Von Oliver Trier, Hamburg
Seit 25 Jahren finden Jugendliche aus Einwandererfamilien im Migrations-Zentrum (Mig-Zentrum) einen Anlaufpunkt. In den letzten drei Jahren hat sich der Verein außerdem zu einer Anlaufstelle für junge Geflüchtete entwickelt. Zwischen Altona-Nord und Sternschanze bietet der Verein jungen Menschen fast täglich eine offene Tür.
»Kein Stiel aber guten Geschmack«. Es ist Februar, doch die Wintersonne übt schon fleißig für den Frühling. Halb Hamburg genießt das Wetter im Park oder hält Ausschau nach einer geöffneten Eisdiele. Ali, Feridoon und Mustafa sitzen stattdessen im Mig-Zentrum und verbringen ihren Sonntag mit der Analyse einer »stiellosen« Eiswerbung. Das Zentrum in Altona bietet jeden Sonntag und Mittwoch Nachhilfe in den Fächern Deutsch, Mathe und Englisch an. Gemeinsam mit anderen Geflüchteten nehmen die drei jungen Kurden diese Gelegenheit wahr, um ihre Ausbildungsvorbereitung an der Berufsschule 27 erfolgreich zu bestehen. Mit ihrer Nachhilfelehrerin Dilan diskutieren sie Form, Inhalt und Botschaft der sprachlich nicht ganz astreinen Werbeanzeige eines bekannten Fastfood-Unternehmens.
Fußball als Keimzelle. Am Nachbartisch erzählen Ilhan und Hülya Akdeniz bei einem Glas Tee von den Anfängen des Vereins. Ilhan ist ehrenamtlicher Mitarbeiter und von Anfang an dabei. Hülya engagiert sich seit 14 Jahren in dem Verein und arbeitet seit zwei Jahren als Bildungsreferentin für das Mig-Zentrum.
Angefangen hat alles 1994. Es waren Eltern mit türkischen und kurdischen Wurzeln, die sich eine Freizeitalternative für ihre Kinder wünschten und den entscheidenden Impuls für die Gründung einer Fußballgruppe gaben. Zwei Jahre später hatte sich aus der kickenden Truppe ein eingetragener Verein entwickelt: der »Verein der Kulturellen Medialen Kommunikationsstelle der Migration e.V.«. »Doch das kann sich keiner merken«, erklärt Ilhan. »Der Name ist zu lang und schwer auszusprechen. Deswegen kamen wir auf ›Migrations-Zentrum‹ – kurz ›Mig-Zentrum‹. Das fällt den meisten leichter«. Die Idee des Vereins, jungen Menschen aus Einwandererfamilien eine Plattform für einen Austausch gemeinsamer Alltagserfahrungen zu bieten, führe natürlich dazu, dass es mittlerweile »bunter« geworden sei. Doch bis heute habe sich im Zentrum eine türkisch-kurdische Prägung gehalten, erzählt Ilhan. Auch der Fußball begleite das Zentrum bis heute. Inzwischen spiele die Gruppe freitags am Haus der Familie an der Schilleroper und bestehe zur Hälfte aus afghanischen Kickern. Zwischenzeitlich habe der Verein sogar zwei Mannschaften für den Ligabetrieb in der Kreisklasse angemeldet. Doch sei der Aufwand auf Dauer zu groß gewesen, woraufhin die Teams wieder abgemeldet wurden.
Langhalslauten. »Ey, lass mal Handy zocken!« schlägt Ardil einen Tisch weiter lautstark zwei Freunden vor. Seine Anfrage stößt auf Zustimmung, und so spielen die drei Dank des WLANs gemeinsam Brawl Stars. Ardil ist gerade aus dem Saz-Unterricht gekommen und genießt mit seinen Freunden noch ein wenig Zeit, bevor er wieder nach Hause geht. Auch Cigdem hat an dem Unterricht teilgenommen. Sie gönnt sich nun eine heiße Portion vom Kartoffeltopf mit Fleisch und Reis, der in der Küche auf dem Herd steht. Eine Saz ist ein Seiteninstrument, das vom Balkan bis Afghanistan verbreitet ist und als bağlama besonders in traditioneller türkischer Musik zum Einsatz kommt. Optisch erinnert die Langhalslaute ein wenig an eine Gitarre.
Trotz des guten Wetters hatten sich um 14 Uhr einige Jugendliche im Hinterraum des Zentrums zusammengefunden, um an der Saz zu üben. Sie lösen den Gitarrenkurs ab, der schon eine Stunde früher anfängt. Angeleitet werden beide Kurse von Deniz Kaya, der jahreszeitbedingt ein wenig angeschlagen ist. So gesehen spielt ihm das Wetter ein wenig in die Karten, da er sich nun auf weniger Schüler/innen als normalerweise konzentrieren muss. Sprachlich springt es im Laufe des Unterrichts oft von Türkisch zu Deutsch und zurück. Während Deniz in der Regel auf Türkisch versucht, den Jugendlichen Tipps für einen besseren Umgang mit dem Instrument zu geben, kommen die Antworten meist auf Deutsch. So oder so ist die Begeisterung für das Instrument spürbar. Gefragt, was sie an der Saz reize, betonen Cigdem und Ardil, wie schön es sei, Saz zu spielen, und wieviel Spaß es ihnen bereite. »Es ist mein Traum, Saz zu spielen«, gesteht Cigdem. Roza spielt seit ihrem sechsten Lebensjahr und Miran, der Jüngste der Runde, findet den Klang »einfach nur schön!«
Programmplanung. Sonntags bietet das Mig-Zentrum regelmäßig neben der Nachhilfe auch Saz- und Gitarrenunterricht an. Nur am Montag ist Ruhetag. Ansonsten steht das Zentrum an der Langenfelder Straße dienstags bis sonntags zwischen 14 und 18 Uhr allen Jugendlichen offen. »Unsere Angebote sind ganz bewusst sehr niedrigschwellig gehalten«, erklärt Hülya. »Es ist uns sehr wichtig, dass es keine Hürden gibt. Uns ist auch egal, wo die Leute herkommen. Wir nehmen sie so, wie sie sind. Egal ob blond, dunkel, kurdisch oder deutsch. Die Jugendlichen sollen sich wohl fühlen, und die Angebote ihren Interessen folgen. Deswegen sind es auch die Jugendlichen, die zweimal im Jahr das Programm des Mig-Zentrums festlegen.« Am Anfang des Jahres und vor allem im Sommer, wenn es für das »Planungswochenende« mit rund 35 Jugendlichen an die Ostsee oder nach Plön geht. Das Wochenende ist eines der Highlights im Mig-Zentrum und liegt traditionell kurz vor den Sommerferien. Während Hülya insgeheim lieber nach Plön fährt, wollen die Jugendlichen am liebsten nach Eckernförde. »Dabei hatten wir an der Ostsee viel eher Pech mit dem Wetter«, wundert sich die Bildungsreferentin. »Aber ein Lagerfeuer kriegen wir immer hin. Egal wie das Wetter ist.«
Learning by Doing. Ein weiteres Highlight des Mig-Zentrums sind die Kunst- und Literaturtage, die der Verein schon sechsmal organisiert hat. Auf dem Weg in die Langenfelder Straße kommt man kaum an den Plakaten vorbei, die noch auf die letzten Tage im Dezember vergangen Jahres hinweisen. Die Planungen beginnen ein halbes Jahr im Vorfeld und werden maßgeblich von den ehrenamtlichen Jugendlichen übernommen. Auch die Durchführung liegt in ihrer Hand. »Sie leiten durch den Abend, stellen die Künstler vor, führen kurze Interviews oder halten selbst einen Vortrag«, sagt Ilhan. »Daher kam auch die Idee und der Wunsch, einen Rhetorik-Workshop anzubieten. Denn unsere Jugendlichen haben durch unsere Literatur- und Kino-Tage im 3001 oft die Gelegenheit, auf der Bühne zu stehen«, ergänzt Hülya. »Wir versuchen sowieso, unsere Programmangebote so gut es geht miteinander zu verknüpfen und Verbindungen zu schaffen. Beim Foto-Workshop werden beispielsweise unsere Flyer gestaltet, und die Gitarren- oder Saz-Kurse treten auch bei den Kunst- und Literaturtagen auf.«
Offene Türen. Die Räume des Vereins befinden sich in einer ehemaligen Ladenzeile und verbinden zwei ursprünglich getrennte Geschäftsflächen. Die Schaufenster sorgen für helle Räume und wirken gleichzeitig einladend. Zur Linken befindet sich eine offene Küche, die ein Drittel des Raumes einnimmt. Auf den anderen zwei Dritteln verteilen sich diverse Tische mit Stühlen – Raum zum Essen und Klönen, für die Nachhilfe oder für Veranstaltungen. Im anschließenden Hinterraum befindet sich eine Tischtennisplatte und wird auch für Musikproben und Kurse genutzt.
Der Standort an der Langenfelder Straße ist schon der dritte des Zentrums. Die ersten Räume hatte der Verein in der Bartelstraße im Sternschanzenviertel. Doch hier wurde dem Zentrum irgendwann gekündigt. »Wir haben damals sehr viel Folkloremusik gemacht«, erinnert sich Ilhan und vermutet, dass zumindest die Trommeln es für die Nachbarn nicht immer leicht gemacht haben dürften. Von der Bartelstraße ging es an die Feldstraße. »Doch wir haben schnell gemerkt, dass die Kellerräume nicht gut waren für unsere Jugendlichen, und so haben wir uns wieder auf die Suche gemacht. Seit 2008 sind wir nun hier in Altona.« Anschaulich berichtet Hülya von den Renovierungsarbeiten, die notwendig waren: »Wir haben hier richtig viel gemacht. Die Küche und den Eingang versetzt und vor allem darauf geachtet, dass sich unsere Jugendlichen hier wohlfühlen können.«
Anknüpfungspunkte. Im Mig-Zentrum scheint dieser Anspruch nicht weit weg von der Wirklichkeit zu sein. Und so war es für die Stadt naheliegend, auf den Verein zuzugehen, als ab 2015 die Zahl der Asylsuchenden auch in Hamburg anstieg. Trotz einzelner Vorbehalte und Sorgen herrschte im Vorstand Einigkeit darüber, dass man einen Beitrag zur Integration leisten wolle. Daher beantragte das Mig-Zentrum Fördergelder für ein eigenes Projekt und konnte in der Folge eine Vollzeitstelle einrichten. Daraus entwickelte sich eines der umfangreichsten Integrationsangebote, die es in den Reihen der Jugendverbandsarbeit gibt. Die Tatsache, dass die Jugendlichen des Zentrums zu großen Teilen kurdische oder türkische Wurzeln habe, mache es oft leichter, eine Verbindung zu jungen, kurdischen Geflüchteten aufzubauen, ist sich Hülya sicher. Deswegen stünden die Angebote des Vereins natürlich auch jungen Schutzsuchenden offen. Besonders gut kämen Kochworkshops und »Brunch-Sonntage« an. »Aber für Geflüchtete haben wir auch eigene Angebote«, ergänzt die Bildungsreferentin. Außerhalb der Kernöffnungszeiten gebe es vormittags Fortbildungsmöglichkeiten für Betreuer/innen und Geflüchtete und abends Infoveranstaltungen für Geflüchtete. Vor allem aber sei sie auch Anlaufstelle für alle möglichen Anfragen. Je nach Bedarf kümmere sie sich um Anwälte und Dolmetscher/innen oder begleite die jungen Menschen zu ihren Terminen.
»Knackig on Heaven’s door«. Einige Gläser Tee später nehmen sich Ali, Feridoon und Mustafa zusammen mit ihrer Nachhilfelehrerin die nächste Werbeanalyse vor. Diesmal geht es um knackige Kekse. Währenddessen beginnt das Zentrum sich zu leeren. Miran, der junge Saz-Spieler, wird mit dem Auto abgeholt und auch Ardil schwingt sich auf sein Rad. Im Mig-Zentrum aber ist noch lange nicht Schluss.
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Info: Mig-Zentrum. Verein der Kulturellen Medialen Kommunikationsstelle der Migration
Das Mig-Zentrum ist ein Verein junger Menschen, der sich konstruktiv mit migrationsspezifischen Problemen auseinandersetzt und einen Raum für Austausch bietet. Er steht allen offen und wird aufgrund seiner Geschichte vor allem von deutschen, türkischen und kurdischen Jugendlichen getragen. Als interkultureller Verein ist er Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft interkultureller Jugendverbände (AGIJ).
Das Nachhilfeangebot des Zentrums gibt es mittwochs (16 – 18 Uhr) und sonntags
(13 – 15 Uhr).
Kontakt: Langenfelder Straße 53 | 22769 Hamburg | T. 040 – 43274256 mig-zentrum@outlook.de
Öffnungszeiten: Di. bis So., 14 – 18 h