Von Isabella David, Hamburg
Experten, SPD-Abgeordnete und zahlreiche jugendliche Ehrenamtlichen aus den Hamburger Jugendverbänden diskutierten über die Vereinbarkeit ihres Engagements mit Ganztagsschule, beruflicher Ausbildung und dem Studium nach der Bologna-Reform. Die Veranstaltung der SPD-Bürgerschaftsfraktion fand in Kooperation mit dem Landesjugendring Hamburg statt.
Der Kaisersaal im Rathaus ist bis auf den letzten Platz gefüllt mit engagierten jungen Bürgern/innen. Mehr als hundert ehrenamtliche Jugendliche aus 35 Jugendverbänden sind beim Diskussionsabend zum Thema »Jugendliches Ehrenamt zwischen den Stühlen« dabei. Mit der SPD-Bürgerschaftsfraktion wollen sie darüber reden, was die Konsequenzen der Schul- und Studienreformen für ihre ehrenamtliche Arbeit sind. Mehr noch: Sie wollen erreichen, dass ihre Arbeit nicht nur ideell sondern endlich auch formal im Schul- und Studienalltag anerkannt wird.
Zeit ist ein kostbares Gut. Freiwillig sind tausende junge Menschen bereit, ihre Zeit mit ehrenamtlicher Arbeit zu verbringen und damit einen großen Beitrag zur Demokratiebildung Jugendlicher zu leisten. Dafür bedarf es an Freiräumen. Gerade diese sind im Rahmen der Umstellung auf den Ganztagsunterricht und auf das Bachelor- und Masterstudium an den Universitäten jedoch immer rarer geworden. Schule, Ausbildung und Studium stehen mehr und mehr in einem Spannungsfeld zu ehrenamtlicher, non-formaler Bildung. »Die Gesellschaft verändert sich, wir stehen vor der Herausforderung, wie wir ehrenamtliches Engagement gestalten können«, sagt auch Andreas Dressel, Fraktionsvorsitzender der SPD-Bürgerschaftsfraktion. »In Sachen Ehrenamt erleben wir bisher leider die Kehrseite der Nachmittagsbetreuung.«
Wissenschaftliche Untersuchungen des ehrenamtlichen Engagements Jugendlicher haben ergeben, dass die frühe ehrenamtliche Arbeit die Demokratiekompetenz der jungen Bürger/innen stärkt. In den Strukturen ehrenamtlicher Arbeit können Jugendliche früh die Möglichkeiten von Partizipation erfahren und Konfliktfähigkeit erlangen. Jugendliches Ehrenamt ist somit maßgeblich für die Entwicklung verantwortungsvoller Bürger/innen in einer Demokratie. »Die Studien zeigen, dass Ganztagsschule und die verkürzte Zeit zum Abitur eine Belastung für ehrenamtliches Engagement darstellen«, so Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker von der Universität Hamburg. Die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement ist mit der Umstellung von G9 auf G8 um zehn Prozent zurückgegangen – von 51 auf 41 Prozent. Auch die Zahl der jungen Studierenden, die sich ehrenamtlich engagieren, habe sich im Zuge der Bologna-Reform und Umstellung auf das Bachelor- und Masterstudium verringert. Dies geht aus der aktuellen Studie »Keine Zeit für Jugendarbeit?« des Deutschen Jugendinstituts und der Technischen Universität Dortmund hervor. »Viele Ehrenamtliche entscheiden sich dazu, die Anzahl an Stunden zu reduzieren«, so Karin Wehmeyer, die an der Studie mitgearbeitet hat. Für diejenigen, die sich dennoch weiter engagieren, stellt das Ehrenamt einen wichtigen Lebensbereich dar, dem sie durchschnittlich mehr als sieben Stunden in der Woche widmen. Besonders verlagere sich das ehrenamtliche Engagement jedoch auf die Wochenenden. »Wer sich für ehrenamtliches Engagement entscheidet, tut dies in erster Linie als Jugendlicher und bleibt dann auch nach Schulabschluss und Studium dabei. Es gibt später kaum Quereinsteiger in die ehrenamtliche Arbeit«, erläutert Benedikt Sturzenhecker.
Forderungen. Diese Erkenntnisse und die Erfahrungen der Ehrenamtlichen schlagen sich auch in den Forderungen der jungen Engagierten wider. »Wir fordern maximal eine 35 Stunden Schulwoche – all inclusive. Es muss Zeit geben, sich auszuprobieren und Verantwortung zu übernehmen«, sagt Julia Böhnke, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings. Die 25-Jährige engagiert sich selbst seit Jahren ehrenamtlich, unter anderem bei der DGB-Jugend. Insbesondere müsse es die Möglichkeit geben, Jugendleiter/innen mit einer Juleica, also der Referenz für Engagement und Ausbildung, für ihr Engagement freistellen zu lassen. »Die Vereinbarkeit der Jugendarbeit mit Schule und Studium ist für uns ein wichtiges Anliegen«, beteuert die SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Melanie Leonhard. Die Zeitproblematik sei jedoch kein unmittelbar neues Problem. »Man musste auch schon früher sehen, wie man alles unter einen Hut bekommt«, sagt Melanie Leonhard, die in ihrer Jugend selbst Pfadfinderin war. »Es ist wichtig, dass die Kooperationen mit den Schulen gefördert werden. Die Jugendarbeit muss rein ins Nachmittagsprogramm«, fordert die Fachsprecherin für Familie, Kinder und Jugend der SPD-Bürgerschaftsfraktion. Diese Bestrebungen, ehrenamtliche Arbeit in das Nachmittagsangebot der Ganztagsschulen zu integrieren, sieht Julia Böhnke hingegen kritisch. »Ich habe Bedenken, dass die Jugendarbeit dann in Schulgebäuden stattfindet, in denen die Jugendlichen sonst Unterricht haben«, so Böhnke. »Die sonst in der Schule hierarchisch gelebten Strukturen stehen in einem Spannungsfeld mit den Freiräumen der Jugendarbeit.« Eine klare Abgrenzung sei hier wichtig. Darüber hinaus sollte die ehrenamtliche Arbeit nicht auf dem asphaltierten Schulhof sondern auch in der Natur oder in der vertrauten Lebenswelt Jugendlicher stattfinden können.
Auch bei der Anerkennung ehrenamtlicher Arbeit im Studium sieht Julia Böhnke, selbst Masterstudentin der Politikwissenschaft, viele Problemlagen. »Wer aufgrund seiner ehrenamtlichen Tätigkeit die Regelstudienzeit überschreitet, bekommt oft Probleme mit der Studienfinanzierung durch das BAföG. Es gibt keine Möglichkeiten der Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeit. Die Engagierten gucken in die Röhre«, berichtet Julia Böhnke. »Die Vereinbarung von Studium und ehrenamtlicher Arbeit ist eine Herkulesaufgabe, die heute immer mehr zu Lasten der Jugendverbandsarbeit geht.« Deshalb fordert die Vertreterin des Deutschen Bundesjugendrings, dass die Politik auf die Probleme reagiert. Ferienschutz in den Semesterferien sowie früh feststehende Prüfungszeiträume könnten für die Ehrenamtlichen zumindest Planungssicherheit garantieren. »Es wird oft aus den Augen verloren, dass die Ehrenamtlichen nicht nur fordern, sie geben der Gesellschaft auch viel«, sagt Julia Böhnke.
Die Anerkennungsfragen der ehrenamtlichen Arbeit sind auch für den Landesjugendring Hamburg ein zentrales Thema. »Die außerschulische Lernleistung muss auch belohnt werden«, betont Benedikt Alder, Vorsitzender des Landesjugendrings Hamburg. Insbesondere gelte dies für die Anerkennung der Juleica. Leider sei es jedoch schwierig für die Ehrenamtlichen mit den entsprechenden Institutionen, beispielsweise den Schulen, darüber zu verhandeln. »Vieles scheitert daran, dass Ehrenamtliche nur noch mit Strukturfragen befasst sind. Dabei wollen Jugendliche einfach nur den Freiraum haben, ihr Ehrenamt auszuüben«, sagt Benedikt Alder. »Ein festgelegtes Zugeständnis der Schulen für zwei Stunden pauschales Engagement in der Woche könnte dies vereinfachen.«
»Es muss positive Rechte für die Ehrenamtlichen geben«, fordert auch Julia Böhnke und kritisiert, dass die Engagierten für die Freistellung von Unterrichtsstunden zu Bittstellern werden müssen und ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie wiederholt um eine Sonderbehandlung nachfragen müssen. Ein Recht auf Freistellung für ehrenamtliche Arbeit müsste dies ermöglichen. Über Einzelkooperationen zwischen Schulen und Verbänden gebe es bereits solche Modelle für die Freistellung für die Juleica-Ausbildung. In anderen Bundesländern gebe es sogar die Möglichkeit, ehrenamtliche Arbeit mit Punkten im Bachelorstudium anerkennen zu lassen.
Worldcafés. Die zahlreichen Probleme, die junge Ehrenamtliche durch die Schul- und Studienreformen haben, wurden auch in den beiden Worldcafés zu den Themen »Schule und jugendliches Ehrenamt und Studium« und »Ausbildung und bürgerschaftliches Engagement« deutlich. Taro Tatura, seit Anfang 2012 Jugend- und Auszubildendenvertreter bei der Lufthansa Technik, und Luisa Micheel, Jugendleiterin des Pfadfinderbundes Nord, stehen oft zwischen den Stühlen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit und ihrer beruflichen oder schulischen Ausbildung. »Das Engagement kostet viel Zeit, manchmal ist es schwierig vereinbar mit der Schule. Für die Jugendleiter handelt es sich leider oft mehr um Organisation und Verwaltung als um praktische Arbeit.«, sagt Luisa, die sich seit mehr als sechs Jahren ehrenamtlich engagiert. Für Taro ist das Engagement meist auch Arbeitszeit. »Anders wäre das kaum vereinbar«, erklärt Taro, der eine Ausbildung zum Flugzeugmechaniker absolviert: »Dennoch muss man darüber hinaus zugunsten der ehrenamtlichen Tätigkeit oft auf seine Freizeit verzichten.« In den Worldcafés berichten viele Ehrenamtliche von Aussteigern aus der Jugendarbeit. Problematisch sei dabei vor allem, dass viele bereits mit 17 Jahren vor dem Abitur in G8-Schulen aussteigen würden. Die Zahl der Jugendleiter wird so immer geringer.
»Leider haben wir den Eindruck, dass das jugendliche Ehrenamt oft gelobt, gleichzeitig aber als Selbstverständlichkeit angesehen wird«, sagt Benedikt Alder. »Wir müssen uns klar machen, was mit der Jugendverbandsarbeit in 5 bis 10 Jahren passiert, wenn immer weniger Jugendliche Zeit für ehrenamtliche Strukturen haben.« Der 29-Jährige, der selbst seit mehr als 14 Jahren ehrenamtlich aktiv ist, kennt den Druck und das Spannungsfeld, in dem sich junge engagierte Menschen bewegen, selbst nur zu gut. Bereits als Schüler war Benedikt bei den Pfadfindern und begründete später den Pfadfinderbund Nordlicht mit. Auch während seines Jurastudiums setzte Benedikt Alder sein Engagement fort. »Die Gefahr ist, dass die besondere Gruppenstruktur der Jugendverbände verloren geht, wenn viele Jugendliche keine Zeit für ein kontinuierliches Ehrenamt mehr haben.« Ein schlechtes Zeugnis, zu viele Prüfungen, ein Nebenjob – all dies könnte bei dem heutigen Druck schnell dazu führen, dass Schüler, Studierende und Auszubildende ihr Engagement an den Nagel hängen. »Es bleiben die, denen es leicht fällt, die Zeit zu erübrigen. Freiräume gibt es bisher nur für Gutverdienende und Hochbega bte«, kritisiert Benedikt Alder die aktuellen Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Schule und Ausbildung mit dem Ehrenamt. Besonders wünscht er sich, dass die Politik auch nach der Veranstaltung am Ball bleibt. »Wir wünschen uns eine feste Zusage, dass die Politik in Hamburg die Lösung der Problematik in Angriff nimmt.«
Was folgt? Eines haben die zahlreichen Ehrenamtlichen, die sich intensiv an der Diskussionsveranstaltung beteiligten, in jedem Fall gezeigt: Ihr ehrenamtliches Engagement liegt Ihnen so sehr am Herzen, dass sie lieber Abstriche in anderen Lebensbereichen machen, anstatt beim Ehrenamt kürzer zu treten. Sie haben gezeigt, dass sie sich die Zeit nehmen, die Politik auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Damit das Ehrenamt Freiraum zur Entfaltung bieten kann und in Zukunft nicht zur Ausnahme wird, bedarf es an neuen Spielregeln mit Schulen, Ausbildungsstätten und Universitäten. Die Vertreter der Politik loben das Engagement der Jugendlichen und versprechen dem Thema in Zukunft weiter Beachtung zu schenken. »Ich freue mich sehr, dass die Veranstaltung so überaus gut angenommen wurde und so viele junge Menschen aus den unterschiedlichsten Jugendverbänden daran teilgenommen haben«, sagt Melanie Leonhard. Eine verbesserte Vereinbarkeit von Ehrenamt und Schule ist aus der Sicht der Politiker auch nach der Schulreform möglich und sollte konsequent verfolgt werden. »Der Ausbau der Ganztagsschule ist wichtig und ist mit ehrenamtlichem Engagement grundsätzlich vereinbar. Es müssen jedoch mehr Freiräume geschaffen werden«, sagt Staatsrat Jan Pörksen. Welche konkreten Maßnahmen Politik und Verwaltung zukünftig ergreifen wollen, blieb jedoch auch am Ende der Veranstaltung weiter offen.