Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2005, Rubrik Titelthema

Kinderarmut in einem reichen Land

Von Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Universität zu Köln

Spätestens seit dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung am 2. März 2005 vorgelegt hat, ist weiten Teilen der Öffentlichkeit bewußt, daß (Kinder) Armut nicht nur in der sog. Dritten Welt, sondern – versteht man darunter nicht nur absolutes Elend, vielmehr auch ein relatives Maß an sozialer Ungleichheit, das die Betroffenen daran hindert, sich ihrer persönlichen Fähigkeiten gemäß zu entfalten und zu entwickeln – in der Bundesrepublik Deutschland gleichfalls ein großes Problem darstellt. Trotzdem wird es verdrängt. Unsere Gesellschaft thematisiert das Phänomen der Armut fast nur in der Vorweihnachtszeit.

Geht man als Armutsforscher in Einrichtungen, um davon betroffene Kinder zu interviewen, behaupten viele Erzieher/innen, Lehrer/innen und Schulleiter/innen: »Bei uns gibt es keine Armut. Versuchen Sie es doch in der KiTa oder der Schule nebenan!« Niemand möchte etwas mit Armut zu tun haben, noch weniger mit den Armen. Wenn es sich um Kinder handelt, macht man sie wenigstens nicht selbst für ihr Schicksal verantwortlich. Aber daß Armut keineswegs immer selbstverschuldet, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, welches durch Prozesse wie die Globalisierung und den damit als notwendig gerechtfertigten Umbau des Sozialstaates zu tun hat, tritt selten ins Bewußtsein. Umso wichtiger erscheinen die Beschäftigung mit dem Thema und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Problem »Kinderarmut«.

1. Ausmaß, Erscheinungsformen und Folgen der Kinderarmut

Kinderarmut äußert sich in einem reichen Land wie der Bundesrepublik weniger spektakulär als in Bangladesch oder Burkina Faso, wo Menschen auf der Straße verhungern. Sie wirkt eher subtil, aber nicht minder entwürdigend. Hierzulande ist es für Kinder vielleicht sogar noch schwerer, arm zu sein, als in einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern nur das Allernötigste bietet. Konsumchancen, z.B. das Tragen modischer Kleidung (»Markenklamotten«) und teure Freizeitaktivitäten, bestimmen mit über die Möglichkeiten, die ein Kind im Freundeskreis bzw. der Clique hat. Jenseits von Nike und Nokia wird man nicht ernst genommen, was zu psychosozialen Belastungen führen kann und den Ausschluß junger Menschen aus vielen Lebenszusammenhängen nach sich zieht. In der Bundesrepublik sind ca. 3,2 Millionen Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre arm. Über 1,5 Millionen davon leben in Sozialhilfe- bzw. Alg-II-Haushalten; die Eltern der übrigen Betroffenen haben entweder keinen Antrag gestellt oder etwas mehr Geld zur Verfügung, ohne eine sorgenfreie Kindheit ihres Nachwuchses gewährleisten zu können. Man spricht von einer »Infantilisierung der Armut« (Richard Hauser), weil junge Menschen heute die am häufigsten und stärksten von Armut bedrohte Altersgruppe bilden.

Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben. Dies gilt auch für Kinder und Jugendliche, deren Lebenswelt allerdings noch viel mehr als jene von Erwachsenen durch eine zunehmende Ökonomisierung und Kommerzialisierung geprägt ist. Arm zu sein bedeutet, in mehreren Lebensbereichen (Einkommen, Beruf, Wohnen, Gesundheit, Bildung und Freizeit) Defizite aufzuweisen. Bei einem Kind wäre ein solches Defizit beispielsweise im Wohnbereich dann gegeben, wenn es kein eigenes Zimmer hat. In manchen Familien reicht das Haushaltsgeld nur bis zur Monatsmitte; von da an ist Schmalhans Küchenmeister. Da den Eltern das Geld für die Klassenfahrt ihres Sprößlings fehlt, täuscht man ein Unwohlsein des Kindes vor. Weil es kein eigenes Zimmer hat und die familiären Wohnverhältnisse beengt sind, wird der Kindergeburtstag nicht im Kreis der Schulkamerad(inn)en und Freund(inn)en zu Hause gefeiert, was zusammen mit anderen Restriktionen eine Isolation der Betroffenen nach sich ziehen kann. Betroffen sind vor allem Alleinerziehende (überwiegend Frauen) und kinderreiche Familien, deren Haushaltseinkommen zu gering ist, um den Unterhalt von Kindern zu bestreiten, was zu sozialer Unterversorgung und Ausgrenzung (Exklusion) führt. Für die betroffenen Familien erwachsen daraus ökonomische, soziale und psychische Belastungen, ja sie geraten häufig in eine schwere Zerreißprobe. Familien fungieren nämlich als »emotionaler Puffer« (Sabine Walper) zwischen dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das die sozioökonomische Deprivation hervorruft, und den Kindern, die aufgrund solcher Restriktionen in ihrer kognitiven Entwicklung, schulischen Leistungsfähigkeit, psychischen Stabilität und physischen Konstitution gefährdet sind.

2. Verarmung von Kindern durch den Um- bzw. Abbau des Sozialstaates

Armutsphänomene, Mangelerscheinungen und soziale Bedürftigkeit sind nichts Neues, vielmehr so alt wie die Menschheit selbst. Auch die Kinderarmut, eine besonders subtile Form der Ausgrenzung und der Gewalt gegenüber den schwächsten Gesellschaftsmitgliedern, gibt es keineswegs erst seit kurzem. Gleichwohl weist sie »postmoderne« Züge auf, die es nahe legen, ihre Entstehungsursachen in jüngerer Zeit zu suchen. Macht man den als »Globalisierung« bezeichneten Prozeß einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach Markterfordernissen, der Ökonomisierung und Kommerzialisierung für die Pauperisierung, soziale Polarisierung und Entsolidarisierung verantwortlich, liegen die Wurzeln des stark vermehrten Auftretens von (Kinder-)Armut auf drei Ebenen:

• Im Produktionsprozeß löst sich das »Normalarbeitsverhältnis« (Ulrich Mückenberger), von der Kapitalseite unter den Stichworten »Liberalisierung«, »Deregulierung« und »Flexibilisierung« vorangetrieben, tendenziell auf. Es wird zwar keineswegs ersetzt, aber durch eine steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-) Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so oder überhaupt nicht (mehr) Beschäftigten wie ihren Familienangehörigen weder ein ausreichendes Einkommen noch den gerade im viel beschworenen »Zeitalter der Globalisierung« erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten, in seiner Bedeutung stark relativiert.
• Im Reproduktionsbereich büßt die »Normalfamilie«, d.h. die z.B. durch das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht staatlicherseits subventionierte traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern, in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Relevanz ein. Neben sie treten Lebens- und Liebesformen, die tendenziell weniger materielle Sicherheit für Kinder gewährleisten (sog. Ein-Elternteil-Familien, »Patchwork-Familien«, gleichgeschlechtliche Partnerschaften usw.).
• Hinsichtlich der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bedingt der forcierte Wettbewerb zwischen »Wirtschaftsstandorten« einen Abbau von Sicherungselementen für »weniger Leistungsfähige«, zu denen allemal Erwachsene gehören, die (mehrere) Kinder haben. Kinder und Jugendliche sind nicht zuletzt deshalb stark von Arbeitslosigkeit und/oder Armut betroffen, weil das neoliberale Projekt eines »Umbaus« des Sozialstaates auf Kosten vieler Eltern geht, die weniger Absicherung als vorherige Generationen genießen.

Bei den sog. Hartz-Gesetzen, der Agenda 2010, der Gesundheitsreform 2004 und den erst teilweise (z.B. im »RV-Nachhaltigkeitsgesetz«) legislativ umgesetzten Vorschlägen der sog. Rürup-Kommission handelt es sich um Maßnahmen zum Um- bzw. Abbau des Sozialstaates, die seine ganze Architektur, Struktur und Konstruktionslogik verändern. Es geht längst nicht mehr nur um Leistungskürzungen im sozialen Sicherungssystem, sondern um einen Systemwechsel, anders ausgedrückt: um eine zentrale gesellschaftliche Richtungsentscheidung, welche das Gesicht der Bundesrepublik auf absehbare Zeit prägen dürfte. Das nach Peter Hartz benannte Gesetzespaket markiert eine historische Zäsur für die Entwicklung von Armut bzw. Unterversorgung in Ost- und Westdeutschland. Besonders mit Hartz IV sind grundlegende Änderungen im Arbeits- und Sozialrecht verbunden, die das politische Klima der Bundesrepublik auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte verschlechtern dürften.

Mit dem »Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« (Hartz IV) wurde die Arbeitslosenhilfe durch das Arbeitslosengeld II (Alg II), eine reine Fürsorgeleistung, die nicht mehr den früheren Lebensstandard zum Maßstab der Leistungsgewährung für Langzeitarbeitslose macht, ersetzt. Dies führte zur Schlechterstellung von Millionen Menschen sowie zur Aufspaltung der bisherigen Sozialhilfeempfänger/innen in erwerbsfähige, die Alg II beziehen, einerseits und nichterwerbsfähige, die Sozialgeld bzw. -hilfe erhalten, andererseits. Daraus wiederum erwachsen neue Gefahren einer Stigmatisierung nach dem Grad der Nützlichkeit bzw. nach der ökonomischen Verwertbarkeit dieser Personen.

Abwärtssog. Langzeitarbeitslose müssen jede Stelle annehmen, auch wenn die Bezahlung weder tarifgerecht ist noch dem ortsüblichen Lohn entspricht. Eingerichtet wurde damit eine Rutsche in die Armut: Nach der von maximal 32 auf höchstens 18 Monate verkürzten Bezugszeit des Alg I bekommen Erwerbslose ein Arbeitslosengeld II, das präziser »Sozialhilfe II« heißen würde, weil es den Charakter einer reinen Fürsorgeleistung hat. Mit seinem Grundbetrag von 345 E monatlich für den Haushaltsvorstand im Westen bzw. 331 E im Osten (plus Erstattung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, sofern sie »angemessen« sind) ist das Alg II genauso hoch wie der Sozialhilfe-Regelsatz. Kinder bis 14 Jahre erhalten ein Sozialgeld in Höhe von 207 E im Westen und 199 E im Osten, Jugendliche von 15 bis 18 Jahren 276 E im Westen und 265 E im Osten. Seit dem Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 müssen Langzeitarbeitslose gegen eine minimale »Mehraufwandsentschädigung« von einem halben, einen oder zwei E pro Stunde gemeinnützige bzw. im öffentlichen Interesse liegende und zusätzliche Arbeit leisten, wollen sie ihren Anspruch auf Unterstützung nicht zu 30 Prozent (und später ganz) einbüßen. Auf dem Arbeitsmarkt führen die Ein-Euro-Jobs zu einem Verdrängungswettbewerb von oben nach unten. Geringqualifizierte müssen befürchten, durch Alg-II-Bezieher/innen ersetzt zu werden, was Auswirkungen auf das gesamte Lohngefüge haben kann.

Working poor. Durch die Umsetzung des im Vermittlungsausschuß von Bundestag und -rat weiter radikalisierten Konzepts der sog. Hartz-Kommission (Ausweitung nicht nur »haushaltsnaher« Mini-Jobs sowie der Leih- bzw. Zeitarbeit durch Einrichtung von Personal-Service-Agenturen und »Entbürokratisierung« der nunmehr in »Ich-« bzw. »Familien-AGs« organisierten Scheinselbstständigkeit) dürfte der staatlich subventionierte Niedriglohnsektor an Bedeutung gewinnen. Den armen Erwerbslosen, die das Fehlen von oder die unzureichende Höhe der Entgeltersatzleistungen auf das Existenzminimum zurückwirft, treten massenhaft erwerbstätige Arme zur Seite. Längst reichen selbst viele Vollzeitarbeitsverhältnisse nicht mehr aus, um »eine Familie zu ernähren«, so daß man einen oder mehrere Nebenjobs übernimmt und nach Feierabend bzw. an Wochenenden (schwarz) weitergearbeitet wird. Für die Kinder der davon Betroffenen heißt dies, daß sie ihre Eltern kaum noch zu Gesicht bekommen, für die Eltern mit einem McJob, daß sie ihre Kinder vernachlässigen müssen. Auch in der Bundesrepublik hat sich, wenngleich mit erheblicher Verzögerung gegenüber anderen hoch entwickelten Industriestaaten, etwa den USA und Großbritannien, ein relativ breiter, seinem Umfang nach häufig unterschätzter Niedriglohnsektor herausgebildet, der längst nicht mehr nur typische Frauenarbeitsplätze umfaßt. Hartz IV sollte durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, aber auch durch die massive Einschüchterung der Betroffenen mehr »Beschäftigungsanreize« im Niedriglohnbereich schaffen. Man zwingt sie mit Hilfe von Leistungskürzungen sowie schärferen Zumutbarkeitsklauseln, fast jeden Job anzunehmen und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen.

Die möglichen Folgen der Hartz-Gesetzgebung für Kinder und Jugendliche werden schon seit geraumer Zeit diskutiert. Der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Deutsche Kinderschutzbund haben die Öffentlichkeit frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, daß durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe bzw. die Einführung des Arbeitslosengeldes II für Langzeitarbeitslose neue Zonen der Armut entstehen, wovon Familien mit Kindern natürlich nicht unberührt bleiben. Die beiden Verbände rechneten mit einer Zunahme der Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die unterhalb der Armutsschwelle leben, um rund 500.000. Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband lebten im April 2003 bereits ca. 7,2 Prozent aller Minderjährigen in einem Haushalt, der auf Arbeitslosenhilfe angewiesen war. Mit deren Abschaffung würden zusätzlich zu ca. 2,8 Mio. Sozialhilfebezieher(inne)n rund 1,7 Mio. Menschen in die Einkommensarmut geschickt: »Die Zahl der darunter befindlichen Kinder und Jugendlichen steigt von einer auf 1,5 Millionen. Die Kinderarmutsquote steigt – gemessen am Sozialhilfeniveau – von 6,7 auf 9,2 Prozent.«

Arm und reich. Ohne die Lage zu dramatisieren, kann man prognostizieren, daß es in der Bundesrepublik, die nach wie vor zu den reichsten Industrienationen der Welt gehört, künftig noch mehr (Kinder-)Armut geben wird. Die Hartz-Gesetze konterkarieren Bemühungen zur Armutsbekämpfung. Besonders Hartz IV trägt durch das Abdrängen der Langzeitarbeitslosen samt ihren Familienangehörigen in den Fürsorgebereich dazu bei, daß Kinderarmut »normal« wird, was sie schwerer skandalisierbar macht. Die finanzielle Lage von Familien mit Arbeitslosenhilfe-Empfänger(inne)n verschlechtert sich durch den Übergang zum Alg II, was erhebliche materielle Einschränkungen für betroffene Kinder einschließt. Gleichzeitig dürfte die daraus resultierende Resignation von Erwachsenen eine negative Vorbildwirkung für die Kinder nach sich ziehen. Eine soziale Grundsicherung, wie sie das Arbeitslosengeld II laut Gesetzestext sein möchte, muß vor Armut schützen, damit sie diesen Namen verdient. Das kann man in Anbetracht der äußerst niedrigen Grundbeträge beim Alg II allerdings nicht behaupten. Auf zwei Jahre befristete Übergangszuschläge in Höhe von maximal 160 E für Erwachsene und bis zu 60 E für Kinder monatlich, die nach einem Jahr halbiert werden, sowie auf drei Jahre befristete Kinderzuschläge für Geringverdiener in der Höhe von maximal 140 E monatlich verhindern nicht, daß Familien, die darauf zurückgreifen müssen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Betroffen sind auch diejenigen Kinder, deren Väter aufgrund ihres gegenüber der Arbeitslosenhilfe niedrigeren Arbeitslosengeldes II keinen oder weniger Unterhalt zahlen (können), denn die Unterhaltsvorschußkassen bei den Jugendämtern treten maximal sechs Jahre lang und auch nur bis zum 12. Lebensjahr des Kindes ein.

Von den »Ich-AGs«, die in großer Zahl entstehen sollten, versprach sich die Bundesregierung einen Schub an marktwirtschaftlicher Dynamik. Daß sich zunächst nur wenige Arbeitslose mit einem von 600 EUR pro Monat im ersten Jahr über 360 EUR pro Monat im zweiten auf 240 EUR pro Monat im dritten Jahr sinkenden Förderungsbetrag als »Ich-AG«-Gründer/innen versuchten, verwundert einen kritischen Beobachter kaum. Nicht nur die materielle Situation, sondern auch die Position von Frauen und (alleinerziehenden) Müttern auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert sich. Die Mini- und Midi-Jobs übernehmen größtenteils Frauen.

Die Hartz-Gesetze haben besonders für Familien und Kinder auch noch andere Folgen. Da die Zumutbarkeitsregelungen im »Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« erneut verschärft und die gültigen Mobilitätsanforderungen gegenüber (Langzeit-)Arbeitslosen nochmals erhöht wurden, verschlechtern sich auch für Familien die Möglichkeiten, ein geregeltes, nicht durch Zeitdruck, Streß und/oder räumliche Trennung von Eltern und Kindern beeinträchtigtes Leben zu führen.

Die drastischen Verschlechterungen trafen nicht nur frühere Bezieher/innen von Arbeitslosenhilfe, z.B. Frauen, deren Ehemänner mit ihrem Einkommen über den neuen, niedrigeren Freibeträgen lagen. Auch jene Empfänger/innen von Sozialhilfe, die nicht erwerbsfähig sind, also nicht mindestens drei Stunden täglich arbeiten können, müssen Einbußen hinnehmen. Sie erhalten zum Teil nach der ab 1. Januar 2005 gültigen Regelsatzverordnung weniger Geld, weil Einmalleistungen als pauschalierter Betrag im Regelsatz aufgehen. Beim HLU-Regelsatz sind Kinder unter sieben Jahren künftig zwar etwas besser gestellt, die übrigen Kinder und Jugendlichen jedoch schlechter als bisher. Unter dem Wegfall der wiederkehrenden einmaligen Leistungen, etwa für Kleidungsstücke oder defekte Haushaltsgeräte sowie ihre Einbeziehung in den neuen, gegenüber dem bisherigen Eckregelsatz nur leicht angehobenen Regelsatz, leiden primär Familien mit Kindern, deren Bedarf in dieser Hinsicht ausgesprochen hoch ist.

3. Maßnahmen zur Verringerung / Verhinderung von Kinderarmut

Wenn die heutige Ausprägung von (Kinder-)Armut in der Bundesrepublik primär eine Folge der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung/Umstrukturierung fast aller Lebensbereiche ist, kann sie nicht ohne ihr Gegenstück, d.h. den in wenigen Händen konzentrierten Reichtum, verstanden und nur durch eine integrale Beschäftigungs-, Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik, die Maßnahmen zur Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen einschließt, beseitigt werden. Durch nicht oder unzureichend aufeinander abgestimmte Schritte, etwa höhere Transferleistungen an (sämtliche) Eltern, sind prekäre Lebenslagen zwar zu verbessern, ihre Ursachen aber kaum zu beseitigen. Nötig wäre vielmehr ein Paradigmenwechsel vom »schlanken«, ja magersüchtigen, zum interventionsfähigen und -bereiten Sozialstaat. Nur wenn eine grundlegende Kurskorrektur im Regierungshandeln erfolgt, vermag die Sozialpolitik den Trend zur Exklusion eines wachsenden Bevölkerungsteils, darunter besonders vieler Kinder und Jugendlicher, die außerdem immer weniger berufliche Perspektiven haben, aufzuhalten. Die sich heute in allen entwickelten Industriestaaten verfestigende Massenarbeitslosigkeit zieht oft einen sozialen Abstieg nach sich, der meist stufenförmig verläuft und nicht nur direkt Betroffene, sondern auch deren Familien hart trifft, besonders dann, wenn es sich um Alleinerziehende handelt. Deshalb bildet die spürbare und nachhaltige Verringerung der Arbeitslosigkeit einen zentralen Ansatzpunkt zur Bekämpfung der Kinderarmut. Eine konsequentere Beschäftigungspolitik würde nicht nur die Arbeitslosigkeit verringern, sondern auch der Kinderarmut entgegenwirken. Sie müßte von einer Umverteilung der Arbeit durch Überstundenabbau und einer Verkürzung der Wochen- wie der Lebensarbeitszeit über kreditfinanzierte Investitionsprogramme bis zu einem öffentlich geförderten Dienstleistungssektor alle Interventionsmöglichkeiten des Staates für die Schaffung von mehr Stellen nutzen.

Neue Normalität? Da die Aushöhlung bzw. Erosion des »Normalarbeitsverhältnisses« maßgeblich zur Verbreitung von (Kinder-)Armut beiträgt, ist die Bewahrung des Flächentarifvertrages ein weiterer Baustein zu ihrer wirkungsvollen und nachhaltigen Bekämpfung. Hinzutreten sollten Mindestlohnregelungen, wie sie in einer Mehrzahl der EU-Staaten längst bestehen. Sinnvoll wäre auch eine stärkere Rückbindung der Arbeitszeitregelungen in Betrieben und Verwaltungen an die Lebensbedürfnisse der Beschäftigten und ihrer Familien, was im Grunde eine Neujustierung des Normalarbeitsverhältnisses bedeuten würde: Beschäftigte müßten zwischen Vollzeitarbeit, Teilzeitarbeit und Arbeitsunterbrechung ohne Einbußen an sozialer Sicherheit und beruflichen Weiterbildungsmöglichkeiten wechseln können, Arbeitgeber auf die je nach der Lebenssituation wechselnden Interessen ihrer Beschäftigten Rücksicht nehmen.

Ein neues, flexibles und den veränderten Bedingungen im Zeichen der Globalisierung genügendes Normalarbeitsverhältnis muß genauso wie das althergebrachte gesellschaftlich eingebettet sein und sozial flankiert werden, wozu ein Ausbau der öffentlichen Infrastruktur mit Ganztagsbetreuung für Kinder unter drei Jahren und im Schulalter (Ganztagsschule) gehört. Kinder- armut läßt sich in der Regel auf Frauen- bzw. Mütterarmut zurückführen, so daß der Schlüssel zu ihrer Verringerung in einer Erhöhung der weiblichen Erwerbsbeteiligung liegt, was eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie voraussetzt.

Ganztagsschulen, die möglichst gebührenfreie Kindergarten-, Krippen- und Hortplätze ergänzen sollten, hätten einen pädagogisch-sozialen Doppeleffekt: Einerseits würden von Armut betroffene oder bedrohte Kinder umfassender betreut und systematischer gefördert als bisher, andererseits könnten ihre Mütter leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme besser meistern ließe. Durch die Ganztags- als Regelschule lassen sich soziale Handikaps kompensieren, weil eine bessere Versorgung der Kinder mit Nahrung (bei gemeinsamen Mittagessen), eine Unterstützung vor allem leistungsschwächerer Schüler/innen (nicht nur aus Migrantenfamilien) bei der Erledigung von Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung der Freizeit möglich wären.

Das deutsche System der sozialen Sicherung ist nicht nur erwerbsarbeits- und ehe-, sondern auch zu erwachsenenzentriert. Eine auf die Verringerung bzw. Vermeidung von Armut zielende Kinder- und Jugendpolitik darf nicht zulassen, daß die kommunalen Angebote für diese Altersgruppe im Rahmen staatlicher Sparmaßnahmen weiter verringert werden. Bildungs-, Erziehungs- und Kultureinrichtungen sind für die Entfaltung der Persönlichkeit sozial benachteiligter Kinder unentbehrlich, weshalb sie nicht – dem neoliberalen Zeitgeist entsprechend – privatisiert, sondern weiterhin öffentlich finanziert und noch ausgebaut werden sollten.