, dass es doch schön sei, ohne Eltern in den Urlaub zu fahren. »Ja«, lang gezogen und wenig enthusiastisch Lennarts Reaktion. Die Jungs ziehen wieder ab. »Schwieriges Alter«, kommentiert Okula. Lennart hört man hinter der verschlossenen Tür kreischen: »Wie peinlich!« Dann lacht er und tobt davon.
Leer stehen die Räumlichkeiten des ehemaligen Polizeireviers fast nie. Die einzelnen Sippen treffen sich wöchentlich, und Sitzungen von Stammesführern aus den Ortsgruppen finden hier statt. An Wochenenden und in der Ferienzeit wird das Haus vermietet. Pfadfinder aus anderen Regionen Deutschlands kommen gegen eine geringe Aufwandsentschädigung auf ihren Fahrten unter. Im Sommer, wenn alle auf ihren dreiwöchigen Ausflügen unterwegs sind, quartieren sich Gastarbeiter aus Südamerika ein, nutzen die Zimmer als günstige Herberge. Einmal im Jahr verbringen die Sippen eine Woche zusammen in dem Heim in Ohlsdorf. Das Ziel: Zusammengehörigkeit schaffen, eine Gemeinschaft bilden. Bindung durch Kontinuität eben. Und gemeinsames Schaffen. Die Tage werden genutzt, um kleine Dinge zu reparieren. Finanziert werden sie unter anderem von den Mitgliedsbeiträgen, 48 Euro im Jahr. Davon geht ein Teil an den PBN, in die Heimkasse, ein kleiner Rest bleibt im Stamm. Große Sprünge kann man mit dem Rest-Geld nicht machen. Kostspielige Wartungsarbeiten wie die neue Heizungsanlage im Haus oder die anstehende Erneuerung des undichten Daches können daher nur mit Spendengeldern und öffentlichen Mitteln finanziert werden.
Am Abend ist ein Treffen der Stammesführer der Ortsgruppen. Auf dem Boden, einem Matratzenberg, fläzen sieben Jugendliche irgendwo zwischen 18 und 21 Jahren. Einer spielt auf der Klampfe, die anderen singen aus voller Kehle. Ein Pfadfinderlied. Kurze Zeit später, gruppiert um einen gigantischen Topf mit Nudeln und Tomatensoße, beratschlagen, diskutieren und planen sie Organisatorisches, Finanzielles, die Planung eines Bundeslagers und ganz aktuell ein Stadtgeländespiel. Fast alle sind sie Abiturienten. »Andere, etwa Auszubildende, könnten sich das zeitlich gar nicht erlauben«, erklärt Okula. Er selbst ist nicht nur Sippenleiter, sondern auch Stammesführer und Lehrer in der Meester-School, der PBN-internen Ausbildung zum Jugendleiter. Manchmal ist er an fünf Tagen der Woche im Haus. Seine Motivation: »Das Schönste ist eigentlich zu sehen, wie die Kids sich entwic-keln. Das ist der beste Antrieb, den man haben kann. Zuzusehen, wie sie das annehmen, was man ihnen vorher gezeigt hat.« Sein Wunsch für die nächsten Jahre: »Dass es unserem Stamm gut geht und in jeder Sippe zehn Personen sind. Der Stamm soll wachsen.« Hehre Ziele. Ihm bleiben zwei Jahre. Dann ist er 21.
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Die »Alte Wache«
Alsterdorfer Straße 575, 22335 Hamburg
Der PBN
Der Pfadfinder- und Pfadfinderinnenbund Nord besteht aus Jungen und Mädchen im Alter zwischen 10 – 21 Jahren und hat ca. 600 Mitglieder. Er ist komplett ehrenamtlich organisiert. Gruppen existieren in den Stadtteilen Ohlsdorf, Poppenbüttel, Volksdorf, Wandsbek, Berne, Lurup, Niendorf, Barmbek und Harburg.
Tel.: (040) 59 97 07 | Fax: (040) 59 97 07 | www.pbn.de | info@ pbn.de
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