Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2023, Rubrik Kommentar

Auch eine Frage an die Alternativen Stadtrundfahrten ...

Von Michael-J. Gischkat, LJR-Vorsitzender

Das Heftthema »Wozu erinnern?« hat neben der grundsätzlichen Frage auch eine Dimension, welche die eigene historisch-politische Bildungsarbeit des Landesjugendrings angeht. Seit 1978 bietet der Landesjugendring die »Alternativen Stadtrundfahrten: Hamburg im Nationalsozialismus – Verfolgung und Widerstand« (kurz: ASRF) an. Kein anderes vergleichbares Projekt bei einer Jugendorganisation existiert länger. Das vor allem ehrenamtlich entwickelte Projekt – es entstand in Kooperation mit der VVN/BDA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten) – war lange Zeit in der Öffentlichkeit Hamburgs bekannter als sein Initiator, also der Landesjugendring selbst. Flyer zu den seinerzeit ca. 15 unterschiedlichen Themenrouten, deren Spektrum von »Fußball unterm Hakenkreuz« über »Die Kinder vom Bullenhuser Damm« bis hin zur Geschichte der verfolgten »Swing-Jugend« reichte, lagen in allen Buchläden, die sich als politisch aktiv verstanden.

Kurzer Rückblick. Die taz erinnerte 1998 zum seinerzeit 20jährigen Bestehen der Alternativen Stadtrundfahrten an die Anfänge: »Am 9. November 1978 veranstaltete der Landesjugendring … zum 40. Jahrestag der ›Reichspogromnacht‹ eine Demonstration rund um die Binnenalster, an der 25.000 Hamburger:innen teilnahmen. Im Beiprogramm führte die damals zwei Jahre alte Institution die erste Alternative Stadtrundfahrt über die Zeit des Nationalsozialismus durch die Innenstadt durch. … Fast 100.000 Teilnehmer:innen haben in diesen 20 Jahren an den Alternativen Stadtrundfahrten teilgenommen, in mehr als zehn Städten im alten Bundesgebiet haben sich ähnliche Projekte gegründet.«

Als das ASRF-Projekt entstand, gab es nichts bis wenig (die KZ-Gedenkstätte Dachau war 1965 gegründet worden), was heute als staatlich geförderte Erinnerungsarbeit an die Verbrechen des Nationalsozialismus gilt. Auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Neuengamme stand eine Justizvollzugsanstalt. Angehörige der Opfer der NS-Verbrechen mussten sich damals den Zugang zu dem Gelände gerichtlich erstreiten, und erst viele Jahre später – im Mai 2005 – wurde die KZ-Gedenkstätte in Neuengamme eröffnet. Ihre Existenz verdankt sich – wie viele andere Gedenkstätten in Deutschland – u.a. einer breiten ehrenamtlich basierten Bewegung, der die Erinnerung an die NS-Verbrechen auch ein Einspruch gegen den Fortbestand ihrer gesellschaftspolitischen Ursachen war, – und Teil dieser Bewegung war auch das ASRF-Projekt im Landesjugendring Hamburg.

Seither hat sich viel geändert. Zumindest was die öffentliche Anerkennung der Erinnerungsarbeit anbelangt. Der deutsche Bundestag erinnert an jedem Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau in einer Gedenkstunde an die Verbrechen des NS-Regimes. In Deutschland gibt es rund 230 Gedenkstätten mit pädagogischem Begleitprogramm. Die KZ-Gedenkstätte in Neuengamme verzeichnet jährlich über 100.000 Besucher:innen. Was bedeuten diese gravierenden Veränderungen für das ASRF-Projekt der historisch-politischen Jugendbildung? Wozu noch »alternative« Erinnerungsarbeit neben der staatlich etablierten?

In der Anfangszeit fanden die Alternativen Stadtrundfahrten vielfach mit Zeitzeug:innen statt. Ein Format, das heute nicht mehr möglich ist. Und auch darüber hinaus müssen wir uns mit dem Wandel der Erinnerungskultur auseinandersetzen. Sind Stadtrundfahrten in Zeiten von Social Media noch das Mittel der Wahl? Wie muss sich die historisch-politische Bildungsarbeit aufstellen, um zukunftsfähig und alternativlos zu bleiben? »Wozu erinnern?« fragen wir uns daher nicht nur im Titel dieser Ausgabe; es ist gleichsam die Frage zur Neuaufstellung der Alternativen Stadtrundfahrten. Die naheliegende Antwort ist dabei nicht nur »weil es wichtig ist« sondern auch »wie wollen wir erinnern?«. Erinnern in Form bloßer Information über den Nationalsozialismus droht zum leeren Ritual zu werden.

Die historisch-politische Jugendbildung will aber mehr als das. »Wir wollen gemeinsam mit den Teilnehmenden Formen der Erinnerungskultur hinterfragen, ihnen Denkanstöße geben und für aktuelle gesellschaftliche Probleme sensibilisieren.« Dies steht immerhin in der Projektbeschreibung der Alternativen Stadtrundfahrten auf der Homepage des Landesjugendrings. Und das wäre auch der Leitfaden zur ihrer Neupositionierung. Erinnern ohne den Impuls zur Veränderung der Gegenwart zum Besseren wäre unpolitisch. Wer an diesem Prozess teilhaben möchte, lese den Aufruf auf der Rückseite des Heftes. Wir suchen junge Leute, die sich einbringen wollen.