Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2009, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

Wie ticken Jugendliche?

Die Sinus-Milieustudie U27

von Gesa Grandt, Bund der Deutschen Katholischen Jugend, Hamburg

Eigentlich wussten wir es vorher schon: Jugend ist nicht gleich Jugend. Und doch: Die Sinus-Milieustudie U27 stößt uns vehement mit der Nase darauf. Pauschalisierungen über die Jugend von heute sind fehl am Platz und müssen differenzierten Ansätzen weichen. Die vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und dem bischöflichen Hilfswerk MISEREOR in Auftrag gegebene Studie ist die erste ihrer Art, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit dem Instrument der Sinus-Milieus in den Blick nimmt.

Die beiden Träger schließen damit eine große Lücke: Eine Untersuchung zu kirchlichen und religiösen Orientierungen in den Sinus-Milieus im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz aus dem Jahr 2005 bezieht lediglich qualita-tive Daten der Alterskohorte ab dem 20. Lebensjahr mit ein, Kinder und Jugendliche wurden außer Acht gelassen. Die seit April 2008 vorliegende Studie beschränkt sich nicht auf die religiöse Dimension, sie nimmt tief- und vielschichtige Einblicke in die Lebensstile junger Menschen.
Mit Aussagen über Wertvorstellungen, Sehnsüchten, Zukunftsentwürfen, Einstellungen zu Gemeinschaft und Engagement sowie ihre Haltung gegenüber Religion und Kirche ist sie nicht nur für die katholische Jugendarbeit interessant, sondern allgemein auf junge Menschen übertragbar und damit für alle von Interesse, die junge Menschen besser verstehen, mit ihnen zusammen arbeiten und in den unterschiedlichsten politischen Bereichen Interessenvertretung und Anwaltschaft für sie übernehmen wollen.

Studie und Milieubegriff
Die vorliegende Studie untersucht drei Altersgruppen: Kinder (9 bis 13 Jahre), Jugendliche (14 bis 19 Jahre) und junge Erwachsene (20 bis 27 Jahre). Das beauftragte Heidelberger Institut Sociovision hat für die Gruppe der Jugendlichen erstmals ein eigenständiges Milieumodell entwickelt und somit an die jugendliche Ausgangslage angepasst. Das Modell der Sinus-Milieus erlaubt, den Menschen in seiner Lebenswelt ganzheitlicher in den Blick zu nehmen. Die Ergebnisse gehen dabei über eine reine Beschreibung soziodemographischer Daten hinaus, denn die Sinus-Milieus gruppieren Menschen einander zu, die sich in ihren Lebensauffassungen und Lebensweisen ähneln. Die soziale Lage, die sich bei Erwachsenen am ökonomischen Status orientiert, wird in der Jugendstudie über den Grad der Bildung, sprich im herkömmlich gedachten Schulsystem, beschrieben. Diese »Schichtachse« wird verbunden mit einer zweiten Dimension, der sogenannten Grundorientierung, einem lebens-weltlichen Basismotiv, beschrieben auf der »Wertachse«. Details zur Datenerhebung und zur Auswertung im Rahmen der qualitativ-ethnographischen Hermeneutik lassen sich dank der hohen Transparenz und Anschaulichkeit der Studie, die auch schon rein optisch zu erahnen sind (rund 700 Seiten bringen es auf knapp zwei Kilogramm), gut nachvollziehen.

Während Kinder noch aus ihrer Herkunftsfamilie heraus und damit über das Milieu der Eltern betrachtet werden müssen (von Sociovision als Pilotstudie angelegt), lässt sich bei den 14- bis 19-Jährigen zwar noch nicht von einer festen Milieuverortung, wohl aber von einer Milieuorientierung sprechen. Diese ist aufgrund der Sozialisationsphase in der Adoleszenz noch offener und weniger stark festgelegt. Eine Stabilisierung der Lebensumstände junger Erwachsener und der Übergang in die Postadoleszenz tragen dazu bei, dass sich hier ein eigenes, festes Milieu erkennen lässt. In der Studie werden die unterschiedlichen Milieus jeweils anhand von sogenannten lebensweltlichen Bausteinen systematisch beschrieben: Milieutendenz, spezifische Grundorientierung, Lebensstil, Musikvorlieben, Medianutzung, kulturelles Kapital, Vergemeinschaftung, Engagement, Religion und Kirche, Zukunftsvorstellungen und Sehnsüchte.

In der Alterskohorte der 14- bis 19-Jährigen wird zwischen sieben Milieus unterschieden: »Traditionelle«, »Bürgerliche«, »Konsum-Materialisten«, »Postmaterielle«, »Hedonisten«, »Moderne Performer« und »Experimentalisten«. Folglich »ticken« die Jugendlichen in den Milieus im Bezug auf die oben genannten lebensweltlichen Bausteine ganz unterschiedlich. Sie sind anders sozial engagiert, politisch orientiert, schulisch sozialisiert und religiös eingestellt. Dabei bilden sich ganz divergente und zum Teil gegensätzliche soziale Welten, aus denen heraus sich die Jugendlichen vehement voneinander abgrenzen (»Distinktionslinien«).

Jugendverbandsarbeit zwischen Tradition und Innovation
Für die katholische Jugendverbandsarbeit präsentiert die Studie wichtige Ergebnisse. Sie zeigt auf, welche Milieus derzeit durch die katholischen Jugendverbände im Wesentlichen erreicht werden, nämlich die »Bürgerliche Mitte« (Jugendliche 14%), die »Postmateriellen« (Jugendliche 6%) und die »Traditionellen« (Jugendliche 4%). Diese sind laut der Studie jene, die in den kommenden Jahren eine weitere Schrumpfung erfahren werden. Nur wenige Jugendliche aus dem beschriebenen Leitmilieu der zukünftigen Gesellschaft, dem »Modernen Performer«, finden Zugänge zur katholischen Jugendverbandsarbeit. Darüber hinaus gibt die Studie im Rahmen der Milieuanalyse auch wichtige Aufschlüsse darüber, wie Jugendliche der unterschiedlichen Milieus katholische Jugendverbände, aber auch Kirche grundsätzlich wahrnehmen, wie Religiosität und Spiritualität empfunden und ausgedrückt werden. Der BDKJ setzt sich intensiv mit den Ergebnissen auseinander. Im Rahmen des Dreischritts »Sehen, urteilen, handeln« sind die Jugendverbände auf Bundesebene wie auch in den einzelnen Diözesen mitten in einem Prozess, der sich den Herausforderungen der Studie stellt, zur Weiterentwicklung drängt und durch den »schärferen Blick«, den die »Milieu-Brille« ermöglicht, zu einer neuen Wahrnehmung bewegt.
Schon die Milieucharakteristika und -logiken lassen erahnen, dass eine Ansprache aller Milieus für die katholische Jugendverbandsarbeit nicht möglich wäre. Ähnlich dürfte es anderen Playern der Jugend(verbands)arbeit ergehen, die merken, dass sie eine Vielzahl der Jugendlichen nicht mehr erreichen. Hier bietet die Studie eine Fülle an Einblicken und Anregungen, wenn es darum geht, junge Menschen differenziert anzusprechen. Sie schärft den Blick anhand der Milieuanalysen, um den eigenen Verband oder die Institution selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen. So sind beispielsweise junge Menschen aus nahezu allen Milieus (die »Hedonisten« und »Konsum-Materialisten« nur sehr eingeschränkt) bereit, sich zu engagieren. Dennoch unterscheiden sie sich stark in Engagementmotivationen, -formen und -feldern: »Während die einen (›Postmateriellen‹) als Bedingung für ihr Engagement z. B. eine flache Hierarchie, hohe Partizipationschancen und eine durch und durch demokratische Kultur erwarten, wünschen die anderen (›Bürgerliche‹) ausdrücklich Harmonie, Geselligkeit und Dank und wieder andere (›Experimentalisten‹) neuartige, ungewöhnliche Erfahrungen sowie Erweiterung ihres Bekanntenkreises. Das neue Leitmilieu der ›Modernen Performer‹ erwartet insbesondere karrierenützliche Gegenleistungen und Handlungsspielräume, in denen sie ihre Kompetenzen erproben, darstellen und entfalten können.« (Michael Ebertz, 2008, siehe Literaturangaben). Differenziertes Hinsehen ist folglich unerlässlich: Eine Brille hat bisher den Wenigsten geschadet. Die »analytische Brille« der Sinus-Milieustudie trägt dazu bei, zu verstehen, wie junge Menschen heute »ticken«.

Weiterführende Literatur:
• Ebertz
, Michael N.: Resonanz und Distanz: Jugendliche und ihr Verhältnis zu Politik, Bildung, Freizeit und Religion. Einige Ergebnisse der neuen Sinus-Jugendstudie. 2008 (http://www.bdkj.de/fileadmin/user_upload/Sinus/Sinus-Studie_Ebertz.pdf)
Etscheid, Markus: Wie ticken Jugendliche? Die Sinus-Milieustudie U27. In: BDKJ-Journal (März/April 2008), hrsg. v. BDKJ-Bundesvorstand, Düsseldorf, S. 4 – 7
Schmitz, Alexandra: Milieus setzen Grenzen. Die Bedeutung der Sinus-Milieustudie für den Jugendverband. In: BDKJ-Journal (März/ April 2008), hrsg. v. BDKJ-Bundesvorstand, Düsseldorf, S. 12
Tänzler, Dirk: Die Zukunft mitgedacht. Die Sinus-Milieustudie U27 birgt überraschende Ergebnisse und große Chancen. In: BDKJ-Journal (März/April 2008), hrsg. v. BDKJ-Bundesvorstand, Düsseldorf, S. 8 – 9