Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2016, Rubrik Titelthema

Jugendverbandliche Ferienfreizeiten unter der empirischen Lupe

Ausgewählte Ergebnisse eines Forschungsprojektes des Jugendpfarramtes in der Nordkirche

Von Cora Herrmann, Ina Boesefeldt und Katrin Meuche, Jugendpfarramt in der Nordkirche

Die meisten Jugendverbände verbindet, dass sie Ferienfreizeiten für Kinder und Jugendliche anbieten.1 Mit dieser Angebotsvariante erreichen sie so viele Kinder und Jugendliche wie mit keinem anderen Angebot.2 Warum? Was passiert aus Sicht von Kindern und Jugendlichen während der Freizeiten? Was erleben sie dort? Was ist reizvoll für sie? Was bewegt sie auch im Nachhinein noch? Aber auch: Was ermöglichen Ferienfreizeiten den Jugendverbänden? Und: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für wen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das aktuelle Forschungsprojekt im Jugendpfarramt der Nordkirche.

Ziel der anwendungsorientierten Forschung ist es, die Qualitäten und Bildungspotentiale jugendverbandlich organisierter Ferienfreizeiten zu beschreiben. Auch sollen die Entwicklungsbedarfe dieser Angebotsvariante herausgearbeitet werden. Nicht zuletzt zielt das qualitative Forschungsprojekt darauf ab, einen Beitrag zur Stärkung (evangelischer) Kinder- & Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit zu leisten. Was zeigen ausgewählte Ergebnisse?

1. Jugendverbandliche Ferienfreizeiten sind dem Alltag entrückt – welche Bildungspotentiale zeigen sich in diesem Kontext?
Mit der Kategorien der Entrückung greifen wir auf, dass alle von uns interviewten Kinder und Jugendlichen, die uns mit besonders großer Begeisterung von den in ihrer Sprache besonders »coolen« und/oder »schönen« Erfahrungen berichteten, eins verbindet: Sie haben etwas für sie Herausragendes erlebt, das so in ihrer alltäglichen Lebenswelt sonst nicht vorkommt. Sie erleben Orte, Angebote, Handlungspraxen und – und dies scheint am bedeutsamsten zu sein – eine Gemeinschaft jenseits ihrer bisher gemachten Alltagserfahrungen. Dieses Arrangement scheint spezifische Momente der Ich-Reifung zu ermöglichen.

Neue Orte und Angebote. Die Kinder und Jugendlichen sind von Freizeiten begeistert, wenn diese Möglichkeiten der Begegnung und Aneignung von Neuem, für sie in ihrem Alltag nicht Erfahrbarem, bereithalten.

Zum einen bezieht sich das Erfahren von Neuem und Anderem auf besondere Orte. Altersübergreifend scheint dabei das Sein in der Natur Relevanz zu besitzen. Es kann das Zelten, das Draußen-sein, das Sein auf einem abgelegenem Platz, die erlebte Ruhe, der Sternenhimmel, Gischt im Gesicht, der erlebte Sturm sein. Bedeutsam ist hier erfahrene Alltagsdifferenz. So sagt Quilia, 16 Jahre:3
»Ich finde es ganz schön, da in der Freiheit zu sein so. Deshalb fand ich den Zeltplatz auch so cool, weil der halt mitten im Feld ist so. Also, das ist halt so eine GEMÄHTE Fläche, aber wirklich kein Meter weiter und da blüht wieder Hafer und Wiese und alles. Also, deshalb finde ich das halt ganz SCHÖN, mal NICHT in der Zivilisation zu sein. Und mal echt weit ab vom Schuss.«
Das Erleben eines anderen Raumes, weit weg von der vertrauten Zivilisation, bewegt somit.
Die Begeisterung bezieht sich zum anderen auf die Teilnahme an einem ganz anderen Angebot: Für Kinder ist es z.B. das Klettern im Hochseilgarten, der gemeinsame Floßbau oder das reich gefüllte Bastelzelt, welches unendliche Möglichkeiten bietet und darüber zum ›Himmel auf Erden‹ wird. Für Jugendliche sind es eher es die besonderen Workshopangebote, die Großgruppenspiele, die Disco im Kornfeld oder das Segeln. Es sind die tollen Angebote auf den Freizeiten. Die Angebote, die locken sollen und reell auch locken. Es sind aber auch die alltäglichen Angebote in einem nicht alltäglichen Setting – z.B. an einem unüblichen Ort oder zu einer unüblichen Zeit.
Wichtig ist, dass die Angebote die Interessen und im besten Falle die Herzen der Kinder und Jugendlichen treffen. Als Schlüssel für das Erreichen zeigen sich Alltagsdifferenz und Mitgestaltungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten. Illustriert werden soll das mit dem Erleben außeralltäglicher Angebote verknüpfte Potential anhand eines Zitats von Mara, 15 Jahre:
»[D]as Segeln: […] eigentlich hatte ich immer Angst beim Fähre fahren, dass die Fähre untergeht. Also das ist wirklich überhaupt gar nicht meins. Und dann hat es aber richtig Spaß gemacht. Und dann hatten wir, als wir […] den ersten Tag wirklich auf dem A-Meer waren, auch relativ starke Wellen […]. Und das war dann schon echt spaßig, da vorne zu stehen, und dann fliegt einem Wasser ins Gesicht. Und das war echt super. […] Dann hat mir auch sehr auf dem Schiff gefallen, dass ich einmal gesteuert habe. […] dann stand ich wirklich anderthalb Stunden am Steuer.«

Besondere Gemeinschaft. Das Erleben der Kinder und Jugendlichen ist zudem durch das Sein in Gemeinschaft geprägt. Deutlich wird dies daran, dass die Kinder und Jugendlichen im Moment des (in der Erzählung stattfindenden) Betretens des Ferienfreizeitgeländes oder -raumes beginnen im WIR zu sprechen. D.h. sie sprechen von sich fast nicht mehr als Einzelne, als ICH. Das tun sie allerdings fast durchgehend, wenn sie über etwas vor der Freizeit oder außerhalb der Freizeit sprechen. Mit Betreten des Ferienfreizeitenraums sprechen die Kinder und Jugendlichen ganz überwiegend nur noch von sich als Teil der Gruppe. Dieses Sein in Gemeinschaft prägt die Erzählungen aller von uns Interviewten. Und zwar unabhängig von der Art und Größe der Freizeit, vom Alter, vom Geschlecht und der Milieuzugehörigkeit. Bezogen auf das Sprechen im WIR spielt es auch keine Rolle, ob die Interviews während der Ferienfreizeit oder ein dreiviertel Jahr nach ihr geführt wurden. Generell scheint also zu gelten: Ferienfreizeiterleben ist Gemeinschaftserleben – auch im Nachhinein noch.

Zu etwas Herausragendem wird dieses Gemeinschaftserleben durch als besonders intensiv erlebte, gruppendynamische Prozesse und/oder durch das Erleben spezifischer »Kulturen der Gemeinschaft« – wie wir sie genannt haben. Illustrativ für besondere Gruppendynamiken möchten wir Wilma, 18 Jahre, sprechen lassen:
»Dieses Zusammenwachsen der Gruppe, das fand ich hier bei dieser Gruppe sehr extrem.«
Woran wir denken, wenn wir von eigenen Kulturen der Gemeinschaft reden, verdeutlicht ein exemplarisch ausgewähltes Zitat von Bahati, 11 Jahre:
»[W]enn du mit, ich sage mal, Leuten, die keine A-Camper sind oder so wegfährst, dann ist das immer so, ›oh, guck mal meine neuen Schuhe‹. Und: ›Oh, […] du hast aber nicht […] die gleichen Schuhe wie ich. Deine Schuhe sehen aber sehr günstig aus‹ und so was. Wo man dann denkt, ist doch EGAL, was für Schuhe man trägt […] ob die Brille eine Marke hat oder nicht. Und bei den A-Campern ist das halt, ich sage jetzt mal EGAL wie viel Geld man hat, wie wenig Geld man hat […]. Und es ist halt auch egal, dick, dünn, groß, klein, grün, blau, das […] spielt halt keine Rolle«.
Dieses Zitat zeigt auch, dass das Alltagentrückte aus Sicht der Kinder und Jugendlichen frei von einer Verwertungs- und Leistungsorientierung ist.

Das empirische Material verdeutlicht zudem, dass die beteiligten Haupt- und Ehrenamtlichen hier Einfluss nehmen können. Sie können über entsprechende konzeptionelle Ausgestaltungen das Entstehen solcher Gruppenprozesse und Gruppenkulturen unterstützen und ggf. auch fördern. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass Gemeinschaft von den Kindern und Jugendlichen im Rahmen unterschiedlicher Konstellationen erlebt wird. So ist zu beachten, dass Peer-Groups das Erleben von Ferienfreizeiten maßgeblich bestimmen – eine Herausforderung vor dem Hintergrund ihrer bedingten Arrangierbarkeit durch Ehren- und Hauptamtliche. Nichtsdestotrotz bzw. gerade deswegen bedarf es konzeptioneller Überlegungen zur pädagogischen Begleitung dieser Konstellation. So stellt sich zum Beispiel die Frage, wie Kinder und/oder Jugendliche eingebunden werden können, die nicht in sich bereits kennenden, stabilen Freundschafts- und/oder Geschwisterkonstellationen angereist sind – und die gibt es in unserem Sample, wenn auch zu einem deutlich geringeren Anteil.
Auch gilt es zu wissen, dass der Schlafplatz einer der wichtigsten Orte und der individuelle Rückzugsort der Kinder und Jugendlichen im Camp ist. Die Schlafplatzkonstellation umfasst im günstigsten Falle eher wenige Kinder und Jugendliche. Günstig ist es zudem, wenn die Kinder und Jugendliche (mit-)entscheiden können, mit wem sie ihren Schlafplatz teilen.

Wir müssen zudem wissen, dass die Kleingruppe (in nicht wenigen Freizeiten wird sie Familiengruppe genannt – ob das immer klug ist, sei mal dahingestellt) die gemeinsame Verknüpfung der Teilnehmenden mit den für sie zuständigen Ehren- und Hauptamtlichen ist. Diese Konstellation, die i.d.R. die Rahmung des Tages ist, bildet das arrangierte Setting der Begegnung, des Austausches, der (Für-)Sorge und des Feedbacks. Unser Material legt nahe, dass diese Kleingruppen nicht zu groß sein dürfen. Auch zeigt sich, dass es sinnvoll ist, Schlafplatz- und Freundeskreiskonstellationen nicht eins zu eins in diese Gruppen zu überführen. Im Gegenteil drängt es sich auf, für eine möglichst vielfältige und diverse Zusammensetzung dieser Gruppenkonstellation zu sorgen.

Gewusst werden muss nicht zuletzt, dass die Großgruppenkonstellation vor allem für die Identifikation der/des Einzelnen mit der Freizeit als Gruppengefüge bedeutsam ist. Als geeignete Möglichkeiten der Herstellung der Großgruppe zeigt sich gemeinsames aktives Handeln, geteiltes Erleben wie es z.B. (Wett-)Spiele oder gemeinsames Singen ermöglichen.

Deutlich wurde, dass die Gruppenkonstellationen durch die Ehren- und Hauptamtlichen zu pflegen und überwiegend auch herzustellen sind. Auch Peerkonstellationen bedürfen ihrer Aufmerksamkeit, denn das Erfahren von Zufriedenheit im Camp erfordert ein Gefühl des Aufgehoben-seins in allen vier unterschiedlichen Figurationen der Gemeinschaft. Zu berücksichtigen ist dabei zudem, dass alle Gruppenkonstellationen immer eines eigenen Ortes bedürfen, den sie für sich gestalten können. Haben sie diesen, treten sie in den Erzählungen der Kinder und Jugendlichen sehr deutlich in Erscheinung. Haben sie diesen nicht, bilden sie sich vergleichsweise wenig ab.

Damit verdeutlich das empirische Material die Breite der Verantwortung der Ehren- und Hauptamtlichen bezogen auf das Entstehen einer anderen Gemeinschaft.

Momenten der Ich-Reifung. Der dritte Erfahrungsbereich, der die Kinder und Jugendlichen bewegt, der gemäß ihrer Erzählungen ihre Herzen erreicht, umfasst Beschreibungen über Momente des über sich Hinauswachsens. Eigene Grenzen überschreiten! Mit einem guten Gefühl! Das erleben Kinder und Jugendliche während Ferienfreizeiten gleichermaßen. Es ist etwas, das beeindruckt, etwas woran man sich gern erinnert und zwar während der Freizeiten und auch ein dreiviertel Jahr später noch: erst nicht getraut und dann doch! Etwas (Neues) geschafft! Diese individuelle Leistung ist oftmals der Höhepunkt des Camps! Sich (als Erste) etwas zugetraut haben. Erfolgserlebnisse! Das Kommando übernommen haben, selbst »steuern« und es gelingt! Vertrauen geschenkt bekommen und es ausfüllen können; im Gewachsensein über sich hinaus wachsen!

Für Kinder stellt die Bewältigung von »Heimweh« oft eine solche Gelegenheit zum Wachsen dar. Bezogen auf Kinder und Jugendliche zeigen sich Momente des Überwindens bis dato gültiger Grenzen nicht selten im Zusammenhang mit der Bewältigung von Höhenangst. Tamino, 12 Jahre, sagt dazu:
»Ich bin eigentlich [einer], der Höhenangst hat. […] Ich wollte es mal ausprobieren. Sonst bin ich ja immer einer, der […] sich gar nicht traut, ganz nach oben zu klettern. [Hier habe ich] […] es aber gemacht, ich wollte […] mal gucken, […] wie das so ist, ganz oben zu sein.«

Das Zitat von Nick, 17 Jahre, verdeutlicht das Wachstumspotential übertragener, punktueller (Mit-)Verantwortung und der Möglichkeit sich in dem Alltagsentrückten zu erproben:
»So im sich mit Menschen unterhalten und Sachen vermitteln, hat mich das echt weit gebracht. Mein Selbstwertgefühl hat sich […] ich war damals ein totales Wrack, was so Selbstwertgefühl anging, aber die haben das total hoch gezogen. Mir ging es danach immer total gut. […] Einfach Sachen, die man zu Hause nicht machen würde, weil man sich schämt, sind hier total normal.«

In unserem Sample ist uns kein Kind, kein Jugendlicher begegnet, der/die vergleichbare Momente des Über-sich-hinaus-Wachsens beschrieben hat und nicht von ihnen und zugleich immer auch von der Freizeit total begeistert war. Nicht nur aus diesem Grunde halten wir solche Erfahrungen für bedeutsam. Entsprechend gehen wir davon aus, dass es der richtigen Impulse bedarf und damit konzeptioneller Antworten darauf, wie es möglich ist, während der Freizeiten Erfahrungen der Ich-Reifung machen zu können. Beachtlich in diesem Zusammenhang scheint uns, dass die untersuchten evangelischen Freizeiten Kindern und Jugendlichen erstaunlich wenig Möglichkeiten der Mitgestaltung und -bestimmung offerieren. Und das obwohl empirisch nachgewiesen ist, dass es keine »Methode« gibt, die so viel Zuwachs an erlebter Selbstwirksamkeit mit sich bringt, wie die Etablierung partizipativer Strukturen.4

Vor dem Hintergrund des Skizzierten stellt sich die Frage, was diese Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen für die Jugendverbände und ihre ›Mutterorganisationen‹ implizieren.

2. Zur Bindungspraxis jugendverbandlicher Ferienfreizeiten: Was ist das Evangelische an evangelischen Kinder- und Jugendfreizeiten?
Es lässt sich beobachten, dass der Umgang mit den eindrücklichen Naturerlebnissen, der besonderen Gemeinschaft und den herausragenden Ich-Reifungen nur sehr selten und auch eher zögerlich und indirekt in den Kontext der frohen Botschaft gestellt wird. Es ist selten die Rede von der Schöpfung, es wird kaum gesprochen von der heiligen, der christlichen Gemeinschaft und die Prozesse des Über-sich-hinaus-Wachsens werden nicht in den Kontext von Geschöpflichkeit und damit von Gottesebenbildlichkeit gestellt. Obgleich bei letzterem, z.B. die großartige Möglichkeit bestünde, symbolisches Sprechen einzuüben und vertraut zu werden mit Wertvollsein an sich, weil ich von Gott gewollt bin. Warum ist das so?

Ein Blick in den Umgang mit den religiösen Praxen auf den Ferienfreizeiten schärft den Befund und zeigt mögliche Fragen und Herausforderungen auf, die sich draus ergeben:
Im Sample tauchen sechs unterschiedliche Formen religiöser Praxen auf. Im Folgenden werden vier kurz und zwei ausführlicher beschrieben.

Andachten sind unterschiedlich interaktiv, unterschiedlich partizipativ, unterschiedlich regelmäßig und unterschiedlich selbstverständlich. Sie werden aber immer mit dem gemeinsamen Singen in Zusammenhang gebracht.

Biblische Geschichten sind uns in den Erzählungen der Kinder z.B. in Form von Theaterstücken begegnet. Hier ließ sich beobachten, dass Kinder Theaterstücke relativ passiv konsumieren und sich damit den biblischen Stoff kaum zu eigen machen. Dies fordert zur interaktiven altersgerechten Auseinandersetzung auf.

Gebete werden erwähnt im Zusammenhang mit Andachten und Gottesdiensten. Selten werden sie geschildert im Kontext von (gemeinsamen) Mahlzeiten und noch seltener im Zuge eines Einschlafrituals, des Abendgebetes.

Gespräche über den Glauben gibt es konzeptionell ebenso wie nicht konzeptionell verankert. In der Regel hören wir von den Kindern und Jugendlichen, dass intensiv über »Gott und die Welt« gesprochen wird, zumeist allerdings ohne dass Gott benannt, eingeordnet oder in Beziehung gesetzt wird.
Lieder gehören zu den Kernstücken der religiösen Praxis auf evangelischen Kinder- und Jugendfreizeiten. Das zieht sich konsequent durchs ganze Sample. Immer wieder Lieder! Sie tragen viele Kinder und Jugendliche durch die Freizeiten und sie tragen die Freizeit in die alltägliche Lebenswelt. Die Lieder werden auch nach den Ferien noch gesungen, wecken Erinnerungen und holen das Camp-Feeling nach Hause. Singen zieht sich durch den Tag, kann die Tagesstruktur positiv unterstützen, so schildern es die Teilnehmenden. Zudem wird von den Kindern und Jugendlichen das gemeinsame Singen als Geborgenheit und Sicherheit gebendes Element beschrieben, es stellt überdies Gemeinschaft her und führt dazu, so wird es erzählt, dass das Gefühl der Freiheit in Gemeinschaft entsteht. Und das drückt sich z.B. so aus: »manche Lieder sind ja sehr fröhlich«, »irgendwie enthusiastisch«. Diese »Lieder mochte ich eigentlich lieber«, »[w]eil das irgendwie so SOMMER« »und alle singen schön mit«. Schön: nicht richtig, man kann grölen und falsch singen und ist aufgehoben in der Menge. Und es gibt »niemand, der nicht mitsingt«, der »nicht gerne mitmacht«, »man fühlt sich nicht gezwungen«, »man kommt so rein, wird lauter alle stehen auf und klatschen«, so Quilia, 16 Jahre.
Die singende Gemeinschaft markiert eine Besonderheit von Freizeiten, denn in den Schulen ist sie maximal der Ausnahmefall und singende Familien gibt es auch nur noch sehr selten. Die singende Gemeinschaft hat nur noch wenige Orte und Zeiten, wird aber von den Kindern und Jugendlichen als eine sehr positive und zentrale Erfahrung beschrieben.

Und dies sei noch erwähnt im Zusammenhang mit den Liedern auf evangelischen Kinder- und Jugendfreizeiten: Kirchenlieder ja gern, aber die schönen. Dieser Kommentar weist darauf hin, dass es (mindestens) zwei Kategorien von Kirchenliedern gibt: die schönen und die nicht-schönen. Schöne Kirchenlieder, so wird gesagt, sind die Lieder, bei denen man gern mitsingt. Hier taucht bereits auf, was sich in den folgenden Beobachtungen zur religiösen Praxis – Gottesdienst – noch verstärken wird: Wie kann es gelingen, zur vermeintlich und bisweilen wohl auch tatsächlich verstaubten Tradition eine Brücke zu bauen? Die Geschichten, die Texte, die Liturgie, die Lieder, die durch die Zeiten gegangen sind und so viel gesehen haben.

Der Gottesdienst ist nur auf wenigen Freizeiten eine fest integrierte religiöse Praxis. In unserem Sample gibt es Gottesdienste auf zwei der Freizeiten. Auf einer geht die Schilderung über die Erwähnung seiner selbst nicht hinaus. Auf der anderen wird über den Gottesdienst zentral und ausführlich berichtet: Auf dieser Ferienfreizeit hat der Gottesdienst einen Ort – einen, der als besonders schöner Ort empfundenen wird. Das ist wichtig und vielleicht liegt hier nicht zufällig eine Analogie zu unseren Kirchengebäuden. Und der Gottesdienst hat eine feste, eine abendliche Zeit. Gemeinschaft scheint somit nicht nur feste, sondern auch schöne Orte und zudem feste – dem Alltag entrückte – Zeiten zu brauchen. Auf der Freizeit gehört der Gottesdienst zum Kennenlernen dazu. Mit ihm beginnt das Campprogramm und der Gottesdienst zählt fraglos zum Tagesablauf. Für einen großen Teil der Befragten ist er einer der oder sogar der Höhepunkt der Freizeit. Man kann runter kommen, den Tag rekapitulieren und nachdenken, man kann weinen und wird getröstet. Es können Gefühle gezeigt werden, ohne dass es peinlich ist. Dieser Gottesdienst ist konzeptionell an der bekannten Sonntags-
liturgie orientiert. Die Teilnehmenden erwähnen in ihren Schilderungen neben den Liedern und der Predigt, Fürbitten, Gebete und Lesungen. Zudem gibt es zentrale Aktionen – das ist abweichend von der »normalen« Sonntagsliturgie – hier liegt aber etwas sehr Bedeutsames für die Jugendlichen. Die Aktionen ermöglichen Interaktion und das ist möglicherweise ein zentrales Element des Jugendgemäßen. Die Aktionen zwingen – und dies wird nicht nur positiv erlebt, sondern auch kritisiert – zur Auseinandersetzung mit sich und anderen. Der große Gewinn dabei ist, dass man sich und andere besser kennenlernt. Die Herausforderung liegt in der Überwindung, sich zu öffnen und dies nicht selbstgewählt hinsichtlich des Zeitpunktes, des Themas und des Gegenübers zu tun. Die Predigt dauert knapp fünf Minuten. Sie bringt eine klare Botschaft auf den Punkt. Die Aussage ist verstehbar. Und es sind Laien die hier predigen. Denn der Gottesdienst wird ausschließlich von Ehrenamtlichen verantwortet. Das ist grundreformatorisch und es lässt sich für dieses Beispiel sagen: Das bringt es! Die Ehrenamtlichen sind mit ihrer Position, ihrem Glauben hier deutlich präsent.

Es zeigt sich allerdings keine in den Interviews wahrnehmbare Brücke in die religiöse Gemeinschaft außerhalb des Camps. Diese Form der Predigt und die damit in Verbindung stehenden Aktionen führen dazu, dass sich die Teilnehmenden angesprochen und beteiligt fühlen – sie können hören und werden gehört. Es heißt dann nicht »Oh nee, jetzt schon wieder eine Stunde sitzen und nichts sagen«. Der erlebte Gottesdienst außerhalb der Freizeit, denn dieser war gerade gemeint, wird offenbar verbunden damit, mundtot zu sein: nicht angesprochen, nicht gefragt.

Interviewer/in: »Und was war dir an den Gottesdiensten besonders wichtig?« Urs: »Dass man seine Meinung sagen kann. Wenn einem zum Beispiel das zu nahe geht, weil es ging auch um STERBEN, Tod und Trauer und so was und, dass man da auch nicht alleine war, wenn man jetzt zum Beispiel angefangen hat zu weinen. Das […] war mir halt wichtig. Dass dann nicht gesagt wird, ›lass den mal weinen, das ist halt so.‹ […S]ondern, da war es halt auch so, da hat sich jeder um jeden gekümmert und das war mir wirklich am wichtigsten. Wenn man da dann sitzt und traurig war oder so, dass man in Arm genommen wird. Von […den] anderen, die man vielleicht NICHT kennt, oder die einen nicht mögen. Oder DIE du nicht so gerne magst. Also da wurde man nicht alleine gelassen. (.) Das war SEHR wichtig da.«

Hier ist sie wieder, die die wir meinen: die »Gemeinschaft der Heiligen«. Das ist keine alltägliche Form der Gemeinschaft, das ist eine, die sich als sonntäglich beschreiben lässt. Hier ist der Nächste der räumlich Nächste und nicht der, der mir am liebsten ist!

Zwei weitere Stimmen, um noch deutlicher herauszuschälen, welche Herausforderungen möglicherweise auf uns warten:
»GOTTESDIENST (.) hört sich einfach überhaupt. […] Also, das ist […] irgendwie nicht böse gemeint, aber ich finde, […] es hört sich nicht einladend an. […W]eil man die Gottesdienste von der Konfirmation kennt oder […von] Weihnachten oder so. Und die sind halt irgendwie so bisschen einschläfernd. […A]ber da das nicht der FALL ist […] finde [ich], dass das NICHT sehr kirchlich ist [-] ist es eine GUTE Sache.« »[I]ch habe das erste Mal erlebt, dass ein Gottesdienst nicht langweilig ist« »Es fordert wirklich auf im Gottesdienst Spaß zu haben! Das hatte ich noch nie!« (Quilia, 16 Jahre).

Oder wie Felicia, 14 Jahre, es ausdrückt:
»[D]iese Gottesdienste sind total berührend und man vergisst die Zeit irgendwie«.

Hier wird unseres Erachtens etwas explizit, was sich in unserem empirischen Material immer wieder zeigt und mit Befunden anderer Studien korrespondiert5: insbesondere für Jugendliche verliert bzw. hat institutionalisierte Religiosität (fast) keine Alltagsrelevanz (mehr).

D.h.: Es gibt das religiöse Erleben, die religiösen Praxen im Camp (wenn es sie gibt). Diese sind insbesondere für die Jugendlichen zentral bedeutsam, berührend und lassen sie in ihrem individuellen Glauben wachsen. Und es gibt die religiösen Praxen außerhalb, das religiöse Erleben, dass sie mit den Sonntagsgottesdiensten, meist aus der Zeit der Konfirmation und Weihnachten, verbinden. Diese bezeichnen sie, im Gegensatz zu den religiösen Erfahrungen in den Camps, als kirchlich. Und kirchlich wird hier nicht als positive Zuordnung verstanden. Die religiösen Erfahrungen in Camps führen nicht bzw. kaum zu einem Wachsen in und an die Kirche – die Kirche als institutionalisierte Form der christlichen Gemeinschaft. Das bedeutet, dass die Institution Kirche mit ihren Angeboten individuelle Glaubenszuwächse schafft – das ist unbestritten großartig und wertvoll – eröffnet aber keine Zugänge zur Christlichen Gemeinschaft in ihrer institutionalisierten Form.

Daraus schlussfolgern wir: Es muss eine gemeinsame Entwicklung der institutionalisierten Kirche und den (individuellen) religiösen »Experimentier- und Spielwiesen« der Kinder und Jugendlichen geben, um nicht in die paradoxe Situation zu gelangen als Institution Kirche selber ausschließlich zur Individualisierung von Glauben beizutragen. Nicht Gemeinde stärken, wie sie ist, sondern Gemeinde verändern und stärken!

Generalisierter heißt dies unseres Erachtens: Dem Alltag Entrückten wohnt also neben der Ermöglichung individueller (Wachstums-)Prozesse auch ein deutliches Anregungspotential für die Institution (Kirche) inne. Lässt sich die jeweilige zum Jugendverband gehörende Erwachsenenorganisation also nicht auf einen Dialog und das Aufgreifen der Impulse jugendverbandlicher Strukturen ein, beraubt sie sich bedeutsamer Entwicklungschancen, bzw. manifestiert sie möglicherweise sogar nicht intendierte Entwicklungsprozesse. Zugleich sind aber auch die jugendverbandlichen Akteure nicht aus der Verantwortung des Anstoßens einer gemeinsamen Entwicklung zu entlassen – ohne dabei allerdings das spezifische eigene Profil und Potential ihrer Angebote aus den Augen zu verlieren.

3. Jugendpolitische Forderungen
Soll diese »einzigartige, [bisher insbesondere] das Leben von [Kindern und] Jugendliche[n] noch weit danach prägende« »Jugendarbeit mit Ortswechsel«6 auch zukünftig möglichst vielen und möglichst unterschiedlichen Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht werden, hat dies (jugend-)politische Konsequenzen:

• Als unerlässlich für eine Stabilisierung des Bestehenden präsentiert sich eine verlässlichere finanzielle Absicherung jugendverbandlicher Strukturen, u.a. eine angemessenere Grundförderung. Denn erst über die längerfristige Absicherung von Hauptamtlichen-Stellen beim Jugendverband kann eine fachlich angemessene Begleitung, Qualifizierung und wertschätzende Anerkennung von ehrenamtlichen Campteamern/innen erfolgen. Auf den, aus der Sicht der Ehrenamtlichen in diesem Zusammenhang deutlich bestehenden Bedarf verwiesen z.B. die Daten von Astrid Hübner.7 Die Relevanz und den Bedarf an genügend ehren- und hauptamtlichen Campteamern/innen verdeutlichen die Daten von Wolfgang Ilg – unter anderem in diesem Heft.

• Vor dem Hintergrund des sichtbar gewordenen religiösen, sozialen und individuellen Bildungspotentials des non-formalen Bildungsarrangements Ferienfreizeit und dem Wissen um die nach wie vor bestehenden ungleichen Bildungschancen im formellen Bildungssystem in Deutschland (herausforderungsvoll nicht zuletzt im Kontext der anstehenden Integration geflüchteter Kinder und Jugendlichen) sowie den anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen im Kontext stetig wachsender sozialer Ungleichheiten, präsentiert sich darüber hinaus eine Ausweitung dieser Angebotsvariante – mit entsprechender finanzieller Unterstützung der Jugendverbände durch öffentliche Gelder – als ratsam. Auch kann eine Erhöhung der Zuschussmöglichkeiten für die Teilnahme an Ferienfreizeiten für Familien mit finanziellem Unterstützungsbedarf nur hilfreich sein.


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Literaturverzeichnis
• Albus, Stefanie / Greschke, Heike / Klingler, Birte / Messmer, Heinz / Micheel, Heinz-Günter / Otto, Hans-Uwe / Polutta, Andreas 2010: Wirkungsorientierte Jugendhilfe. Abschlussbericht der Evaluation des Bundesmodellprogramms »Qualifizierung der Hilfen zur Erziehung durch wirkungsorientierte Ausgestaltung der Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarungen nach §§ 78a ff SGB VIII«.
• Calmbach, Marc / Borgstedt, Silke / Borchard, Inga / Thomas, Peter
Martin / Flaig, Berthold Bodo 2016: Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland.
• Hübner, Astrid 2010: Freiwilliges Engagement als Lern- und Entwicklungsraum. Eine qualitative empirische Studie im Feld der Stadtranderholungsmaßnahmen.
Koll, Julia / Kretzschmar, Gerald 2014: Gottesdienst im Plural. Zwischen Gewohnheit, Desinteresse und Aufbruch In: EKD: Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft.
• Landesjugendring NRW 2010: Wirksamkeitsdialog Jugendverbandsarbeit – eine Zwischenbilanz Landesjugendring NRW e.V.
• Mayring, Philipp 2003: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken.
Pickel, Gert 2014: Jugendliche und junge Erwachsene. Stabil im Bindungsverlust zur Kirche. In: EKD: Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft.
• Seckinger, Mike / Pluto, Liane / Peucker, Christian / Gadow, Tina 2009: DJI-Jugendverbandserhebung: Befunde zu Strukturmerkmalen und Herausforderungen. Projekt Jugendhilfe und sozialer Wandel – Leistungen und Strukturen«.


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Anmerkungen:
1  Vgl. Seckinger et al. 2009: 23
2  Vgl. Landesjugendring NRW 2010: 30
3  Die verwendeten Namen sind anonymisiert und entsprechen nicht den Originalnamen der Interviewten. Das Alter wurde nicht verändert.
4  Vgl. Albus et al. 2010: 155ff.
5  Vgl. dazu Pickel 2014: 8.; Koll/ Kretzschmar 2014; Calmbach et al. 2016: 339ff.
6  Groschwitz, Stephan im Rahmen eines Vortragkommentars im April 2016 im Rauhen Haus.
7  Vgl. Hübner 2010: 366ff