Von Christian Lüders, München
Am 14. November 2022 wurden im Rahmen der Auftaktveranstaltung zum Nationalen Aktionsplan Kinder- und Jugendbeteiligung die neuen »Qualitätsstandards Kinder- und Jugendbeteiligung« (BMFSFJ/DBJR 2022) [1] von der Bundesministerin Lisa Paus vorgestellt. Die neuen Qualitätsstandards knüpfen an die »Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen« aus dem Jahr 2009 an (vgl. BMFSFJ 2015). Während damals die Handlungsfelder Kindertageseinrichtungen, Schule, Kommune, Kinder- und Jugendarbeit und Erzieherische Hilfen in den Blick genommen wurden, wurden in den neuen »Qualitätsstandards Kinder- und Jugendbeteiligung« die Handlungsfelder erstens erkennbar erweitert und ausdifferenziert, was vor allem in Bezug auf die Kinder- und Jugendarbeit dazu führte, dass es nun sieben Abschnitte zu den Bereichen offene Kinder- und Jugendarbeit, Kinder- und Jugendverbände, Kinder- und Jugendarbeit im Sport, kulturelle Kinder- und Jugendbildung, außerschulische politische Jugendbildung, internationale Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit gibt. Und zweitens stand noch deutlicher als in der Vorgängerbroschüre das Interesse im Mittelpunkt, tatsächlich allgemeine und handlungsfeldspezifische Standards der Beteiligung junger Menschen vorzulegen.
Die hierarchischen Stufenmodelle
Neu gefasst wurde auch der konzeptionelle Rahmen. In der Broschüre von 2015 wurde ein dreistufiges Konzept von Beteiligung mit den Ebenen »Mitsprache und Mitwirkung«, »Mitbestimmung« und »Selbstbestimmung« (BMFSFJ 2015, S. 8) zugrunde gelegt. Im Kern stellt dieses Konzept eine vereinfachte Version der zahlreichen Stufen- bzw. Treppen-, Leiter- oder Pyramidenkonzepte zur Beteiligung dar (vgl. Abeling u. a. 2003, vor allem S. 262ff.; Straßburger/Rieger 2019, z. B. auch punktum 4/09, S. 9). Diese Treppen-, Leiter- und Pyramidenkonzepte haben den großen Vorteil, dass sie Formen der Beteiligung intern unterscheiden und dabei Kriterien liefern, um »echte«, »tatsächliche« Beteiligung – auch im Sinne der Umverteilung von Entscheidungsmacht – von Schein-, Quasi- oder Alibibeteiligung abzuheben. Es geht also um die Klassifizierung von Formaten von Beteiligung unter dem Vorzeichen der Einflussnahme durch junge Menschen. Die entsprechenden Modelle sind intuitiv nachvollziehbar – auch wenn man im Detail über einzelne Begriffe diskutieren mag – und sie helfen, Beteiligungsformen hinsichtlich ihres Grades an Mit- bzw. Selbstbestimmung zu sortieren.
Zugleich resultiert aus dieser Stärke ein entscheidender Schwachpunkt. Denn diese Modelle stehen nicht um luftleeren Raum, sondern in einem hochgradig normativen Kontext. Im Hintergrund stehen dabei nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention und eine Fülle von gesetzlichen Vorgaben, die die Beteiligung junger Menschen fordern, sondern auch demokratietheoretische Begründungen. Auf der oben erwähnten Auftaktveranstaltung zur Erstellung des Nationalen Aktionsplanes für Kinder- und Jugendbeteiligung hat z. B. die Bundesministerin Lisa Paus deshalb erneut und zu Recht darauf gewiesen, dass junge Menschen »ein Recht darauf [haben], dass wir ihre Stimme hören und dass sie an den sie betreffenden Belangen beteiligt werden.« [2] Will man dieses Recht aber ernst nehmen, muss es – soweit als möglich – um Beteiligung im Sinne der Mitwirkung und der Umverteilung von Macht gehen und nicht um z. B. wie auch immer geartete Formen unverbindlicher Einholung von Meinungen. Die Norm führt also dazu, dass man unterscheiden muss zwischen erstrebenswerten Formen von Beteiligung einerseits und solchen, die abzulehnen sind wie z. B. Desinformation, Fremdbestimmung, Instrumentalisierung oder Manipulation, um nur ein paar der untersten Stufen zu nennen, andererseits. Und dazwischen gibt es noch ein paar ambivalente Formate. Genau diese Ordnung spiegeln die Leiter-, Treppen- und Pyramidenkonzepte von Beteiligung wider. Schon die aufsteigende Anordnung erzeugt ihre eigene Offensichtlichkeit: Gut ist, was oben auf der obersten Stufe, an der Spitze der Leiter, Treppe oder Pyramide steht, weniger gut bis vermeidungswürdig ist, was weiter unten und erst recht am Fuße der Leiter, der Treppe oder der Pyramide zu finden ist.
Nun muss man nicht ernsthaft darüber diskutieren, dass Desinformation, Fremdbestimmung, Instrumentalisierung oder Manipulation in keinem Fall Formen der Beteiligung sind. Heikler wird es allerdings fast immer z. B. bei den Formaten Information und Konsultation bzw. Beratung, die üblicherweise irgendwo auf halber Strecke auf den Stufenmodellen angesiedelt sind. Denn es liegt in der Logik der aufsteigenden Stufen, dass diese schnell mal unter das Verdikt der Quasi-Beteiligung fallen. Selbstverständlich ist damit eine Abwertung als nicht ernsthafte Form der Beteiligung verbunden, die genau genommen – gemessen an den eigentlichen Ansprüchen – unzureichend ist. Zugleich wird man wohl eingestehen müssen, dass jede Form von Beteiligung auf Information angewiesen ist (vgl. als ein kleines Beispiel Pluto 2022, S. 76). M.a.W.: Die hierarchischen Modelle von Beteiligung laufen Gefahr, dass alle Formate unterhalb der obersten Ebene als ungenügende bzw. defizitäre Vorformen und Vorstufen gewertet werden. Das macht niemandem Spaß – vor allem dann nicht, wenn in der Realität die »obersten« – wenn man in der Metaphorik der Stufenmodelle verbleiben möchte –, reinen Formen echter Beteiligung Kindern und Jugendlichen aus welchen Gründen auch immer versperrt sind, sodass man sich also fast unvermeidlich auf niedrigeren Stufen bewegen muss. Zudem neigen die Modelle dazu, wichtige Momente und Schritte von Beteiligung als unzureichend abzuwerten.
Alternative Modelle
Genau diese Schwachstellen hat Liane Pluto im Blick, wenn sie darauf hinweist, dass die Antwort auf die Frage, »welche Handlungen, welches Verhalten oder welche Strukturen als partizipativ gelten, […] jedoch immer auch von der Bewertung der jeweiligen Situation [abhängt], davon, wer sie vornimmt und welche Interessen damit verknüpft sind« (Pluto 2022, S. 75). Sie vertritt deshalb ein Kreiskonzept – L. Pluto spricht vom Partizipationskreis und verzichtet damit auf Hierarchie – mit den Elementen Mitdenken, Mitreden, Mitplanen, Mitentscheiden, Mitgestalten und Mitverantworten (Pluto 2022, S. 75; vgl. auch Pluto 2007, S. 53).
Ähnliche Überlegungen waren auch bei der Erarbeitung der neuen Qualitätsstandards für Beteiligung leitend. Auch dort wird zunächst betont, wie wichtig die Unterscheidung unterschiedlicher Formen der Beteiligung ist. Zugleich werden drei Einwände formuliert:
• Argumentiert wird erstens, dass die hierarchischen Konzepte im Kern »nur bestimmte Formen von Beteiligung [anerkennen], nämlich jene mit einem hohen Grad an Selbstbestimmung und Einfluss […]. Sie zielen ab auf ein bestimmtes, gut begründbares demokratisches Ideal, laufen aber Gefahr, alle anderen Formen von Beteiligung zu desavouieren, selbst dort, wo sie es möglicherweise nicht beabsichtigen. Dass aber die scheinbar »niedrigen« Stufen oftmals wichtige Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten in Sachen Beteiligung darstellen, gerät damit aus dem Blick.« (BMFSFJ/DBJR 2022, S. 20).
• Die Stufenmodelle seien zweitens »meist insofern einfach gestrickt, als sie nur eine Dimension, nämlich die Frage der Teilung der Macht und der Einflussmöglichkeiten in den Blick nehmen. Andere wichtige, für Beteiligung zentrale Aspekte bleiben unberücksichtigt« (BMFSFJ/DBJR 2022, S. 20). Dazu gehören beispielsweise die institutionellen Kontexte und die dort jeweils verfügbaren Gestaltungsspielräume und die Voraussetzungen aufseiten der jungen Menschen. Die Heterogenität dieser Aspekte macht es notwendig, auch unter diesen Perspektiven Beteiligungsformate zu unterscheiden.
• Drittens wird darauf hingewiesen, dass »in der Diskussion um Beteiligung [allzu gerne] vergessen [werde], dass diese nicht nur ein Recht und eine wesentliche Voraussetzung für Demokratie und pädagogische Praxis darstellt, sondern dass sie wie alle anderen Praxen erlernt und eingeübt werden muss. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Beteiligung und sind Expert*innen in eigener Sache. Zugleich ist gerade unter Qualitätsperspektiven mitzudenken, dass Beteiligung alters- und kompetenzangemessene Settings, ggf. auch Begleitung und Unterstützung erfordert, damit nicht nur Überforderung und Enttäuschung vermieden werden, sondern damit aus den Erfahrungen auch gelernt werden kann« (BMFSFJ/DBJR 2022, S. 21). Formate, die in den hierarchisch angelegten Stufenkonzepten als unzureichende Vorformen von Beteiligung bewertet werden, können unter dieser Perspektive als wichtige Erfahrungsorte und Voraussetzungen, um Beteiligung zu erfahren, zu lernen und einzuüben, genutzt werden.
Ausdrücklich, so wird in der Broschüre betont, sei »dies kein Plädoyer für die verschiedenen Varianten von Scheinbeteiligung. Doch zugleich kommt man, wenn es um die Qualität von Beteiligung geht, nicht darum herum, sich mit den jeweiligen Kontexten, Adressat*innen, den Methoden, Inhalten und Themen u. a. genauer zu befassen – auch um zu verstehen, wie diese Aspekte in konkreten Beteiligungskonstellationen ineinandergreifen. Was benötigt wird, sind also differenziertere Konzepte zur Beschreibung, Analyse und Sortierung unterschiedlicher Formen von Beteiligung von Kindern und Jugendlichen« (BMFSFJ/DBJR 2022, S. 21).
Als ein in dieser Richtung hilfreiches Konzept greifen die neuen Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung auf das Modell des Würfels mit seinen sechs Seiten zurück (BMFSFJ/DBJR 2022, S. 23ff.). Angeregt durch die Arbeiten des Lüneburger Teams um Waldemar Stange und motiviert durch intensive Diskussionen mit ihm wurden die sechs Seiten des Würfels inhaltlich wie folgt gefüllt: Beteiligte Kinder und Jugendliche, Themen und Inhalte der Beteiligung, Methoden der Beteiligung, institutionellen Kontexte, Grade der Autonomie sowie Formen der strukturellen Verankerung. Schon die Stichworte (ausführlich vgl. BMFSFJ/DBJR 2022, S. 21ff.) indizieren, dass damit ein wesentlich komplexeres Modell der Sortierung von Beteiligungsformaten ausgespannt wird – in Anlehnung, wie dies auch W. Stange [3] vorgeschlagen hat. Mit dem Stichwort »Grade der Autonomie« wird der zentrale Aspekt der Stufenmodelle, der sicherlich für Beteiligung konstitutiv, aber nicht allein ausschlaggebend ist, berücksichtigt, aber eben ohne die Implikation, dass alle Beteiligungsformen allein entlang dieses Spektrums sortiert werden. Wenn man sich dann den Würfel nicht nur ausgeklappt vorgestellt (vgl. BMFSFJ/DBJR 2022, S. 24), sondern zusammengebastelt und sich dazu die innere Verwobenheit der sechs Dimensionen ausmalt, erhält man ein Gefühl für die Vieldimensionalität von Beteiligungsformaten.
Einladung zur Weiterentwicklung
Die nun vorgelegte Broschüre zu den Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung versteht sich explizit als eine Art Zwischenbilanz. Sie will die Diskussion um Qualitätsstandards in den Handlungsfeldern und der allgemeinen Fachdebatte anregen und lädt ausdrücklich zur Weiterentwicklung und Fortschreibung ein. Das gilt auch für den konzeptionellen Rahmen. Es handelt sich um einen Vorschlag, der Schwachstellen der bislang dominierenden Modelle von Beteiligung vermeiden möchte – ohne ihren Erkenntniswert zu verlieren – und der den komplexen, heterogenen Bedingungen von Beteiligung in den pädagogischen, medialen und politischen Handlungsfeldern auf kommunaler, Länder-, Bundes- und europäischer Ebene gerecht werden möchte. Ob und inwiefern dieser Vorschlag trägt bzw. weiterentwickelt werden muss – schließlich gibt es auch zwölfeckige Würfel oder man greift zu ganz anderen Metaphern – wird zu diskutieren sein. Der Dialogprozess zum Nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung des Bundes bietet – neben anderen Orten – dazu in den nächsten zwei Jahren eine gute Plattform.
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Literatur [4]
Abeling, Melanie / Bollweg, Petra / Flösser, Gaby / Schmidt, Mathias / Wagner, Melissa (2003): Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Sachverständigenkommission 11. Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfe im Reformprozess (Bd. 2 der Materialien zum Elften Kinder- und Jugendbericht. München, DJI, 225–309. Verfügbar über: https://www.dji.de/veroeffentlichungen/literatursuche/detailansicht/literatur/1362-kinder-und-jugendhilfe-im-reformprozess.html
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2015): Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Allgemeine Qualitätsstandards und Empfehlungen für die Praxisfelder Kindertageseinrichtungen, Schule, Kommune, Kinder- und Jugendarbeit und Erzieherische Hilfen. Berlin (3. Aufl.). Verfügbar über: https://www.projekt-inklusionjetzt.de/veroeffentlichunge/publikationen/band-2-partizipation-und-selbstbestimmung-in-einer-inklusiven-erziehungshilfe/band-2-partizipation-und-selbstbestimmung-in-einer-inklusiven-erziehungshilfe oder https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94118/c49d4097174e67464b56a5365bc8602f/kindergerechtes-deutschland-broschuere-qualitaetsstandards-data.pdf
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/Deutscher Bundesjugendring (BMFSFJ/DBJR) (Hrsg.) (2022): Mitwirkung mit Wirkung. Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung. Impulse zur Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. Eine Einladung zum Mitmachen, Diskutieren und Ausprobieren. Berlin 2022. Verfügbar über: https://standards.jugendbeteiligung.de/
Pluto, Liane (2007): Partizipation in den Hilfen zur Erziehung. Eine empirische Studie. München, DJI. Verfügbar über: https://www.dji.de/veroeffentlichungen/literatursuche/detailansicht/literatur/8379-partizipation-in-den-hilfen-zur-erziehung.html
Pluto, Liane (2022): Partizipation, Mitbestimmung, Selbstbestimmung – drei Stufen einer Leiter? In: Hollweg, Carolyn/Kieslinger Daniel (Hrsg.) (2022) Partizipation und Selbstbestimmung in einer inklusiven Erziehungshilfe – zwischen bewährten Konzepten und neuen Anforderungen. Freiburg/Breisgau, Lambertus, S. 66-82. Verfügbar über: file:///C:/Users/User/Downloads/Kieslinger_Partizipation_und_Selbstbestimmung_in_einer_inklusiven_Erziehungshilfe_A5_Druck-1.pdf
punktum. Zeitschrift für verbandliche Jugendarbeit in Hamburg (2009): Themenheft »Wie geht eigentlich Partizipation? Kinder- und Jugendpartizipation zwischen tatsächlicher Beteiligung und bürgerschaftlicher Kosmetik«. Heft. Hamburg. Verfügbar über: https://www.ljr-hh.de/uploads/tx_ljrpunktum/punktum_4-09.pdf
Straßburger, Gaby / Rieger, Judith (2019): Bedeutung und Formen der Partizipation – Das Modell der Partizipationspyramide. In: dies. (Hrsg.): Partizipation kompakt. Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe. Weinheim & Basel, Beltz/Juventa (2. Aufl.), S. 12-39.
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Fußnoten
[1] Vgl.: https://standards.jugendbeteiligung.de/
4 Alle Links wurden Anfang Dezember 2022 auf ihre Aktualität überprüft