Von Marie-Charlott Goroncy, Hamburg
Es klingelt. Der Unterricht beginnt. Es ist Dienstag, 14.10 Uhr kurz nach der Mittagspause. Die Schüler/innen lassen den Kopf hängen. Immer wieder fallen Augen zu, hier und da wird gegähnt. Noch sitzen nicht alle auf ihren Plätzen. Vereinzelt trotten junge Menschen mit müden Gesichtern in den Raum. Am Lehrerpult sitzen zwei junge Frauen. Sie unterscheiden sich kaum von den Schüler/innen. Die eine spielt mit ihrem Kugelschreiber und tippt nervös mit dem rechten Fuß. Die andere wartet geduldig bis es endlich ruhiger wird. Immer wieder stecken sie die Köpfe zusammen und tuscheln. Dann steht die Frau mit den langen, braunen Haaren auf, schließt die Tür und erhebt die Stimme: »So Leute, lasst uns beginnen!«
Das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium (AvH) liegt im Süden Hamburgs, im Harburger Stadtteil Wilstorf. Auf grünen 50.000 Quadratmetern werden 830 Schüler/innen von 55 Lehrer/innen (Stand Herbst 2011) nach dem Leitbild »Bildung für nachhaltige Entwicklung« unterrichtet. Die Schule möchte Vorreiter in der Hamburger Schullandschaft sein, und das merkt man: Mit Betreten des Gebäudes ist das Thema Umweltschutz allgegenwärtig und die Klassenräume sind modern ausgestattet. Neben dem herkömmlichen Unterricht finden zahlreiche Arbeitsgemeinschaften statt, die Kinder werden kostenlos mit Wasser versorgt und von der hauseigenen Küche verpflegt. Im Schulprogramm heißt es: »Wir verpflichten uns, an einer umweltverträglichen, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklung auf ökologischem, ökonomischen und sozialem Gebiet mitzuwirken.« Diese Haltung kommt gut an. Gerhard Klaus, Abteilungsleiter der Mittelstufe, sagt selbst: »Wir haben den Ruf der Kümmerer.« Alle Schüler/innen, die Potenzial besitzen, werden am AvH aufgenommen. Laut des Schulprogramms würden sie dann zu Menschen herangezogen, die Werte und Prinzipien verinnerlicht haben, die als Basis für eine nachhaltige Entwicklung dienen.
Im Klassenzimmer ist es wieder laut geworden. Die Augen der Schüler/innen sind wieder weiter geöffnet. In kleinen Gruppen haben sich die jungen Leute in allen Ecken des Raumes zusammengefunden. An einem Tisch ist lautes Gelächter zu hören, an einem anderen wird hitzig diskutiert. Ganz hinten stecken die älteren Schüler/innen ihre Köpfe zusammen. Sie entwerfen gerade ein Marketingkonzept für die kommende Schülerzeitung. Sie planen Plakate, Infozettel an die Lehrer, einen Aufsteller für die Pausenhalle und Flyer. Sie wollen ihr Produkt an den Jungen bringen und an das Mädchen. Am besten sollen das Blatt alle haben. Jeder Schüler, jede Schülerin und jeder Lehrende. Am besten wäre es, wenn auch die Eltern darauf aufmerksam werden. Die ganzen Mühen sollen nicht umsonst gewesen sein.
Gleich neben der Marketinggruppe hocken die Jüngeren zusammen und überlegen, wo sie ihre Zeitung drucken lassen. In welchem Format wird es wohl am besten aussehen und ist das dickere Hochglanzpapier zu teuer? Eigentlich wissen sie auch noch gar nicht, wie viele Seiten sie drucken wollen. Vor ihnen liegt ein riesiger Berg mit unbeantworteten Fragen. Augenbrauen ziehen sich zusammen. Stirnen runzeln sich. Etwas unglücklich schauen die Schüler/innen in die Runde. Während die einen gerade nicht weiterkommen, kritzeln die anderen eifrig Zahlen in ihren Block. Eine halbe Seite für 65 Euro steht da – und die Rückseite für 125 Euro. Bei den Anzeigenpreisen geht es voran. Nahe der Tür sitzen ein paar Jungen und Mädchen um einen Laptop herum. Sie zeigen auf den Bildschirm, schütteln den Kopf. Mit der Schriftgröße sind sie nicht einverstanden. Außerdem müssten die Farben des Logos noch korrigiert werden. Die Bilder seien aber gut geworden. Und alles in allem laufe es sehr gut. Die beiden jungen Frauen, die vorhin noch am Lehrerpult gesessen haben, gehen von einer Gruppe zur anderen. Helfen den Schüler/innen, wenn sie nicht weiterkommen, strukturieren ihr Vorgehen und erklären ihnen, worauf es ankommt. Sie zeigen den Schüler/innen, was sie von allein vielleicht nie in die Hand genommen hätten: Wie man eine Schülerzeitung auf die Beine stellt. Der Kurs ist gemischt. Schüler/innen der gesamten Mittelstufe sind vertreten. Ein weites Spektrum. Das unterschiedliche Alter der Schüler/innen bietet aber auch Potenzial für einen vielseitigen Inhalt – einen Inhalt, der sich an eine breit gefächerte Schülerschaft des AvH richtet. Die Jungs und Mädchen schreiben über das, was sie selbst gerne lesen würden: Lerntipps, Interviews mit Lehrern, Psychotests, Rezensionen über den neusten Manga und die neusten Geschehnisse an der Schule. Die Verantwortung, die sie als Redakteure einer Zeitung haben, lernen sie ganz nebenbei.
Nachhaltige Bildung ist auf dem Papier einfach. Das AvH muss die Idee eines ökologisch, ökonomisch und sozial kompetenten Jugendlichen jedoch auch im Alltag realisieren. Das wird aber zunehmend schwerer. Herr Klaus, der selbst Vater von drei Kindern ist, weiß, wie schwierig es ist, das eigene Leitbild aufrecht zu halten: »Schule, besonders in Hamburg, befindet sich in einem so großen, schnellen Wandel, dass wir uns anstrengen müssen, den Überblick zu behalten. Dennoch setzen wir alle Änderungen ausgehend vom AvH-Konzept um.« Als weitere Belastung kommt für Lehrer/innen und Schüler/innen die Hürde hinzu, dass das Abitur am Gymnasium nach acht Jahren absolviert werden muss. Daraus resultiert ein voller Stundenplan, der in der Mittelstufe mindestens 34 Stunden in der Woche umfasst. Das bedeutet, dass die Schulzeit zu großen Teilen mit der Allgemeinbildung gefüllt ist. Im Kontrast dazu lege das AvH, so Klaus, großen Wert auf die Mitgestaltung und Partizipation der Schüler/ innen am schulischen Leben. Die soziale Kompetenz müsse als Ergänzung zum Schulunterricht gestärkt und gefördert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, bietet das AvH neben den Arbeitsgemeinschaften von Chor über Yoga bis zum Schulsanitätsdienst den Wahlpflichtbereich an. Dieser ist – wie der Name bereits verrät – verpflichtend, wird klassenübergreifend unterrichtet und benotet. Dennoch: Die Schüler/innen können aus einem vielfältigen Angebot wählen. Am Nachmittag können Schüler so aussuchen, ob sie lernen wollen, wie man gute Fotos schießt, eine Homepage erstellt, eine Firma geführt oder ein Garten bestellt wird – und neuerdings können sie einmal in der Woche an ihrer eigenen Schülerzeitung mitarbeiten.
Stühle scheppern. Zwei Stunden sind vorüber und der Druck der Schülerzeitung ist wieder ein Stück näher gerückt. Nur noch die beiden jungen Frauen stehen im Klassenraum. Sie packen ihre Sachen zusammen und wischen die Tafel, sie überprüfen, ob der Raum sauber ist und schließen die Fenster. Sie sind erleichtert. Wieder eine Sitzung mit zwanzig Schüler/innen überstanden. Erst seit Kurzem stehen sie als Honorarkräfte in der Verantwortung, den Unterricht im Wahlpflichtbereich am AvH für zwei Stunden in der Woche zu gestalten – ein Jahr lang. Eigentlich sind sie ganz normale Studentinnen. Greta Lührs, die mit den langen braunen Haaren, ist 22 Jahre alt. Sie studiert Philosophie und Ethnologie an der Universität Hamburg. Marie-Charlott Goroncy, 24 Jahre und Autorin dieses Artikels, übt sich an derselben Uni in der Germanistik und Medien- und Kommunikationswissenschaft. Während des Studiums haben sie nicht viel miteinander zu tun. Außer, sie treffen sich mal zufällig vor dem Philosophenturm. Dafür verbringen sie neben der Uni umso mehr Zeit miteinander – weil beide in ihrer Freizeit im gleichen Jugendverband tätig sind: Der Jungen Presse Hamburg (jphh).
Die jphh ist ein Verein von jungen Medienmachern für junge Medienmacher. Als Hamburger Landesverband der Jugendpresse Deutschland (jpd) ist die jphh Ansprechpartner für angehende Journalisten/innen und Schülerzeitungsredakteure in Hamburg. Felicitas Mertin, 24 Jahre alt, ist neben ihrem Journalistikstudium zweite Vorsitzende des Verbands. Sie investiert ihre freie Zeit gerne in die ehrenamtliche Arbeit: »Wir sind ein bunter Haufen junger Menschen, die sich dafür einsetzen, dass die Hamburger Jugendlichen sich in der schnellen Medienwelt zurechtfinden« und meint weiter: »Wir bringen nicht nur anderen etwas bei, wir lernen selbst unglaublich viel, wenn wir Seminare und Workshops organisieren.« Die jphh war schon immer an Schulen präsent. Seitdem der Bundesverband das Konzept der Mobilen Akademie entworfen hat, kann man auch die jphh für die Schule buchen. Davon machen nicht nur Schülerzeitungsredaktionen Gebrauch. »Wir waren gerade für zwei Doppelstunden an einer Schule in Barmbek und haben eine Lehrerin unterstützt, die mit ihrer Klasse eine Zeitung machen will«, erzählt Felicitas. Greta ist erst seit einem Jahr im Vorstand der jphh. Früher war sie bei den Pfadfindern, sie kennt sich aus in der gemeinschaftlichen Verbandsarbeit. Vor drei Wochen, als das neue Semester begonnen hat, ist sie am AvH für Felicitas eingesprungen. Diese hatte zusammen mit Marie-Charlott das Pilotprojekt »Jugendverbände an der Schule« mit Beginn des Schuljahres im August begonnen. Doch der Stundenplan für die Uni hat dazwischen gefunkt. Auch für Greta ist die Reise nach Harburg nicht ganz mit dem Studium vereinbar: »Wenn der Kurs um Viertel vor Vier vorbei ist, bleibt mir nur eine halbe Stunde, um zu meinem Seminar zu kommen«, sagt sie, »das ist das Problem bei ehrenamtlicher Arbeit. Wir haben alle einen Hauptjob, der gemacht werden muss.« Trotzdem sind sich Greta und Felicitas einig, dass der Schülerzeitungskurs am AvH wichtig ist: »Unser Ziel ist es, mehr an Schulen präsent zu sein. Weil dort unsere Zielgruppe sitzt, die wir ansprechen und mit denen wir arbeiten wollen.«
Schule und Jugendverband. Klaus weiß, dass diese beiden Institutionen eigentlich nicht zusammen passen: »Jugendverbände und Schule ticken ganz anders. Trotzdem glaube ich, dass beide in Zukunft nicht mehr ohne einander können.« Er hatte beim Landesjugendring Hamburg (LJR) angefragt, zunächst um eine Jugendleiterausbildung an der Schule zu realisieren. In der Beratung mit Jürgen Garbers vom LJR entstand die Idee, die Vermittlung sozialer Kompetenzen mit einem inhaltlichen Projekt zu verknüpfen. Zusammen mit der jphh wurde so das Pilotprojekt »Schülerzeitung« an der Harburger Schule initiiert. Die soziale Kompetenz, die Schüler/innen des AvH nach dem Leitfaden »Bildung für nachhaltige Entwicklung« erlernen sollen, kann die formale Bildung der Institution Schule kaum mit abdecken. In Jugendverbänden funktioniert Bildung non-formal: Lernen durch’s Selber-Machen. Alle Beteiligten eines Jugendverbandes lernen soziale Kompetenzen, also ein Miteinander, Verantwortung und das Bewältigen von Pflichten und Konflikten, quasi nebenbei. Nicht nur aus diesem Grund ist Klaus an dem Versuch einer Kooperation zwischen Schule und Jugendverbänden interessiert. Schon jetzt sind alle Hamburger Gymnasien aufgrund der hohen Unterrichtsstundenzahl und laut des Hamburger Bildungsberichts 2011 »Ganztagsschulen besonderer Prägung«, die auch den Nachmittagsbereich gestalten müssen. Das AvH möchte noch einen Schritt weiter gehen und in den nächsten Jahren die Rahmenbedingungen schaffen, um eine gebundene Ganztagsschule zu werden. Zu den Bedingungen gehören nicht nur mehr Räumlichkeiten und Mittagessen für alle Schüler/innen. Dazu gehört vor allem ein »erweitertes und attraktives Nachmittagsangebot«. Davon ist Klaus überzeugt, denn: »Schule hat auch was mit Erlebnisbereichen zu tun.« Für die Schulen Hamburgs wird es nicht möglich sein, die Nachmittage allein zu gestalten. Aus diesem Grund wird auch auf den Regionalen Bildungskonferenzen in allen Hamburger Bezirken diskutiert, wie man außerschulische Bildungsträger, wie u.a. Jugendverbände, in die schulische Bildung integrieren kann. Grundsätzlich sind zwei Varianten der Zusammenarbeit denkbar: eine kooperationsorientierte und eine schulzentrierte Variante.
Dienstleister? Das sind Greta und Marie-Charlott am AvH. Sie bieten ihr Wissen an und werden dafür geringfügig entlohnt. Für das Pilotprojekt haben sie sich in das Schulsystem eingegliedert. Sie beginnen den Unterricht, wenn es klingelt, machen Pausen zu vorgegebenen Zeiten und beenden den Unterricht pünktlich. Dabei wollten sie eigentlich nicht unterrichten, sondern die Schüler/innen machen lassen. Ihnen nur einen Rahmen für ihre eigene Arbeit bieten. »Es ist schwer, die Schüler/innen zu motivieren, eigenständig tätig zu werden«, berichtet Felicitas, »wenn wir vor ihnen stehen, erwarten sie, dass wir sie unterrichten.« Auch Greta hat nach ein paar Wochen das Problem erkannt: »Es ist zwar ein Wahlkurs, trotzdem werden die Schüler/innen dafür benotet. Sie müssen mitmachen. Außerdem sitzen wir in einem Klassenzimmer. Unsere Workshops in den Räumlichkeiten der Arbeitsgemeinschaft freier Jugendverbände am Stintfang sind dagegen lockerer.« Die Studentinnen bringen die Nachteile der schulzentrierten Variante auf den Punkt. Klaus weiß jedoch, dass auch einiges dafür spricht: »Zum einen holen wir die Leute an die Schule, um die Wege für die Schüler zu verkürzen«, meint er, »und zum anderen muss die Schule die Schulpflicht gewährleisten. Bei ausgelagerten Angeboten ist das kaum umsetzbar.« Die kooperationsorientierte Variante besitzt trotzdem viele Verfechter. In der letzten punktum-Ausgabe machte sich Dr. Heinz-Jürgen Stolz für dieses Konzept stark. Er meint: »Weg von der schulzentrierten Variante und hin zu einem Verständnis des ganzen lokalen Raums als Aneignungs- und Gelegenheitsstruktur für Lernprozesse. Die außerschulischen Lernorte junger Menschen und ebenso die informellen Lernorte müssen eingebunden werden.« Auch die jphh setzt sich für eine weniger institutionalisierte Kooperation ein. Sie hätte nicht die Ressourcen, um regelmäßige Angebote an den Schulen zu gewährleisten. Einfacher wäre es, wenn die Schüler/innen die Angebote des Verbandes nutzen könnten – während der offiziellen Schulzeit. Oder sich Seminare und Workshops in der Schule anrechnen lassen würden. »Damit wäre unsere zukünftige Arbeit gesichert, und wir wären keine Dienstleister für die Schule«, glaubt Felicitas.
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Info: Junge Presse Hamburg e.V.
Alfred-Wegener-Weg 3 | 20459 Hamburg (U3 Landungsbrücken) | www.jphh.de
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