Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 4-2021, Rubrik Titelthema

Die Konferenz zur Zukunft Europas: eine verpasste Chance für die Jugend?

Von Julian Plottka, Universität Passau und Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Ein drohender Krieg zwischen der Ukraine und Russland; die Begrenzung des Klimawandels; ein humaner Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer, an der Grenze zu Belarus und in der Europäischen Union (EU); die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Union; die Finanzierung des europäischen Ausgabenprogramms »Next Generation EU« zur Linderung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie; die Verbesserung der Beziehungen zum jüngst ausgetretenen Großbritannien; der wachsende Einfluss Russlands und Chinas auf die Westbalkan-Staaten; die angespannten Beziehungen der EU zum (Immer-noch-)Kandidatenstaat Türkei; die Durchsetzung von Recht im virtuellen Raum.

Das sind nur einige der wichtigsten Aufgaben, denen sich die EU aktuell annehmen muss, weil selbst die großen EU-Mitgliedstaaten zu klein sind, um diese selbst effektiv zu meistern. Wer glaubt, dass es im Alleingang besser geht, konnte in den letzten Monaten Lieferengpässe (Morris 2021), fehlendes Pflegepersonal (Jayanetti 2021), überschüssiges Schlachtvieh (Woodcock 2021), einen Mangel an medizinischen Gütern (Campbell/Davies 2021) und erhöhte Grenzwerte für die Einleitung geklärter Abwässer in Flüsse (O’Carroll 2021) im Vereinigten Königreich beobachten. Probleme, die es zum Teil auch in der EU gibt, aber eben nicht ganz so drastisch, wie im Vereinigten Königreich. Hinzu kommen Herausforderungen, ausgelöst durch gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Transformationsprozesse, die uns alle in den nächsten Jahrzehnten noch beschäftigen werden.

Ist die EU noch den aktuellen Herausforderungen gewachsen?
Angesichts der Vielzahl von aktuellen Herausforderungen, die sich inzwischen zu einer multiplen Krise in der EU entwickelt haben, ist inzwischen jedoch zu fragen, ob die EU über die notwendigen Kapazitäten verfügt, alle diese »Krisen« [1] und Herausforderungen auf einmal zu meistern. Dies gilt einerseits angesichts der Tatsache, dass die oft als überbordend gescholtene Bürokratie der Europäischen Kommission über nur 33.000 Beschäftige verfügt (Hofmann 2020), um 450 Mio.Einwohner:innen zu »verwalten«. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat im Vergleich dazu bspw. fast 75.000 Beschäftigte (Hamburg.de 2021). Deshalb muss sich die EU in fast allen Bereich bei der Umsetzung europäischer Politik auf die Mitgliedstaaten oder in Deutschland die auf Bundesländer verlassen. Deshalb hat sie oft nur begrenzten Einfluss, wie europäisches Recht umgesetzt wird – was bei der Einhaltung EU-weit geltender Mindestrechte von Flüchtlingen oder der Verausgabung von EU-Geldern in einigen Mitgliedstaaten zu drastischen Problemen führt.

Andererseits haben die nationalen Regierungen seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, der letzten großen Vertragsreform 2009, deutlich an Einfluss in der EU gewonnen. Dies ist dem Modus des Krisenmanagements, in dem in der Regel Regierungen mehr Einfluss als Parlamente haben, genauso geschuldet wie den institutionellen Reformen von 2009, die die Macht des Europäischen Rates in der EU gestärkt haben. Unter dem Begriff der »Unionsmethode« hat Angela Merkel (2010) den wachsenden Einfluss der nationalen Regierungen in der Europapolitik gegenüber Europäischem Parlament und Europäischer Kommission (Müller Gómez/Reiners 2019) aber auch zum Prinzip ihrer Europapolitik erhoben. In der Folge werden viele Entscheidungen hinter verschlossener Tür (The Economist 2020) oder wie in der europäischen Asylpolitik seit Jahren gar nicht getroffen (Klein/Plottka/Tittel 2018: 148-151). Dabei gehört gerade die deutsche Regierung so häufig zu den Bremsern im Rat, dass der »German vote« schon sprichwörtlich geworden ist. Dieses wird eingelegt, wenn die Bundesregierung sich intern nicht einigen konnte und deshalb im Rat der EU keine Position beziehen kann, in der Folge muss die Entscheidung vertagt werden. [2]
Das eigentliche Problem sind aber zunehmende Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten, wie sie sich bei der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn Ende 2020 gezeigt haben. Die beiden Regierungen waren bereit, den mehrjährigen Finanzrahmen [3] und damit auch die EU-Corona-Hilfen zu blockieren, wenn die geplanten zusätzlichen Mechanismen zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit nicht aufgeweicht werden. [4] Sollten diese Grundsatzkonflikte innerhalb der EU in Zukunft häufiger Entscheidungen in Sachfragen blockieren, droht sich die Entscheidungsfindung im Rat der EU weiter zu verlangsamen.

Die fehlende Entscheidungseffizienz intergouvernementaler Verfahren, in denen die nationalen Regierungen mehr Einfluss haben als das Europäische Parlament, zeigt sich besonders in der chronisch handlungsunfähigen EU-Außenpolitik, aber auch bei der Bewältigung der jüngsten Krisen. Denn anders als von vielen eingangs erhofft (als Debattenüberblick: Kaelble 2012), ist die EU nicht gestärkt aus diesen Krisen hervorgegangen (Kaelble 2021). Gerade in der Krise in der Eurozone wurden nicht die ursprünglichen Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion – besonders das Fehlen einer europäischen Wirtschaftspolitik – angegangen, sondern es wurde der Status quo erhalten. [5] Ulrike Guérot (2021) hat dies im Rückblick auf die Europapolitik Merkels mit »Mehr Verwaltung als Gestaltung« auf den Punkt gebracht.

Die Konferenz: (k)ein ernstgemeinter Anlauf zur Gestaltung der Zukunft Europas?
Gerade für die jungen Generationen ist es aber entscheidend, nicht mehr nur den Status quo der EU zu erhalten, sondern diese fit für die kommenden Herausforderungen zu machen. Der letzte Anlauf, die dazu notwendige Debatte über die Zukunft der EU zu initiieren, der sogenannte Weißbuchprozess der Europäischen Kommission, scheiterte vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019. Der damalige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker hatte 2017 ein sogenanntes Weißbuch mit fünf möglichen Szenarien zur Zukunft der EU vorgelegt (Europäische Kommission 2017). Sein Ziel war es, eine Zukunftsdebatte in der Breite der Gesellschaft zu initiieren und die Europawahl 2009 zu einer Abstimmung über die unterschiedlichen Vorschläge zu machen (Klein/Plottka/Tittel 2018: 144-147). Aus Angst, die Europaskeptiker:innen könnten bei der Wahl eine Mehrheit im Europäischen Parlament erringen (De Silver 2019), verwandelte sich die Wahl von einer Abstimmung über alternative Visionen zur Zukunft der EU in eine Kampagne zur Rettung des Erreichten. Emblematisch warb selbst die Lufthansa (2019) mit einer Sonderlackierung auf einem Airbus A320 mit dem Slogan »SayYesToEurope«.

Angesichts des Scheiterns des Weißbuchprozesses von 2017 schlug der französische Präsident Emmanuel Macron (2019) im Vorfeld der Europawahl 2019 eine Konferenz vor, um mit den EU-Institutionen, Mitgliedstaaten und Unionsbürger:innen über die Zukunft der EU zu debattieren. Da diese Idee auf große Zustimmung unter den Mitgliedern des neugewählten Europäischen Parlaments stieß, griff sie die designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (2019) auf und versprach den Abgeordneten im Falle ihrer Wahl eine solche Konferenz zu organisieren.

Allerdings scheint die Konferenz für von der Leyen eher ein »Wahlkampfgeschenk« (Plottka 2020: 233-234) an die Abgeordneten als ein echtes politischen Anliegen gewesen zu sein. Zwar legte die Kommission bereits am 22. Januar 2020 ihre Vorstellung zur Ausgestaltung der Konferenz vor, schränkte deren Agenda jedoch sogleich auf die politischen Prioritäten der Kommission und die Strategische Agenda des Europäischen Rates ein. Institutionelle Fragen sollten auf die Reform des Spitzenkandidatenverfahrens und die Einführung transnationaler Listen zur nächsten Europawahl beschränkt werden (Europäische Kommission 2020). Die Beteiligung der Unionsbürger:innen an der Konferenz begrüßte die Kommission zwar grundsätzlich, blieb aber hinsichtlich deren Ausgestaltung relativ vage und verwies lediglich auf ihre Erfahrung mit der Organisation von über 1.850 Bürgerdialogen in den Jahren 2015 bis 2019.

Das Europäische Parlament (2020: Ziff. 31) war in seinen Forderungen deutlich weitgehender, und insbesondere im Ausschuss für konstitutionelle Frage wurde intensiv diskutiert, wie die Konferenz zu einem neuen Konvent zur Zukunft Europas werden könnte, der wie der Verfassungskonvent 2022/2003 [6] einen konkreten Vorschlag zur Änderung der EU-Verträge erarbeitet. [7] Eine Forderung, die sich nun auch im Koalitionsvertrag der gerade ins Amt gekommenen deutschen Bundesregierung findet (SPD/Grüne/FDP 2021: 131). Das Mandat des »Konvents 2.0« (Plottka 2020: 235-236) sollte nach Vorstellung des Europäischen Parlaments weitestgehend offen sein und damit sowohl konkrete Politiken als auch institutionelle Fragen umfassen. Auch hinsichtlich der Bürgerbeteiligung waren die Forderungen des Parlaments die weitreichendsten. So sollte der Konferenz eine »Phase des Zuhörens« vorangehen. Parallel zur Konferenz sollten mehrmals tagende thematische Bürger- und Jugendforen stattfinden, deren Vertreter:innen auch zu den Plenartagungen der Konferenz eingeladen werden sollten.

Der Rat der EU war das letzte der EU-Organe, das sich im Juni 2020 intern auf eine eigene Position zur Konferenz einigte (Rat der EU: 2020). Thematisch sollte sich diese seiner Ansicht nach auf die Themen konzentrieren, die bereits auf der politischen Agenda der EU stehen. Die Unterstützung der Idee zur Bürgerbeteiligung scheint dabei eher vom Motiv geleitet zu sein, eine zusätzliche Quelle der Legitimation für die eigene Politik zu erschließen als das Ziel zu verfolgen, neue Formen der partizipativen Demokratie in der Praxis zu erproben. Konkrete Konzepte, wie diese aussehen könnte legte, der Rat nicht vor (Plottka 2020: 236-239). Insgesamt maßen die Regierungen trotz andersteiliger Beteuerungen der Zukunftskonferenz nur geringe Priorität bei, anders ist die – mit der Pandemie begründete – Verzögerung der Konferenz um ein Jahr kaum zu erklären.

Die unterschiedlichen Positionen der drei EU-Organe, die gemeinsam die Konferenz führen, waren so kontrovers, dass die Einigung der Verhandler:innen noch bis März 2021 dauerte. Allerdings konnte der in der gemeinsamen Erklärung der drei Organe (Europäisches Parlament/Europäische Kommission/Rat der EU 2021) festgehaltene Kompromiss über die Ausgestaltung der Konferenz die Konfliktlinien nicht dauerhaft überbrücken, sondern belastet weiterhin die Leitung der Konferenz durch Vorsitz und Exekutivausschuss. Da der Exekutivausschuss auch die Schlussfolgerungen der Konferenz ausarbeiten soll, in denen die Empfehlungen zur Zukunft der EU festgehalten werden, besteht die Gefahr, dass das Ergebnis der Konferenz nur der kleinste gemeinsame Nenner und keine Vision zur Reform der EU sein wird.

Scheitert die Konferenz an einer überkomplexen Struktur?
Angesichts der langen Zeit, die die drei EU-Organe von Dezember 2019 bis März 2021 brauchten, um sich auf die gemeinsame Erklärung zu einigen, konnten Beobachter:innen leicht den Eindruck gewinnen, dass die Strukturen wichtiger als Inhalte waren. Neben dem gemeinsamen Vorsitz aus drei Konferenzenpräsident:innen aus Kommission, Parlament und Rat der EU sowie dem Exekutivausschuss besteht die Konferenz aus den folgenden Organen:
• einer Plenarversammlung,
• einem Sekretariat,
• einer Online-Plattform,
• vier europäischen Bürgerforen,
• nationalen Bürgerforen,
• dezentralen Foren und Veranstaltungen.

Der Exekutivausschuss [8] – unterstützt durch das Sekretariat – leitet die Konferenz, bereitet die Plenarsitzungen vor und arbeitet die Schlussfolgerungen der Plenarversammlungen sowie den Abschlussbericht aus. Damit ist er nicht nur in prozeduralen Fragen entscheidend, sondern hat auch maßgeblichen Einfluss auf das Ergebnis der Konferenz. Die Plenarversammlung hat 450 Sitze und wird nach zwei Sitzungen im Juni und Oktober 2021 ab Januar voraussichtlich jeden Monat tagen. Ihr gehören nationale und EU-Abgeordnete (je 108), Regierungsvertreter:innen (54), Mitglieder der Bürgerversammlungen [9], des Jugendforums (1), Vertreter:innen des Ausschusses der Regionen und des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (je 18), der lokalen und regionalen Ebene (12), der Sozialpartner (12), der Zivilgesellschaft (8), und drei EU-Kommissar:innen an. Das Plenum erörtert die Beiträge der Bürger:innen aus den Foren und der Online-Plattform, arbeitet in neun thematischen Arbeitsgruppen, darunter eine zu »Bildung, Kultur, Jugend und Sport«, eigene Ideen aus und legt dem Exekutivausschuss einvernehmlich Vorschläge für den Abschlussbericht vor.

Die vier auf EU-Ebene organisierten Bürgerforen mit jeweils 200 zufällig ausgewählten Mitgliedern sind je einem der folgenden Themenschwerpunkte gewidmet: (1) Wirtschaft, Soziales, Arbeit, Jugend, Sport, Kultur, Bildung und Digitalisierung; (2) Demokratie, Werte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit; (3) Klimawandel, Umweltschutz und Gesundheit; (4) Europa in der Welt und Migration. Die Bürger:innen sollen nach konstituierenden Sitzungen, die im September und Oktober 2021 in Straßburg stattfanden, bei zwei weiteren Tagungsterminen zu den Themen konkrete Politik- und Reformvorschläge erarbeiten, die dem Konferenzplenum präsentiert werden. Während die zweiten Tagungen online und die dritten dezentral in Dublin, Florenz, Maastricht und Natolin stattfinden sollten, ist derzeit unklar, ob und wann dies als Präsenztagungen möglich sein wird. Die Hoffnung ist, dass durch die Zufallsauswahl die Teilnehmenden die gesellschaftliche Vielfalt in allen 27 Mitgliedstaaten abgebildet wird und diese in die Debatte mit einbezieht. Dabei ist ein Drittel der Plätze für Bürger:innen unter 25 Jahren reserviert sind. Dies hat jedoch nicht dazu geführt, dass das Thema Jugendpolitik einen herausgehobenen Stellenwert in Bürgerforen einnimmt. Jugendpolitik ist Teil des sehr breiten Themenspektrum von Forum 1. Allerdings verfügt die EU im Bereich der Jugendpolitik lediglich über wenige Kompetenzen und kann nur unterstützend und koordinierend tätig werden (Tham 2020).

Allen Bürger:innen steht unter der Internetadresse https://futureu.europa.eu/ die mehrsprachige Online-Plattform als Forum zum Austausch über Ideen und Vorschläge zur Zukunft der EU offen. Dort sind auch Informationen zu weiteren Veranstaltungen und die Aktivitäten der Plenarversammlung und den Bürgerforen zu finden. Bis zum 3. November 2021 sind dort 9.337 eingebrachte Ideen insgesamt 16.017-mal kommentiert worden (Kantar Public 2021: 13). Die mit Abstand meisten Ideen (1.717) wurden im Themenfeld »Klima- und Umweltschutz« gefolgt vom Thema »Europäische Demokratie« (1.390) eingebracht. Wobei die Ideen zum letzteren Thema mit 3.122 Beiträgen am häufigsten kommentiert werden. Der Themenbereich »Bildung, Kultur, Jugend und Sport« liegt mit 863 Ideen und 1.185 Kommentaren auf dem fünften Platz unter den zehn Themenfeldern auf der Online-Plattform (Kantar Public 2021: 19). Thematisch sind die Vorschläge in diesem Themenfeld weit gefächert und befassen sich u. a. mit der Rolle der europäischen Medien, Fremdsprachenausbildung, Modernisierung von Bildungsinhalten und Maßnahmen zur Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit (Kantar Public 2021: 12).

Die vorliegenden Daten zur Frage, welche Bürger:innen sich auf der Plattform an den Debatten beteiligen, sind leider nur begrenzt aussagekräftig, da sich auf der Plattform auch Organisationen registrieren können und rund ein Drittel der registrierten Nutzer keine Angaben macht. Unter den anderen zeigt sich positiv, dass nicht wie es häufig der Fall, Bürger:innen aus dem deutschen Sprachraum übermäßig stark engagiert sind, sondern die meisten Beiträge pro Kopf aus Malta, Belgien (einschließlich Brüssel als europäischer Hauptstadt), Luxemburg und Finnland stammen. Hinsichtlich des Geschlechts zeigt sich dagegen das klassische Bias, dass Frauen (15 Prozent) weniger engagiert sind als Männer (57 Prozent). [10] Was das Engagement der Jugend betrifft, so macht die Altersgruppe der 15- bis 24-jährigen 10 Prozent der auf der Plattform Aktiven aus, was genau dem Anteil der Studierenden entspricht (Kantar Public 2021: 12). Auch wenn die genannten Zahlen zusammen mit den rund 150.00 Teilnehmenden der im Rahmen der Konferenz organisierten Veranstaltungen beeindruckende Zahlen sein mögen, so ist die Konferenz zur Zukunft Europas immer noch weit davon entfernt, eine Debatte in der Breite der Gesellschaft angestoßen zu haben.

Die Konferenz als Auftakt für einen verfassungsändernden Konvent?
16 Monate hat die Ausarbeitung dieser komplexen Konferenzstruktur gedauert, während die Konferenz zwar am 9. Mai 2021 gestartet ist mit ihrer Arbeit de facto aber erst nach der Sommerpause im September 2021 begonnen hat. Es bleiben bis zum Ende im Mai 2022 gerade einmal neun Monate Zeit in denen die Debatte auf der Online-Plattform laufen soll, die Bürgerforen auf europäischer und nationaler Ebene Ideen entwickeln sollen, diese dann in das Konferenzplenum eingespeist werden, dessen 406 Mitglieder dann in den Arbeitsgruppen konkrete Politikempfehlungen erarbeiten, die dann im Mai 2022 vom Exekutivausschuss im Abschlussbericht präsentiert werden sollen. Dies einen ambitionierten Zeitplan zu nennen, dürfte allein schon eine Untertreibung sein. Hinzu kommt jedoch, dass einerseits die Pandemie bereits zur Absage der Plenarsitzung im Dezember 2021 geführt hat und andererseits die Organisation der Konferenz – den Aussagen zahlreicher Plenumsmitglieder zufolge – suboptimal ist.

So sehr sich alle Beteiligten derzeit auch engagieren, der große Entwurf, der endlich alle notwendigen Reformen adressiert, um die EU fit für die Zukunft zu machen, wird der Abschlussbericht nicht sein. Im günstigsten Fall ist er eine weitere Dokumentation der dringend notwendigen Reformen und die Konferenz selbst nur der Auftakt zum vertragsändernden Konvent, den das Europäische Parlament und die neue deutsche Bundesregierung fordern. Je nachdem, wie die französische Wahl im kommenden Frühjahr ausgeht, könnte der wiedergewählte französische Präsident dieser Forderung nochmals mehr Gewicht verleihen. Ob dieses jedoch genügt, um sich gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten sowie den Sparsamen Vier/Fünf [11] durchsetzen, die einer Vertragsreform skeptisch gegenüber stehen, ist eine mehr als offene Frage.

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Endnoten:

1 Als Krisen der EU werden hier solche Herausforderungen verstanden, bei denen die Gefahr besteht, dass die EU an dieser Herausforderung zerbrechen könnte.
2 Dies passierte in den letzten Jahren so häufig, dass die gerade ins Amt gekommene Ampelkoalition es sich explizit zum Ziel gesetzt hat, diese »German votes« zu vermeiden. Um dieses Ziel zu erreichen, muss sie sich intern schneller und besser koordinieren als frühere Regierungen.
3 Im mehrjährigen Finanzrahmen legt die EU jeweils für fünf bis sieben Jahre ihre Ausgabenprioritäten fest, parallel dazu wird im sog. Eigenmittelbeschluss festgelegt, wieviel Geld sie dafür zur Verfügung hat. Über die Ausgestaltung entscheiden weitestgehend die Staats- und Regierungschefs, sie müssen die Position des Europäischen Parlaments nur insoweit berücksichtigten, dass sie nicht Gefahr laufen, dass das Europäische Parlament ein Veto einlegt, weil es seine Position nicht berücksichtigt sicht.
4 Der Kompromiss war, die Anwendung des Rechtstaatsmechanismus’ zu verzögern, bis alle Klagen der beiden Länder gegen diesen beendet sind, was Jahre dauern wird. Da diesen Klagen jedoch eine ernsthafte Rechtsgrundlage fehlt und sie nur eine Verzögerungstaktik darstellen, hat das Europäische Parlament inzwischen die Kommission aufgrund der Nicht-Anwendung auf Untätigkeit verklagt.
5 Einen Paradigmenwechsel gab es mit »Next Generation EU« dann erst im Angesicht der Pandemie.
6 Der Konvent zur Zukunft Europas wurde 2001 damit beauftragt, Vorschläge für eine Reform der EU-Verträge zu machen. Stattdessen erarbeitete er unter Vorsitz des früheren französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing den Entwurf eines »Vertrags über eine Verfassung für Europa«. Der Vertrag scheiterte zwar in Referenden in Frankreich und den Niederlanden, sein Inhalt wurde aber in großen Teilen in den Vertrag von Lissabon übernommen.
7 Das Modell des inzwischen in Art. 48 EU-Vertrag vorgesehenen Konvents als ordentliches Verfahren zur Änderung der Verträge stellte auch den Ausgangspunkt für den Vorschlag des Parlaments zur Zusammensetzung der Konferenz dar (siehe später).
8 Er setzt sich zusammen aus je drei stimmberechtigen Mitgliedern sowie je vier Beobachter:innen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission. Weitere Beobachter:innen entsenden der Ausschuss der Regionen, der Wirtschafts- und Sozialausschuss, die Konferenz der Europaausschüsse der Parlamente der EU sowie die Sozialpartner.
9 80 Mitglieder europäischen und je EU-Land ein Mitglied der nationalen Bürgerkonferenz.
10 0,4 Prozent nicht-binäres Geschlecht, 28 Prozent keine Angabe (Kantar Public 2021: 18).
11 Dänemark, die Niederlande, Österreich und Schweden später zusammen mit Finnland haben sich 2020 bei den Verhandlungen über den neuen mehrjährigen Finanzrahmen für einen sparsames EU-Budget eingesetzt.

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Literatur
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