Von Marie-Charlott Goroncy, Hamburg
Muslime in Hamburg. Aus über 180 Ländern setzt sich die Bevölkerung Hamburgs zusammen. Von den knapp 1,8 Millionen Einwohnern haben ca. 27 % einen Migrationshintergrund. Die genaue Zahl muslimischer Einwohner kann jedoch nicht angegeben werden, da keine direkten Daten zur ethnischen und religiösen Zugehörigkeit erhoben werden. Die geschätzte Zahl liegt bei 90.000 Hamburger Muslimen, von denen mindestens 71.000 im Bezirk Hamburg-Mitte leben sollen (Alle Angaben nach: Open Society Foundations, Muslims in Hamburg, 2010). Die Hamburger Muslime sind Teil des Stadtbildes und Teil der Kultur. Sie bauen Moscheen, die neben Kirchen existieren. Sie sprechen mehrere Sprachen und vor allem die deutsche. Sie integrieren andere Lebensweisen und machen aus zwei Welten eine. Sie gestalten das muslimische Leben in unserer Stadt und gliedern sich dabei in eine ganz besondere deutsche Tradition ein: in das Vereinsleben.
Muslimische Jugendarbeit findet in Hamburg auf vielen Ebenen statt. Auf der einen Seite stehen Moscheen, die muslimischen Gemeinden, die Angebote von der Hausaufgabenhilfe über religiöse oder musische Stunden bis hin zu Freizeitangeboten für Jugendliche unterhalten. Diese werden in der Regel von Erwachsenen angeleitet und sind meistens nur innerhalb der Gemeinde aktiv. Auf der anderen Seite existieren in ganz Hamburg selbstorganisierte Zusammenschlüsse von jungen Muslimen, die gemeinsam versuchen, ihre Kultur und Religion mit der hiesigen Gesellschaft zu vereinbaren. Ebu-Bekir Aktas ist einer von vielen. Er ist Schüler, 17 Jahre alt und stellvertretender Vorsitzender der Jugendinitiative Sternschanze. Ruhig und entspannt sitzt er am Schreibtisch und macht sich Notizen in seinem Kalender. Er hat das zurückhaltende Selbstbewusstsein eines Erwachsenen – aber die Gesichtszüge eines Jungen, der sich noch zurechtfinden muss in der Welt. Ebu-Bekir ist schlicht in Schwarz gekleidet, trägt seine dunklen Haare kurz. Er vertritt heute den Vorsitzenden. Der hat Semesterferien und macht Urlaub in der Türkei. Um den Schreibtisch herum sitzen in bequemen Ledersesseln zwei weitere Jungen – und Adem Bora, der große Bruder der Jugendlichen. Für eine Vorstandssitzung haben sie sich in den Räumen des Jugendcafés der Centrum-Moschee versammelt. Eigentlich sollte der Raum besser gefüllt sein. Die anderen sind aber mit wichtigen Dingen beschäftigt. Die kleine Gruppe unterhält sich auf Türkisch. Wer der Sprache nicht mächtig ist, weiß nicht, wovon sie reden. Wahrscheinlich diskutieren sie, wie es in den Gruppen läuft.
Der große Bruder, Adem Bora, hat vor zirka vier Jahren die Gruppe in der Schanze ins Leben gerufen. Er selbst war zuvor über zehn Jahre als Vorstandsmitglied in verschiedenen muslimischen Vereinen aktiv. Die meiste Zeit verbrachte er beim Islamischen Jugendbund (IJB). Dieser Verband überdacht eben solche Jugendinitiativen wie die in der Sternschanze. Heute ist Adem 31 Jahre alt, ausgebildet als Diplom Betriebswirt, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er ist ein kleiner, etwas gedrungener Mann. Er trägt eine zeitlose Brille, lacht viel und redet offen. „Wir haben damals mit sechs oder sieben Jungen angefangen. Heute sind über 80 Jugendliche dabei und wir müssen den Zustrom immer wieder bremsen“, berichtet Adem. Darum mussten sie die Gruppen immer wieder teilen. Mittlerweile bestehen zwei Jungengruppen. Die eine, in der auch Ebu-Bekir mitwirkt, beherbergt Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die andere umfasst alle über 18. Seit kurzem trifft sich zudem eine kleine Gruppe junger Väter und einmal im Monat findet eine Elternrunde statt. Adem spricht stolz von seinen Jungs, denen er als großer Bruder vor allem beratend zur Seite steht. Über die Mädchen wird weniger geredet. Die machen ihr eigenes Ding und haben auch keinen großen Bruder, sondern eine große Schwester. „Mit den Mädchen ist es schwieriger“, meint Adem, „sie werden im Elternhaus mehr behütet als die Jungs. Darum haben wir darauf gewartet, dass die Eltern selbst mit dem Wunsch auf uns zukommen, eine Mädchengruppe zu gründen.“ Erst vor anderthalb Jahren machten die Eltern den ersten Schritt auf der Elternversammlung. Seitdem treffen sich auch 30 Mädchen regelmäßig. Sie machen die gleichen Aktionen wie die Jungen – nur eben ohne die Jungen. Kübra Gümüsay (23), ehemalige Chefredakteurin des Freihafens, Kolumnistin in der taz und selbst Muslimin, begründet die Geschlechtertrennung: „Die Trennung von Mädchen und Jungen ist nicht vorrangig auf die Religion zurückzuführen, sondern hat auch pädagogische Gründe. So soll den Jugendlichen mehr Freiraum geben werden, um geschlechtsspezifische Probleme in der Pubertät zu behandeln. Ohne dass sich die eine oder andere Seite gehemmt fühlt. Jugendarbeit ist in diesem Zusammenhang sehr emotional, persönlich und auch privat.“
Die Aufgabe der Jugendinitiative ist es, Basisarbeit im Stadtteil zu leisten. „Unsere Arbeit besteht aus zwei Bereichen“, erklärt Adem, „zum einen aus dem Religionsunterricht und zum anderen aus kultureller Bildung.“ Die Wissensvermittlung findet hauptsächlich in den wöchentlichen Gesprächszirkeln statt. Traditionell trifft man sich zu Hause in den Wohnungen der Jugendlichen. Denn bereits der Prophet Mohammed versammelte Interessierte in solchen familiären Gesprächsrunden. „Dadurch haben wir eine sehr schöne, entspannte Atmosphäre mit direktem Kontakt zur Familie“, auch Adem ist von der Wahl der Örtlichkeit überzeugt. Die Jugendlichen erhalten in den Gesprächszirkeln ein Rundumpaket: Sie erfahren alles über die Geschichte ihrer Religion und ihrer Regeln, sie können alltägliche Probleme diskutieren und die Kultur ihrer Herkunftsländer bewahren. Die meisten Mitglieder sind die Kinder türkischer Migranten. Adem weiß, mit welchen Problemen die Jugendlichen zu kämpfen haben. Auch seine Eltern kamen erst Mitte der 70er Jahre nach Deutschland. „Die Kinder stehen vor der Herausforderung, den Spagat zwischen zu Hause und draußen zu schaffen“, erklärt er, „sie sollen ihren Migrationshintergrund nicht verlieren und trotzdem selbstbewusst und als starke Persönlichkeiten in der deutschen Gesellschaft bestehen.“ Das Handwerkszeug dafür erhalten sie in der großen Schanzengemeinschaft. Im letzten Jahr hätten sie regelmäßig Akademiker zu ihren Treffen eingeladen, berichtet Adem. Diese haben von ihren Problemen erzählt, die sie auf dem Weg zum Erfolg hatten – wegen ihrer Religion oder ihrer Herkunft. „Das hat bei den Jungen etwas bewirkt“, davon ist der große Bruder überzeugt, „sie haben gelernt, dass man auch mit Migrationshintergrund Großes erreichen kann. Man muss sich vielleicht nur ein bisschen mehr anstrengen als andere.“ Neben den Gesprächszirkeln gibt es noch weitere Aktivitäten, die die Gruppen gemeinsam machen. Sonntags versuchen viele beim gemeinsamen Morgengebet in den Räumen der Centrum-Moschee dabei zu sein, sie spielen Fußball oder machen Ausflüge. Für die größeren Veranstaltungen greifen sie auf die Angebote der Dachverbände zurück. Das übersteige ihre Basisarbeit.
Der Islamische Jugendbund koordiniert und arbeitet übergreifend für ihre Jugendinitiativen in Stadtteilen ganz Hamburgs. Auf ihre Aktivitäten kann auch die Schanzengruppe zurückgreifen. Der IJB bietet Konferenzen und Seminare, Fortbildungen, Reisen, Jugendcamps und Sportturniere an. Darüber hinaus betreiben sie Jugendhäuser. Damit wollen sie nach eigenen Angaben dazu beitragen, „dass muslimische Jugendliche sich nicht von der Mehrheitsgesellschaft trennen, sondern sich in die Gesellschaft einbringen, integrieren und einen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben der verschiedenen Kulturen, mit Respekt und Anerkennung füreinander, leisten.“ Der IJB wiederum ist Mitglied in einem noch größeren Dachverband, der als Sprachrohr für muslimische Gemeinden in Hamburg fungieren will, in der Schura – dem Rat islamischer Gemeinschaften in Hamburg. Die Schura verfolgt seit 1999 das Ziel, religiöse und soziale Aktivitäten der Mitgliedsgemeinden gemeinsam zu organisieren und zu koordinieren. Darüber hinaus fungiert sie als Ansprechpartner für die Behörden und Politik. Sie setzt sich beispielsweise für einen islamischen Religionsunterricht an der Schule ein und verabschiedete im Jahr 2004 das Grundsatzpapier „Muslime in einer pluralistischen Gesellschaft“. Dieses stellt einen weltoffenen Konsens aller Mitgliedsgemeinden über das Ausleben ihrer Religion und das Leben in der deutschen Gesellschaft dar. Mit der Schura-Jugend versucht sie außerdem, eine Gemeinde übergreifende Jugendarbeit zu etablieren. Mehmet Karaoglu, der Jugendbeauftragte der Schura und Federführer beim IJB, berichtet von den Problemen, die dabei immer wieder auftreten: „Jugendarbeit funktioniert in den islamischen Gemeinden vor allem nach innen; das heißt, es finden große Veranstaltungen statt – aber nur im Rahmen der Moscheen und noch nicht über die Schura.“ Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen ist der Islam anders als das Christentum dezentral organisiert. Moscheen sind mit ihrem jeweiligen Imam (Vorsteher, Vorbeter) eigenständig und die Koran-Auslegungen weichen stark voneinander ab. Damit sind sie unabhängig und haben ihre eigenen Strukturen. Zum anderen fehle es immer wieder an jungen, treibenden Kräften aus verschiedenen Gemeinden, die die Schura-Jugend aufleben lassen. „Wir stecken noch in den Kinderschuhen, von außen ist unsere Arbeit noch nicht sichtbar“, gesteht Karaoglu. Diese Einschätzung bestätigt Adem aus Sicht der Jugendinitiative Sternschanze, er meint: „Von der Schura-Jugend hören wir momentan nichts. Die befinden sich derzeit im Wachkoma.“ Dabei lief es schon mal so gut: Zwischen 2004 und 2008 konnte eine engagierte Gruppe verschiedener junger Muslime unterschiedlicher Herkunft eine Vielzahl an Projekten realisieren. Gescheitert ist die lose Gemeinschaft dann an personellen Mängeln und der Unverbindlichkeit. Hinzu kam, dass sich eine salafitische Gruppe ausbreitete, die radikales Gedankengut unter die Jugendlichen streute. Karaoglu ist aber optimistisch: „Alle zwei Monate treffen wir uns mit den Vertretern der Gemeinden und halten den Kontakt für einen Neustart.“
Probleme hat auch die Sternschanzen-Gemeinschaft. Vor allem hat sie keine Räume. Die Mädchen-Gruppe trifft sich außerhalb der Gesprächszirkel im Gemeinschaftsraum einer Mietwohnung. „Wie lange das noch funktioniert, ohne dass sich die anderen Mieter beschweren, wissen wir auch nicht“, äußert Adem zweifelnd. Die Jungen nutzen häufig die Räume anderer Jugendgruppen – wie das Jugendcafé der Centrum-Moschee. Für die Elternversammlung kommen sie in der Moschee an der Feldstraße unter. Einmal bekamen sie auch Räume des JesusCenter im Schulterblatt. „Das war aber einmalig, sie wollen nur christliche Organisationen in ihren Räumlichkeiten haben“, sagt Adem. Die Mitgliedschaft im IJB helfe ihnen aber, immer irgendwo unterzukommen. Trotzdem wollen sie irgendwann eigene Räume haben. „So was wie das Haus der Familie am neuen Pferdemarkt wünschen wir uns“, schwärmt Adem, „die Schanze ist aber einfach zu teuer, das können wir uns nicht leisten.“ Noch bekommen sie keine Förderung von der Stadt, weil sie kein anerkannter Jugendverband sind. Aber auch das wollen sie werden. Dazu fehlen jedoch die Zeit und die nötigen Strukturen – und eine Satzung. Die Jugendinitiative hat die gleichen Probleme wie jeder andere Jugendverband. Und noch ein paar mehr. Auch wenn es ihr Ziel ist, die Jugendlichen in die Gesellschaft zu integrieren, haben sie mit Vorurteilen zu kämpfen: „Migranten und Muslime sind politisch immer noch nicht anerkannt. Vor allem wir Türken haben damit zu kämpfen. Da schottet man sich automatisch ab“, sagt Adem vorsichtig. Darum sei auch die Nachbarschaft mit Deutschen schwierig. Auf beiden Seiten herrsche Skepsis. Sowohl Adem als auch die Jungen betonen aber, dass sie sich von Islamisten abgrenzen. Ebu-Bekir sagt dazu: „Die jungen Leute, die kein religiöses Grundwissen haben und auf öffentlichkeitswirksame Radikale wie Pierre Vogel stoßen, bauen später Mist.“ Und damit hat dann die gesamte muslimische Gemeinschaft zu kämpfen. Nicht nur ihre starke Präsenz in der Öffentlichkeit, wie dem Internet, ist Grund dafür, warum die Radikalen so viel Aufmerksamkeit genießen. Vor allem predigen sie auf Deutsch. Damit sind sie vielen Gemeinden voraus. Diese haben häufig Imame, die in ihrer Heimatsprache predigen. Darum plädieren die Muslime in Deutschland und auch Adem dafür, dass sie endlich ihre Imame an deutschen Universitäten ausbilden lassen dürfen. Die Gemeinschaft in ihrer Jugendgruppe hilft Ebu-Bekir und seinen Freunden dabei, selbstbewusst genug zu werden, um sich gegen solche Vorwürfe zu behaupten und als Gegenbeispiel voranzugehen. Mert Duman, 17 Jahre alt, sagt voller Überzeugung: „Ich will ein besserer Mensch sein!“