Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2016, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

»Wählen ab 16« wirkt!

Wieso eine Herabsetzung des Wahlalters die Wahlbeteiligung nachhaltig steigert und die soziale Spaltung senkt

Von Dr. Niklas Im Winkel, Bertelsmann Stiftung

Eine Absenkung des Wahlalters bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre kann die Wahlbeteiligung nachhaltig erhöhen. Entscheidend dafür sind die Erstwähler: Steigt deren Beteiligung durch »Wählen ab 16«, dann erhöht das langfristig und nachhaltig auch die Gesamtwahlbeteiligung. Allerdings ist »Wählen ab 16« kein Selbstläufer. Nur richtig eingeführt, wird es ein Erfolg. Dafür müssen zusammen mit der Senkung des Wahlalters informierende und aktivierende Begleitmaßnahmen und Projekte in den Schulen und in der außerschulischen Jugendbildung etabliert werden. Das ist alleine schon deshalb wichtig, weil die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung bei jungen Wählern noch stärker ausgeprägt ist als bei allen Wahlberechtigten.

Junge Bürger gehen in Deutschland nur noch unterdurchschnittlich häufig zur Wahl und der Trend zeigt weiter nach unten. Auch bei der Bundestagswahl 2013 lagen die Beteiligungsquoten der jungen Altersgruppen deutlich unter der Gesamtbeteiligung von 71,5 Prozent. Mit zunehmendem Alter stieg die Wahrscheinlichkeit zur Wahl zugehen an. Spitzenreiter war die Gruppe der 60- bis 70-Jährigen, die zu fast 80 Prozent teilgenommen hat. Gleichzeitig wird der Anteil der Erstwähler am Elektorat aufgrund des demographischen Wandels immer kleiner. Seit der Bundestagswahl 1980 hat sich ihr Anteil nahezu halbiert und auch die Zahl der unter 30-Jährigen ist um mehr als ein Viertel gesunken.

Soziale Spaltung der Wahlbeteiligung. Es gibt also immer weniger junge Wahlberechtigte, die auch noch immer seltener zur Wahl gehen. Und das ist noch nicht alles : Die Jungwähler sind dazu in den Wahlergebnissen nicht nur unter-, sondern vor allem auch sozial verzerrt repräsentiert. Denn die Wahlbeteiligung junger Wähler ist sozial stark selektiv. Was Studien der Bertelsmann Stiftung in Bezug auf politische Teilhabe grundsätzlich gezeigt haben, gilt bereits in den jüngsten Altersgruppen : Je niedriger der formale Bildungsgrad, je geringer das Haushaltseinkommen und je prekärer das Lebensumfeld, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. Diejenigen, die in sozio-ökonomisch benachteiligten und bildungsfernen Haushalten aufwachsen, erleben keine politische Sozialisation – weder im Elternhaus noch im Freundeskreis oder im Sportverein. In der Folge beteiligen sie sich deutlich seltener an Wahlen. Umfragewerte aus dem GLES (German Longitudinal Election Study) zur Bundestagswahl 2013 zeigen: Die soziale Spaltung bei jungen Wählern ist dreimal stärker ausgeprägt als bei allen Wahlberechtigten. Während die Wahlbeteiligung der bildungsschwächsten Wahlberechtigten im Durchschnitt nur um 15,6 Prozentpunkte unterhalb der Beteiligung der bildungsstärksten Gruppe lag, betrug dieser Unterschied in der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen ganze 51,9 Prozentpunkte.
Das zeigt zwar, wie wichtig es ist, dass sich Akteure aus Politik und Zivilgesellschaft um die Erst- und Jungwähler kümmern und Maßnahmen ergreifen, um deren politische Beteiligung zu steigern. Aber dass »Wählen ab 16« die Gesamtwahlbeteiligung erhöhen soll, erschließt sich vor diesem Hintergrund noch nicht. Wieso hat die Herabsetzung des Wahlalters eine positive Wirkung auf die Beteiligung? Gegenmittel. Dass dies tatsächlich so ist, zeigt die aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung: Die Absenkung des Wahlalters bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre würde – richtig umgesetzt – einen Beitrag zur nachhaltigen Steigerung der Wahlbeteiligung leisten. Ausgangspunkt dafür ist die hohe Bedeutung der Erstwählerbeteiligung. Die erste Wahl ist wegweisend für den individuellen (Wahl-)Lebenszyklus, d.h. die Wahrscheinlichkeit, mit der man im weiteren Leben an Abstimmungen teilnimmt. Denn politische Partizipation ist pfadabhängig: Ob Bürger heute wählen, beeinflusst stark, ob sie auch zukünftig zur Wahl gehen. Nehmen junge Wähler an ihrer ersten Abstimmung nicht teil, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, auch beim zweiten Mal fernzubleiben. Nicht wählen zu gehen, kann für sie normal werden und sie schlagen gleich zu Beginn eine Karriere als struktureller Nichtwähler ein. Nutzen junge Bürger dagegen gleich ihre erste Wahlmöglichkeit, setzt das positive Wirkungen frei. Nehmen sie auch an der zweiten und dritten Abstimmung teil, entwickelt sich eine Wahlgewohnheit und wählen zu gehen wird selbstverständlich. Mit der ersten Wahl werden also schon die Weichen gestellt. Sie beeinflusst, wie sich die individuelle Wahlbeteiligung langfristig entwickelt. Wie stark sich dies wirklich in der langfristigen Gesamtwahlbeteiligung niederschlägt, zeigen drei Simulationsberechnungen. Was passiert, wenn nichts passiert und die Beteiligung der Erstwähler auf dem heutigen Niveau bleibt, zeigt das Basisszenario. Dann wird durch den demographischen Wandel die Wahlbeteiligung langfristig leicht um 3,5 Prozentpunkte auf 68 Prozent im Jahr 2049 absinken.
Abwärtsspirale. Was allerdings passiert, wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt und die seit den 1980er Jahren kontinuierlich sinkende Erstwählerbeteiligung weiter abnimmt, zeigt eine zweite Simulation (Demobilisierungsszenario): Würde die Wahlbeteiligung in der jüngsten Altersgruppe um nur ein Drittel sinken, fiele alleine deshalb die Gesamtbeteiligung bei Bundestagswahlen bis 2049 auf unter 60 Prozent (57,8 Prozent). Und diese Annahme ist nicht unwahrscheinlich, denn zunehmend kommen junge Menschen ins wahlfähige Alter, die in politikfernen und klassischen Nichtwähleraushalten aufgewachsen sind und deren Wahlwahrscheinlichkeit nur gering ist. Mobilisierungsszenario. Dass nicht nur eine negative Entwicklung möglich ist, sondern hier auch großes Potenzial schlummert, zeigt das Mobilisierungsszenario: Gelingt es, die Teilnahmequote in der jüngsten Wählergruppe nur um ein Drittel zu erhöhen, prognostiziert dieses langfristig einen Anstieg der Gesamtwahlbeteiligung von 71,5 Prozent bei der Wahl 2013 auf wieder knapp 80 Prozent im Jahr 2049.
Die Erstwahlwahrscheinlichkeit ist also ein strategischer Hebel: Gelingt es, durch früheres Wählen die Erstwählerbeteiligung zu erhöhen, ist »Wählen ab 16« eine wirkungsvolle und nachhaltige Strategie zur Stabilisierung und Steigerung der Gesamtwahlbeteiligung. Aber warum erhöht eine Senkung des Einstiegswahlalters die Beteiligungsquote der jüngsten Wähler? Wieso macht es einen Unterschied, ob junge Menschen mit 16 oder mit 18 das erste Mal an einer Wahl teilnehmen dürfen? Weshalb das so ist, zeigen viele Studien : Wenn junge Bürger mit 18, 19 oder 20 Jahren das erste Mal wählen dürfen, befinden sie sich in einer sehr mobilen Phase. Ihre Lebensumstände verändern sich stark. Sie treffen viele wichtige Entscheidungen, ziehen aus dem Elternhaus aus, verlassen ihre Heimatstadt und wechseln den Freundeskreis und das sozial Milieu. Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren sind dagegen meistens noch ins bekannte gesellschaftliche Umfeld von Elternhaus, Freundeskreis, Vereinen und Schulen eingebunden. Diese biographischen Unterschiede spiegeln sich – empirisch gut belegt – in einer deutlich höheren Wahlbeteiligung wider. Gute Beispiele. Dort, wo 16- und 17-Jährige bereits das Wahlrecht besitzen – zum Beispiel in Österreich und den drei deutschen Bundesländern Bremen, Hamburg und Brandenburg –, nehmen sie häufiger an Wahlen teil als die nachfolgenden Altersgruppen. So lag die Beteiligung der jüngsten Wähler bei der Hamburger Bürgerschaftswahl im Jahr 2015 zwar knapp unterhalb des Landesdurchschnitts, aber zehn Prozentpunkte über der der 18- bis 24-Jährigen: Die 16- und 17-Jährigen hatten zu 52,1 Prozent teilgenommen, die 18- bis 24-Jährigen nur zu 42,3 Prozent und selbst die 25- bis 34-Jährigen deutlich seltener (47,3 Prozent). Bei den Landtagswahlen in Brandenburg 2014 lag die durchschnittliche Wahlbeteiligung im Jahr 2014 bei nur 48,5 Prozent und von den 16- und 17-Jährigen gingen lediglich 41,5 Prozent zur Wahl. Das ist eine unterdurchschnittliche und besorgniserregend geringe Quote – im Vergleich zu den nächstälteren Gruppen war dies aber immer noch ein gutes Ergebnis. Denn von den 18- bis 20-Jährigen (34 Prozent) und den 25 bis 29-Jährigen (30 Prozent) hatte nur noch etwa ein Drittel, von den 21- bis 24-Jährigen (26,2 Prozent) sogar nur noch ein Viertel an den Landtagswahlen teilgenommen.
Warum genau jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um bei Bundestagswahlen das Wahlalter zu senken, zeigt die Entwicklung des politischen Interesses bei Jugendlichen. Diese entscheidende Determinante der Wahlbeteiligung ist in den letzten Jahren nämlich deutlich angestiegen. Eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre könnte daher einen bereits existierenden positiven Trend stabilisieren und verstärken. Denn es ist nicht nur so, dass politisch Interessierte häufiger zur Wahl gehen als politisch weniger Interessierte. Der Zusammenhang gilt auch umgekehrt: Das Wahlrecht und die Teilnahme an Wahlen stärken das politische Interesse. Im Jahr 2004 interessierten sich in Österreich lediglich 8,1 Prozent aller 16- bis 17-Jährigen »sehr« für Politik. Nach der Herabsetzung des Wahlalters im Jahr 2007 stieg dieser Anteil auf 21,8 Prozent. Gleichzeitig verringerte sich der Anteil der »gar nicht« Interessierten von 14 auf nur noch 6,6 Prozent. Insgesamt hat sich dort nach Einführung von »Wählen ab 16« der Anteil der interessierten Jugendlichen von gut einem Drittel auf fast zwei Drittel nahezu verdoppelt. Die Erfahrungen aus Österreich zeigen: Jugendliche, die mitentscheiden dürfen, sind auch motiviert, sich zu informieren und sich mit politischen Inhalten auseinanderzusetzen. Kein Selbstläufer. Eine Herabsenkung des Wahlalters ist allerdings kein Selbstläufer. »Wählen ab 16« wird nur dann ein Erfolg, wenn dadurch die Erstwahlwahrscheinlichkeit deutlich erhöht wird. Dafür ist es notwendig, die jungen Wähler auf ihre erste Stimmabgabe vorzubereiten. Eine Reform des Wahlrechts muss daher entsprechend flankiert werden. Nur wenn die Jugendlichen durch nachhaltige Maßnahmen aktiviert und begleitet werden, kann »Wählen ab 16« die gewünschten Wirkungen entfalten. Die Chancen dafür stehen sehr gut, denn durch das aktive Wahlrecht gewinnt politisches Wissen für Jugendliche an Relevanz und der Stellenwert politischer Bildung nimmt zu. Die Jugendlichen sind offen für Information und Förderung des Wissens über politische Inhalte. Begleitende Maßnahmen können hier in einer wichtigen Phase der politischen Sozialisation einen entscheidenden Impuls geben. Ideale Voraussetzungen, um politisches Engagement substanziell zu fördern. Und dort, wo 16- und 17-Jährige bereits an Wahlen teilnehmen dürfen, entstehen schon heute viele kreative Projekte. Die Initiatoren der entsprechenden Kampagnen und Maßnahmen sind neben den Landesparlamenten und Ministerien zivilgesellschaftliche Organisationen und Vereine, insbesondere die Landesjugendringe. Ein bekanntes Beispiel sind auch die Juniorwahlen, eine realistisch gestaltete Probeabstimmung, die der Berliner Verein Kumulus e.V. durchführt. Wie differenziert junge Hamburger wählten. Obschon solche Maßnahmen fast immer nur einen kurzfristigen Zeithorizont haben, können sie sehr wirkungsvoll sein. Dies zeigt das Beispiel Hamburg, wo die 16- und 17-Jährigen durch vielfältige Maßnahmen auf ihre erste Bürgerschaftswahlen vorbereitet worden sind. Der Erfolg lässt sich hier am Wahlverhalten der jüngsten Wähler ablesen: Über 40 Prozent der 16- und 17-Jährigen panaschierten, d.h. sie verteilten ihre Stimmen auf unterschiedliche Parteien bzw. Wahlvorschläge – insgesamt taten das nur 15 Prozent der Hamburger Wähler. Und nicht einmal die Hälfte der jüngsten Wähler häufte alle ihre Stimmen auf einen Kandidaten bzw. eine Partei an – von den Älteren taten dies fast drei Viertel. Die 16- und 17-jährigen nutzten die vielfältigen Möglichkeiten des Hamburger Wahlsystems also besser und häufiger als alle anderen Altersgruppen. Gleichzeitig stimmten sie deutlich seltener ungültig ab als die älteren Wähler. Denn durch die begleitenden Maßnahmen und Projekte waren die jüngsten Wähler über das komplexe Hamburger Wahlsystem einfach besser informiert. Das grundsätzliche Ziel der Begleitmaßnahmen ist es, jungen Menschen demokratische Bildung und Werte zu vermitteln und ihre politische Sozialisation zu unterstützen. Sie sollten jedoch nicht nur kurzfristig angelegt sein, sondern dauerhaft verankert werden. Gemeinsam mit einer Herabsetzung des Wahlalters auf Bundesebene sollten daher vor allem in den Schulen nachhaltige und langfristige Maßnahmen etabliert werden. Insbesondere Wahlen gehören in die Schule. Politische Bildung und praktische Demokratieerfahrung sollten fester und selbstverständlicher Bestandteil des Schulalltag und des Unterrichts sein. Schüler sollen demokratische Prinzipien erleben und in Diskussionen mit Lehrern und Mitschülern demokratische Spielregeln sowie Teilnahme an schuldemokratischen Prozessen erlernen. So können sie erste demokratische Selbstwirksamkeitserfahrungen machen. Das Potenzial liegt auf der Hand: Denn in den Schulen sind fast alle 16- und 17-Jährigen sehr gut zu erreichen. Vor allem aber bietet sich dort aus gesellschaftspolitischer Perspektive die Möglichkeit, mit unterstützenden Maßnahmen die soziale Spaltung bei politischer Teilhabe zu verringern. Denn politische Bildung und demokratisches Erleben in der Schule sind speziell für diejenigen von besonderer Bedeutung, deren politisches Interesse und Wissen im unmittelbaren sozialen Umfeld nur unzureichend gefördert werden. Das sind Jugendliche aus sozial benachteiligten Haushalten und typischen Nichtwählermilieus, die keine Form der politischen Bildung, Orientierung oder Auseinandersetzung im Elternhaus erleben. Ohne Unterstützung bleiben diese Jugendlichen ihr Leben lang der Politik fern und nehmen höchstens sporadisch an Wahlen teil. Denn die politische Haltung der Eltern vererbt sich auf die Kinder: Studien zeigen, dass sich Jugendliche aus politisch affinen Elternhäusern mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls für Politik interessieren. Und dass der Stellenwert von Politik im eigenen Elternhaus die Wahlbeteiligung stark beeinflusst : Wird dort häufig über Politik gesprochen, gehen die Befragten fast immer zur Wahl. Spricht man zu Hause jedoch nur selten oder nie über Politik, halbiert sich die Wahlwahrscheinlichkeit. Das zeigt nochmal deutlich: Jugendliche aus politikfernen Haushalten brauchen eine gezielte Ansprache und Unterstützung, andernfalls wird die soziale Spaltung bei politischem Interesse und Engagement zementiert und sogar verstärkt. Junge Wähler müssen auf ihre ersten Wahlen vorbereitet werden – durch aktivierende Maßnahmen in Schulen, aber natürlich genauso durch nachhaltige außerschulische Aktionen und Projekte zur Jugendbildung und zur Förderung demokratischer Werte. Gelingt dies, dann steigt nicht nur die Gesamtwahlbeteiligung, sondern es sinkt auch die soziale Spaltung der Wahlteilnahme.