Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3+4-2023, Rubrik Titelthema

Politik spielen(d) lernen

Mit Jugendparlamenten zu mehr Demokratie?

Von Frederik Schwieger, Leipzig

Jugendparlamente haben politisch Hochkonjunktur. Immer mehr Kommunen installieren sie in ihrem Wirkungsbereich, sie sind Teil der Jugendstrategie der Bundesregierung [1], werden im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung erwähnt und seit dem letzten Jahr gibt es jetzt auch eine »Akademie für Kinder- und Jugendparlamente« mit der Zielsetzung, »Jugendliche für Politik [zu] begeistern und die Akzeptanz unserer Demokratie [zu] stärken.« [2] Auch der Hauptausschuss des Deutschen Bundesjugendrings hat sich Anfang 2022 mit der beschlossenen Position »Jugendparlamente als ein Format der kommunalen Jugendbeteiligung« positiv auf diese Entwicklung bezogen. Insgesamt gibt es in Deutschland schon über 500 Kinder- und Jugendparlamente, und 2021 hat die damals amtierende Bundesjugendministerin Franziska Giffey das ehrgeizige Ziel proklamiert, ihre Zahl bis 2024 noch einmal zu verdoppeln. [3]

Dass Jugendparlamente gerade heute solch einen starken Auftrieb erfahren, hat allerdings weniger mit jungen Menschen und ihren Interessen und Zielen zu tun als vielmehr mit der Perspektive von Politik und Verwaltung auf diese Gesellschaft und der viel diskutierten »Krise der Demokratie«. Im Folgenden soll versucht werden, kritisch zu rekonstruieren, warum im Bereich der Jugendbeteiligung verstärkt auf Jugendparlamente gesetzt wird, welches Politik-Verständnis der Idee der »Junior-Parlamente« zugrunde liegt und welche Folgen das für die Interessenvertretung junger Menschen und ihre politische Bildung hat. Im Anschluss daran soll schließlich die Frage diskutiert werden, ob Jugendparlamente ein geeignetes Mittel sind, das demokratische System in Deutschland wieder auf breitere Schultern zu stellen oder ob sie zumindest im Jugendbereich für mehr Mitbestimmung sorgen können.

Zur »Krise der Demokratie«
Vielerorts und besonders im Osten Deutschlands gibt es eine geringe Wahlbeteiligung. Politikverdrossenheit und eine politische Repräsentationskrise werden seit Jahren auch anhand soziologischer Untersuchungen deutlich. So stimmte beispielsweise mehr als ein Viertel der Befragten (28,2%) der aktuellen Mitte-Studie der Aussage zu: »Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut.« [4] Die erlebte Trennung zwischen »uns« und »denen da oben« verleiht wiederum der AfD und anderen rechten Parteien Auftrieb, die sich als Anti-Establishment inszenieren.

Aus der Sicht von Politiker/inne/n demokratischer Parteien ist dieser Zustand nachvollziehbar besorgniserregend. Ein Mittel zu suchen, das bei jungen Menschen »die Akzeptanz der Demokratie« und der herrschenden Politik erhöht, scheint deshalb dringend angezeigt.

Kinder- und Jugendparlamente sind hier ein Mittel der Wahl [5], »denn sie bieten viele positive Lerngelegenheiten für die nachwachsende Generation und machen sie fit für eine vielfältiger gewordene Demokratie. Kinder- und Jugendparlamente tragen zur Stärkung kommunaler Demokratie bei« [6], so zumindest die Überzeugung ihrer Anhänger/innen.

»Früh übt sich« – Jugendparlamente als dankbare Sparringspartner der Politik
Wie der Name schon sagt, sind Jugendparlamente ein Parlament für junge Menschen. Sie sind ein auf unterschiedliche Weise in der kommunalen Selbstverwaltung institutionell verankertes Gremium [7], dass das Erwachsenenparlament beraten, Empfehlungen aussprechen und gegebenenfalls auch selbst Anträge an den Stadtrat einbringen darf. Zudem verfügen die meisten Jugendparlamente über ein kleines Budget, das sie selbst verwalten dürfen, oder über einige Projektgelder, die wiederum andere junge Menschen für die Umsetzung ihrer Ideen bei ihnen beantragen können. Ähnlich wie beim Erwachsenenparlament wird das Jugendparlament durch alle in einer Kommune wohnhaften jungen Menschen in einer bestimmten Alterspanne gewählt und jeder/jede aus der Kommune kann sich selbst als Kandidat/in aufstellen (lassen). Der große Unterschied zu den Erwachsenenparlamenten besteht darin, dass sich in Jugendparlamente Individuen wählen lassen und keine Parteien, sodass keine Meinungsbildung entlang eines gemeinsamen Programmes, gemeinsamer Werte oder einer gemeinsamen Satzung usw. von Interessengruppen stattfindet. Dazu heißt es im FAQ des Deutschen Kinderhilfswerkes, Jugendparlamente zeichneten sich durch Überparteilichkeit aus. [8] Zur Unterstützung wird den Jugendparlamenten meist ein Sozialpädagoge/eine Sozialpädagogin zur Seite gestellt, die sie beraten und zwischen den jungen Menschen, der Politik und der Verwaltung vermitteln soll. (Diese Person ist oft auch gleichzeitig durch die Kommune angestellt, was durchaus zu Interessenskonflikten führen kann.)

Die große Beliebtheit von Jugendparlamenten in Politik und Verwaltung rührt wohl daher, dass diese Form von Beteiligung junger Menschen ihnen besonders entspricht: Die Arbeitsstrukturen, also das Einbringen von Anträgen, das Warten auf Verwaltungsstandpunkte wie auch das Einhalten einer Beratungsreihenfolge sind den altbekannten Strukturen sehr ähnlich. Dementsprechend versammelt sich in den Jugendparlamenten auch ein sehr ähnliches Milieu mit ähnlichen Interessen. Wer sich hier beteiligt, braucht einiges an Sitzfleisch, Zeit und vor allem eine Affinität zur zähflüssigen Arbeit mit Anträgen und Vorlagen. Notwendig vorausgesetzt ist dabei jedoch auch eine Akzeptanz der Schwächen der parlamentarischen Demokratie. Wer konkrete und schnelle Auswirkungen erwartet oder gerne grundlegende gesellschaftspolitische Fragen behandeln möchte, ist hier fehl am Platz. Einlassen müssen sich die jungen Parlamentarier/innen stattdessen auf viele Schleifen, bis überhaupt etwas beschlossen wird, sowie Ergebnisse, die unter Umständen erst nach Jahren Auswirkungen zeigen, außerdem die Ausblendung einer Menge an relevanten Themen und Fragestellungen, die erst gar nicht zur Verhandlung stehen. [9] Wem das nicht passt, der/die kandidiert erst gar nicht bzw. kommt irgendwann nicht mehr zu den Sitzungen und scheidet gelangweilt, entnervt oder enttäuscht aus dem Gremium aus.

Im Vergleich zu Jugendlichen aus einem Jugendclub oder jungen Menschen in sozialen Bewegungen stellen Jugendparlamentarier/innen für Politiker/innen dankbare Sparringspartner dar, denn sie formulieren keine »unrealistischen« Forderungen oder äußern gar in radikaler Form Protest. Sie sind bereit, sich im beschriebenen vorprogrammierten Rahmen – mit aller seiner Begrenztheit durch bestehende kommunalrechtliche Eigenlogiken – zu beteiligen und dieses enge Korsett dabei selten zu hinterfragen. Als »Expertinnen und Experten in eigener Sache« sollen sie sich bei kommunalen Themen einbringen, wie z.B. dem Bau eines Skateparks, der Schaffung eines Jugendclubs, der Gestaltung des öffentlichen Nahverkehrs oder der Stadtplanung. [10] Dabei agieren sie vorgeblich nicht aus parteipolitischer Perspektive, sondern als die »Sprecher/innen der Jugend«. Dass dabei aufgrund ihrer abstrakten Zugehörigkeit zur »Jugend« auch Jugendparlamentarier/innen, die noch nie auf einem Skateboard standen oder noch nie einen Jugendclub besucht haben, »Expert/innen in eigener Sache« bei diesen Themen sein sollen, wird dabei nicht infrage gestellt.

Politik und Verwaltung ist eine derartige »Pseudo-Interessenvertretung« unter Umständen ganz willkommen: Über das Jugendparlament werden junge Menschen an politischen Entscheidungen beteiligt, ohne dass man sich der Gefahr aussetzt, die eigenen Vorhaben noch einmal grundsätzlich infrage gestellt zu sehen. Dem ohnehin geplanten Vollzug von Vorhaben wird kaum Einhalt geboten, sondern es gewinnt an Legitimität, indem junge Menschen innerhalb des gesetzten Rahmens konstruktiv mitwirken. »Junge Menschen wissen, was vor Ort los ist« [11], das wird hier quasi zur Ideologie und ignoriert, dass es die jungen Menschen nicht gibt, dass Interessen, Themen, Wünsche und Probleme junger Menschen, wie auch bei Erwachsenen, divers sind und sich milieu- und klassenspezifisch ausdifferenzieren. Im Jugendparlament findet sich diese Ausdifferenzierung keineswegs politisch repräsentiert, denn ähnlich wie in seiner erwachsenen Entsprechung versammelt sich hier vor allem das gebildete Bürgertum. So stellen verschiedene Engagementstudien immer wieder fest, dass die Unterschiede in der politischen Beteiligung in den letzten Jahren sogar zugenommen haben. Laut dem fünften Deutschen Freiwilligensurvey engagieren sich allgemein Menschen mit hoher Schulbildung ungefähr doppelt so häufig [12], eine Studie der Friedrich Ebert Stiftung zu politisch-gesellschaftlichen Teilnahme junger Menschen kommt gleichzeitig zu dem Ergebnis, dass »bei Jugendlichen mit einer niedrigeren Bildung […] die Chance für eine politisch-gesellschaftliche Teilnahme im weiteren Sinne um 38% niedriger [ist] als für Jugendliche mit einer höheren Bildung«. [13] Darüber hinaus sind sehr viele Städte auch viel zu groß, als dass die jungen Menschen unmittelbar wissen könnten, was in jedem Kiez, Stadt- und Ortsteil »vor Ort los ist«. Diese Form der Mitgestaltung in der Kommune ist so am Ende nur für eine bestimmte, sehr kleine Gruppe junger Menschen überhaupt interessant: Es handelt sich um diejenigen, die im Regelfall einem bildungsbürgerlichen Haushalt entstammen und das Abitur anstreben, Menschen, die im Normalfall nicht von Armut, Marginalisierung oder Verdrängung betroffen sind. Die Probleme solcher Jugendlichen ließen sich real leider auch nicht im Rahmen eines Jugendparlamentes verhandeln, da sie auf gesellschaftliche Probleme verweisen, die weit über den Handlungsspielraum eines Jugendparlamentes hinausgehen. Stattdessen beteiligt man alibimäßig junge Menschen, die bereit sind, in stundenlangen Sitzungen über Vorlagen und Themen zu sprechen und zu beraten, die sie konkret fast nie betreffen.

Sozialpädagog/inn/en übersehen häufig diese politischen Dimensionen und die von oben gesetzten Zwecke von Jugendparlamenten und fassen sie stattdessen – aus Perspektive der Beteiligten – als pädagogische Methode auf oder sehen in ihnen ein (politisches) Experimentierfeld für junge Menschen. Für sie beweist sich das Gelingen von Jugendparlamenten schon dadurch, dass junge Menschen dieses Format dauerhaft annehmen und »mit Leben füllen«. Dabei kann doch eigentlich nicht der Spaß der Beteiligten der Maßstab sein, sondern müsste sich das Format an realer Machtverschiebung, echter Teilhabe und konkreten Ergebnissen messen.

Die Folgen jugendparlamentarischer Beteiligung für die Interessenvertretung junger Menschen und ihre politische Bildung
Jugendparlamente verändern für junge Menschen, wie beschrieben, grundsätzlich erst einmal wenig, prägen jedoch zunehmend ihr Bild gegenüber kommunaler Politik und Verwaltung. Das ist durchaus gefährlich: Die Aufmerksamkeit von Kommunalpolitik ist begrenzt und es ist immer einfacher, Jugendparlamentarier/innen zu befragen, als die Meinungen von Jugendclub-Besucher/innen oder irgendwelchen diffusen Jugendszenen und -cliquen zu evaluieren. Gleichzeitig sind die neuen Parlamente auch eine Herausforderung für Jugendringe und andere etablierte Interessensvertretungsstrukturen, deren Stellenwert durch diese vermeintlich authentische Konkurrenz sicherlich nicht steigt. Dabei werden durch sie tatsächlich vielfältige jugendliche Lebensrealitäten repräsentiert, weil sich z.B. in Jugendverbänden auch junge Menschen zusammenfinden, die nicht ausschließlich dem bildungsbürgerlichen Milieu entstammen.

Deshalb ist die Diskussion um die Repräsentativität von Jugendparlamenten eben auch keine rein wissenschaftliche, sondern eine mit durchaus politischer Tragweite: Jugendparlamente befördern eine Form der Jugendbeteiligung, in der nur noch ein bestimmtes – für die Politik spiegelbildliches – Milieu, ein bestimmter Schlag junger Menschen repräsentiert ist. Dieser Umstand ist für das Agieren der Jugendparlamentarier/innen bestimmend, wird aber von beiden Seiten – also von der Politik und den Sozialarbeiter/innen auf der einen, wie den jungen Menschen auf der anderen Seite – meist überhaupt nicht reflektiert: Geschmeichelt von der Kommunalpolitik nehmen die jungen Parlamentarier/innen gerne die ihnen zugewiesene Rolle als Sprecher/innen der Jugend an. Nüchtern betrachtet müsste jedoch konstatiert werden: Wenn diese Jugendlichen vermehrt zum Sprachrohr der gesamten Jugend werden, fällt ein großer Teil der jungen Menschen unter den Tisch: Jugendliche, die nicht willens oder in der Lage sind, ihre Interessen auf eine dem Jugendparlament angemessene Weise zu artikulieren, die sich woanders organisieren und einbringen oder deren Forderungen und Themen gar nicht verhandelt werden. »Tendenziell nutzen höher Gebildete auch alle Angebote der politischen Mitwirkung häufiger. Jede zusätzliche Beteiligungsmöglichkeit verstärkt daher die Ungleichheit der politischen Beteiligung.« [14] Damit sind Jugendparlamente natürlich nicht allein. Hier spiegelt sich ein gesamtgesellschaftliches Phänomen: »Der Ausschluss der einfachen Menschen, der Anteillosen, wird durch denjenigen Teil des Bürgertums, der mehr Demokratie proklamiert, überhaupt nicht reflektiert.« [15]

Vielerorts werden Jugendparlamente auch als Form der politischen Bildung angesehen. »Demokratie [wird hier] nicht nur theoretisch vermittelt, sondern direkt erlebbar und damit ein Raum für Demokratiebildung geschaffen,« [16] heißt es in einer solchen Verlautbarung. Dabei legt sie die Vorstellung junger Menschen davon, was es heißt, Politik zu machen, auf die Arbeit in Ausschüssen und Parlamenten fest und unterläuft so jede Idee davon, politische Arbeit anders zu verstehen und zu gestalten. Natürlich ist das Wissen über Parlamente, Gremien, Vorlagen und Anträge auch Teil politischer Bildung, aber in der Eigenlogik eines Jugendparlaments bleibt die Auseinandersetzung mit den Inhalten notwendig oberflächlich.

Ein Beispiel der Auseinandersetzung mit Leipziger Lokalgeschichte soll das zeigen: Die ehemalige Baumwollspinnerei in Plagwitz ist heute ein beliebter Ort für Kunst und Kultur in der Stadt. Ihre Geschichte, die sich von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die Zeit der DDR bis ins Heute erstreckt, spielt dabei bisher jedoch eine untergeordnete Rolle. Das wollten die Jugendparlamentarier/innen ändern. Wer jetzt denkt, dass die jungen Menschen zu diesem Zweck eine Geschichtswerkstatt gegründet, sich durch Archivmaterialien gegraben oder Fragen historischer Vermittlungsarbeit diskutiert haben, liegt allerdings falsch. In einem Antrag »Erbe der Spinnerei aufdecken« [17] wendeten sie sich an die Stadtverwaltung. Sie wünschten sich von dieser eine Auseinandersetzung mit der Ortsgeschichte, bei der u.a. Aspekte wie das koloniale Erbe, Zwangsarbeit, unwürdige Arbeitsbedingungen während der Zeit der sowjetischen Besatzung und die Situation von Vertragsarbeiter/innen in der DDR eine Rolle spielen sollten. Mit nur einer Rückfrage durch die begleitende Sozialarbeiterin wurde der Antrag einstimmig im Jugendparlament beschlossen und ging damit ins offizielle Verwaltungsverfahren der Stadt. Die Verwaltung schreibt nun einen Verwaltungsstandpunkt dazu, am Ende beschließt der Stadtrat den Antrag und beauftragt so, ganz wie von den Jugendlichen gewünscht, die Verwaltung damit, eine gründliche Geschichtsaufarbeitung zu erwirken.

Das Beispiel zeigt in verschiedener Hinsicht die Schwachstellen von Jugendparlamenten als vermeintlichen Orten von politischer Bildung auf:

Welche Fragen die Jugendlichen beispielsweise persönlich an das Erbe der Spinnerei »in vier verschiedenen Nationalstaaten« haben, was das Ziel der historischen Aufarbeitung und die Konsequenzen für heutiges Tun und Handeln sein könnten, erfährt man durch den Antrag nicht. Der Anlass der Antragsstellung lässt sich erahnen: Für die Jugendparlamentarier/innen scheint es heutzutage zum guten Ton zu gehören, dass eine moderne Kommune eine gründliche Geschichtsaufarbeitung vorweisen kann. Deshalb soll die Stadtverwaltung tätig werden, denn »Kunst und Kultur ohne Reflektion der Geschichte des Ortes, wo sie stattfindet, schadet der Bedeutung der Kunst und Kultur.« [18]

Eine eigene inhaltliche Beschäftigung mit den genannten Themen geht damit nicht einher. Bei der Dichte an Themen, mit denen sich die jungen Menschen in ihrer Arbeit als Parlamentarier/innen auseinandersetzen müssen, ist das im Grunde auch unmöglich: Neben dem Antrag zum Erbe der Baumwollspinnerei wurden in derselben Sitzung innerhalb einer Stunde noch sieben weitere Tagesordnungspunkte – davon vier inhaltliche Anträge – behandelt. Schon diese Vielfalt der Themen, aber auch die Struktur der Sitzungen verstellen den Beteiligten jede Gelegenheit für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit einzelnen Gegenständen. Wirkliche Bildungsprozesse in Bezug auf politisch-gesellschaftliche Themen werden dadurch jedenfalls kaum angestoßen. Die meisten gesellschaftspolitischen Fragen lassen sich nämlich nicht durch ein einfaches und erprobtes Prozedere im Sinne von: Antrag schreiben, Verwaltungsstandpunkt abwarten, Antrag beschließen und Verwaltung beauftragen lösen. In Gremiensitzungen lernt man viel mehr als über die Gesellschaft etwas über die Logik von Gremien, was einem darüber hinaus dann wieder hauptsächlich dabei hilft, sich in diesen politisch zu betätigen und nicht anderswo. Für Bildungsprozesse hingegen braucht es zunächst einmal ein tatsächliches Interesse an einer Sache, d.h. einen Anlass zur eigenen Auseinandersetzung damit. Dann erfordert es Zeit, Muße und tiefergehende Diskussionen, diese Sache zu durchdringen, um sich ein Urteil darüber bilden zu können. Sind diese Voraussetzungen korrumpiert, weil das Ergebnis eigentlich gewissermaßen schon feststeht, wird das Sprechen über »politische Bildung« zur Augenwischerei. Bildung setzt eine Erfahrung an der Welt voraus, der sich junge Menschen stellen. Wenn der Gegenstand der Auseinandersetzung jedoch nur in Form klassischer parlamentarischer Prozedere bearbeitet werden kann, determiniert bzw. verunmöglicht das auch jeden Bildungsprozess, dessen Ergebnis auch die Entscheidung für eine grundsätzlich andere Form der Herangehensweise oder Bearbeitung sein könnte.

Mit Jugendparlamenten geht jedoch nicht nur eine Reduktion von Bildung auf das Handeln innerhalb von parlamentarischen Gepflogenheiten, sondern auch eine Entpolitisierung von Politik einher. Die Jugendparlamente sollen überparteilich sein, dabei spiegeln sich gerade in der Parteilichkeit von Gruppen ihre gesellschaftlichen Interessen und die sich daraus ergebenden Konflikte. Gesellschaft erscheint in Jugendparlamenten so aber eben nicht als widersprüchlich und von verschiedenen Interessensgruppen und harten Kämpfen um die eigenen Teilhabemöglichkeiten geprägt, sondern ihre Gegensätze werden überdeckt. Die Ideologie des Individualismus prägt die Konstitution der »Junior-Parlamente« noch viel stärker als ihre erwachsenen Entsprechungen, in denen Parteizugehörigkeiten zwar auch an der einen oder anderen Stelle beliebig sind, in denen jedoch grundsätzlich gesellschaftliche Interessengruppen vertreten sind. Konflikte werden auf diese Weise ihrer gesellschaftlichen Dimension beraubt und auf Geschmacksfragen reduziert. Daraus folgt auch, dass im Bereich der Jugendbeteiligung oft der Anschein erweckt wird, mit der richtigen Moderation und Methodik ließe sich jeder Konflikt im vorgegebenen Rahmen beseitigen. Diese Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Konfliktlinien, die tatsächlich vor allem durch materielle Teilhabe bestimmt werden, ist Ausdruck und Abbild einer mittelstandsgeprägten Wohlfühlgesellschaft, deren einziger Anspruch es ist, die Fassade des von tiefgehender Ungerechtigkeit geprägten Hauses etwas schöner anzumalen.

Mit Jugendparlamenten zu mehr Demokratie?
Trotz dieser Beschränktheit jugendparlamentarischer Arbeit versprechen sich Politik und Verwaltung, Kinder und Jugendliche nun noch besser zu beteiligen. Doch ist dieses »Mehr« an Beteiligung faktisch nur ein »Mehr« am ohnehin schon wenigen Gestaltbaren. Damit passen Jugendparlamente gut in eine Zeit, in der auch Politik oft faktisch wenig entscheiden und gestalten kann – weil Sachzwänge walten, kein Geld da ist, Prozesse sehr komplex und langwierig sind und wirkliche Veränderungen schon gänzlich außerhalb des Möglichkeitsraumes erscheinen. So kann zwar noch demokratisch ausgehandelt werden, wo der nächste Skatepark gebaut wird (und das auch nur, wenn die Kommune nicht schon in schlechten Zeiten die letzten dafür möglichen Flächen an Privatinvestoren verkauft hat), aber nicht, wie sich die Innenstädte entwickeln, wie den überall steigenden Mieten oder gar wie der Klimakatastrophe wirksam zu begegnen ist. Durch Jugend- und Bürgerbeteiligung soll das wenige Gestaltbare wieder eine stärkere gesellschaftliche Legitimation gewinnen und damit die Beteiligten einhegen in die bestehende Herrschaftsform. Die Idee ist simpel: Scheinbare Sachzwänge, die sich unter einer breiteren Beteiligung durchsetzen, haben eine größere Legitimation und können kommunikativ besser vertreten werden als »von oben« durchgesetzte. Dabei geht es allerdings nie um grundsätzliche gesellschaftliche Fragestellungen, sondern darum, einen zuvor von anderen definierten Rahmen partizipativ auszugestalten.

Jugendparlamente sollen das Desinteresse der Jugend an Politik und demokratischer Mitgestaltung mit einer Methode bekämpfen, die gesamtgesellschaftlich die Ursache für einen guten Teil des Desinteresses sind: nämlich wie Politik-Machen im parlamentarischen Prozedere funktioniert und wie begrenzt die realen Gestaltungsmöglichkeiten sind:

»Die Analyse der spontanen Assoziationen und die Auswertung der angefertigten Bildcollagen [junger Menschen] zum Thema ›Politik‹ zeigen – quer durch die Lebenswelten – eine düstere Grundanmutung, die mit dunklen Farben (schwarz, grau), mit dem Fehlen von Buntheit und Lebendigkeit, mit Monotonie, Steifheit, Leblosigkeit und Langeweile verknüpft ist.« [19]

Ein Bild von Politik, das viele jugendparlamentarische Sitzungen wohl noch weiter bestätigen werden. Die gleiche Studie (Sinus-Jugendstudie) stellt Jugendlichen weiterhin die hypothetische Frage, wofür sie sich, wenn sie es denn täten, politisch engagieren würden. Die Antworten darauf zeigen ein breites Spektrum an Themen und Verbesserungswünschen auf und reichen von der Bekämpfung des Hungers in der Welt über den zukunftsfähigen Umbau des deutschen Schulsystems, Klimaschutz und Klimawandel, Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit, Hilfe für Benachteiligte bis zur Gleichberechtigung und Gleichstellung. [20] Doch auch bei bestem Willen aller Beteiligten in der Kommune ließe sich kaum eins dieser Themen wirkungsvoll innerhalb des Rahmens eines Jugendparlamentes bearbeiten bzw. lösen, was ja eventuell dazu motivieren könnte, die Steifheit und Monotonie des politischen Geschäfts auf sich zu nehmen.

Ein echtes »Mehr an Demokratie« schafft man durch diese oberflächlichen Schönheitskorrekturen keineswegs. Jugendparlamente sind keine adäquate Antwort auf die Krise der Demokratie, weil sie von Mitbestimmung nur ein sehr beschränktes Verständnis vermitteln. Jugendparlamente sind stattdessen Teil einer »Zweidritteldemokratie, in der die gebildeten Mittelschichten für sich selbst weitere Beteiligungsmöglichkeiten suchen, die allerding meist untauglich sind, die unteren Schichten in die Politik zurückzuholen.« [21] Bestimmende Elemente für demokratische Aushandlungsprozesse werden durch ihre individualistische Organisationsform darüber hinaus einfach verdeckt. Sie erreichen nur diejenigen Jugendlichen, die von Bildungsinstitutionen ohnehin leicht erreicht werden. Mit Blick auf die zahlreichen gesellschaftlichen Herausforderungen braucht es keineswegs eine weitere Spiel- und Erprobungswiese für den Politiker/innennachwuchs. Für Jugendliche, die sich für die etablierten Formen parlamentarischer Politik interessieren, gibt es bereits die Jugendorganisationen von Parteien. Alle, die unter politischer Arbeit oder gesellschaftlichem Engagement etwas anderes verstehen, organisieren sich ohnehin in sozialen Bewegungen oder Jugendverbänden als Interessenvertretungen junger Menschen. Jugendparlamente beheben nicht das Beteiligungsdefizit der parlamentarischen Demokratie. Sie spielen die Erwachsenenparlamente nach, nur mit noch weniger Macht und Wirksamkeit.

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Literatur

ADB e.V. (2021): Akademie für Kinder- und Jugendparlamente. www.adb.de/projekte/akademie-fuer-kinder-und-

jugendparlamente (abgerufen am 01.07.2022)

BMFSFJ (2021) Akademie für Kinder und Jugendparlamente - Kinder- und Jugendparlamente stärken und sichtbarer machen URL: www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/kinder-und-jugend

parlamente-staerken-und-sichtbarer-machen-178112 (01.07.2022)

Bürgin, J. (2021) Interview Deutungshoheiten in der politischen (Demokratie-)Bildung - Wie geht gute politische Bildung? URL: profession-politischebildung.de/grundlagen/deutungs
hoheiten/ (03.05.2022)

Calmbach, M./Flaig, B./Edwards, J./Möller-Slawinski, H./Borchard, I., Schleer, C. (2020): Sinus Jugendstudie 2020: Wie ticken Jugendliche, Bonn

Deutsches Kinderhilfswerk e. V. (Hrsg.) (2020): Starke Kinder- und Jugendparlamente. URL: www.kinderrechte.de/fileadmin/Redaktion-Kinderrechte/3_Beteiligung/3.0_Starke_Kinder-und_
Jugendparlamente/Broschuere_Starke_Kinder-und_Jugendparlamente.pdf (03.5.2022).

Deutsches Kinderhilfswerk e.V (2022).: FAQ - die meistgestellten Fragen über Kinder- und Jugendparlamente URL: www.kinderrechte.de/beteiligung/starke-kinder-und-jugendparlamente/faq/ (3.5.2022).

Jugendparlament Leipzig (2022): Erbe der Spinnerei aufdecken. ratsinformation.leipzig.de/allris_leipzig_public/vo020 (abgerufen am 01.07.2022)

Simonson, J./Kelle, N./; Kausmann, C./Karnick, N./Arriagada, C./; Hagen, C. et al. (Hrsg.) (2021): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zentrale Ergebnisse des Fünften Deutschen Freiwilligensurveys (FWS 2019). Deutschland. Stand: März 2021. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

FES e.V. (2016): FES-Studie zur politisch-gesellschaftlichen Teilnahme Jugendlicher Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse. URL: www.fes.de/index.php (3.5.2022).

Gille, M. (2018): Jugend und Politik – ein schwieriges Verhältnis. URL: www.dji.de/themen/jugend/jugend-und-politik.html

Merkel. W. (2016): Krise der Demokratie Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff In: bpb (Hrsg.) Aus Politik und Zeitgeschichte - Repräsentation in der Krise?, Bonn.

Zick, A./Küpper, B. (Hrsg.) (2021): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, Bonn

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Endnoten

1 Im Rahmen der Initiative »Starke Kinder- und Jugendparlamente«.

2 ADB 2021

3 BMFSFJ 2021

4 Zick, Küpper 2021, S. 49.

5 Bürgerbeteiligungsformate und Demokratieprojekte sind beispielsweise weitere Mittel der Wahl, mit denen der Repräsentationskrise begegnet und allgemein das Image der Demokratie aufgebessert werden soll.

6 Deutsches Kinderhilfswerk 2020, S. 7.

7 In den meisten Fällen über einen Ratsbeschluss oder durch eine Verankerung in der Hauptsatzung der Kommune.

8 Deutsches Kinderhilfswerk 2022

9 Über die Entwicklung und Gestaltung von Innenstädten entscheiden beispielsweise Investor*innen und nicht Parlamentarier*innen oder Bürger*innen.

10 Vgl.: BMFSFJ 2021

11 BMFSFJ 2021

12 vgl. Simonson,, Kelle, Kausmann, Karnick, Arriagada, Hagen 2021

13 FES 2016 , S.3

14 Gille 2018

15 Bürgin 2021

16 ADB 2021

17 Jugendparlament Leipzig 2022

18 Jugendparlament Leipzig 2022

19 Sinus Jugendstudie 2020, S. 474.

20 vgl. Sinus Jugendstudie 2020, S. 452.

21 Merkel 2016, S. 11.

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* Der Aufsatz wurde zuerst publiziert in: deutsche jugend, 7-8/2023, Beltz Juventa, Weinheim, S. 319 ff.