Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2006, Rubrik Titelthema

Informelle Bildung am Beispiel des freiwilligen Engagements

Interview mit Wiebken Düx, Uni Dortmund

Fragen von Susanne John, Deutsches Jugendinstitut (DJI), an Wiebken Düx zum Projekt des Forschungsverbundes zwischen der Uni Dortmund und dem Deutschen Jugendinstitut

DJI: »Frau Düx, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche fit fürs Leben zu machen, sind derzeit Alternativen und Ergänzungen zur Schule gesucht. Bereiche, in denen sich Jugendliche freiwillig engagieren, bieten als sogenannte informelle Settings besondere Räume für ergänzende Lernerfahrungen. Dieser Bereich umfasst allerdings ein ziemlich breites Spektrum ...«

Wiebken Düx: »Ja, Jugendliche engagieren sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen, wie Sportvereinen, gesellschaftlichen Großorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften, traditionellen Hilfs- und Rettungsorganisationen, etwa beim Technischen Hilfswerk, der Freiwilligen Feuerwehr oder der DLRG. Aber auch in der Schülervertretung, in Jugendverbänden wie SJD-Die Falken oder bei den Pfadfindern, bei bekannten Initiativen wie Greenpeace oder Attac sowie in kleineren lokalen Initiativen und Projekten wie etwa einer Studentenzeitung oder dem Eine-Welt-Laden vor Ort finden sich engagierte junge Menschen.«

DJI: »Viele dieser Verbände und Organisation verweisen gern auf die Bildungswirksamkeit ihrer Angebote. Allerdings sind die möglichen Lern- und Bildungsinhalte der diversen Anbieter ja sehr heterogen. Gibt es dennoch einige übergreifende Schlüsselkompetenzen, die Sie hervorheben würden?«

Düx: »Es lassen sich anhand der wissenschaftlichen Literatur und auch anhand unserer eigenen empirischen Forschungen zum Kompetenzerwerb im freiwilligen Engagement Jugendlicher organisationsübergreifend insbesondere Kompetenzen sozialer und persönlichkeitsbildender Art feststellen. Insofern sind die von den Jugendverbänden und auch von Politikern häufig geäußerten Aussagen zu Lern- und Bildungsmöglichkeiten durch gesellschaftliches Engagement nicht aus der Luft gegriffen, sondern haben einen zutreffenden Kern. Der im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) gesetzlich festgeschriebene Bildungsauftrag der Jugendarbeit wird durchaus ernst genommen.
In unserer Studie zeigten sich als übergreifende Schlüsselkompetenzen, die junge Menschen in den Organisationen ihres Engagements erwerben oder vertiefen können: Kommunikationskompetenz, die Fähigkeit zur Teamarbeit und Verantwortungsbewusstsein, aber auch – was viele engagierte Jugendliche anführen – Selbstbewusstsein und Selbständigkeit. Beispielsweise berichtet eine engagierte Jugendliche, dass sie früher sehr schüchtern gewesen sei, als Jugendvertreterin aber gelernt habe, ihre Argumente auch in der Öffentlichkeit zu vertreten. Schließlich hat sie sich sogar getraut, auf einer Demonstration vor vielen Menschen eine Rede zu halten.
Daneben können weitere wichtige Basiskompetenzen, die in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sind, wie miteinander verhandeln, gemeinsam Entscheidungen treffen sowie Konflikte lösen oder Kompromisse schließen, in den Settings des freiwilligen Engagements erlernt werden. Diese Kompetenzen eines demokratischen Umgangs werden häufig in der Gremienarbeit erworben, aber auch im Alltag der Organisationen durch Möglichkeiten der Mitbestimmung und Selbstorganisation für Heranwachsende.«

DJI: »Sind diese Kompetenzen eindeutig eine Folge des freiwilligen Engagements der Jugendlichen?«

Düx: »So klar und eindeutig lässt sich dies leider nicht nachweisen. Unsere Lebenswelt besteht ja aus ungezählten Lernfeldern, Lernformen und Lernanlässen, die im biografischen Verlauf nebeneinander oder nacheinander existieren. Neue Lernerfahrungen knüpfen immer an bereits vorhandene Erfahrungen an. Daher können in unserer Studie Lerneffekte wie der Erwerb von Kompetenzen oder Einstellungen nur in den seltensten Fällen eindeutig und ausschließlich bestimmten Lerngelegenheiten und -umgebungen zugeordnet werden.
Häufig ließ sich nicht mehr genau rekonstruieren, ob die von den engagierten Jugendlichen genannten Fähigkeiten bereits in das freiwillige Engagement eingebracht und dann vertieft oder hier neu erworben wurden, so dass sich die Frage stellt, ob die Kompetenzen der Jugendlichen eher Auslöser oder eher Wirkung ihres Engagements sind. Oder die Frage etwas anders formuliert: Engagieren sich eher die Schlauen und sozial Eingestellten und bringen ihr vorher an anderen Orten erworbenes Wissen und ihre Fähigkeiten ins Engagement ein? Oder gewinnen die Heranwachsenden erst durch ihr Engagement bestimmte Kenntnisse, Kompetenzen und soziale Einstellungen? Es ist zu vermuten, dass eine Wechselwirkung zwischen Kompetenzen, Kenntnissen und Interessen, die zum Engagement führen und deren Weiterentwicklung im Engagement besteht.«

DJI: »Welche Jugendlichen engagieren sich denn vorwiegend freiwillig?«

Düx: »Das sind in erster Linie Angehörige der Mittelschicht mit mittleren und höheren Schulabschlüssen. Bisherige Forschungen zum Engagement Jugendlicher, auch die Daten des neuen Freiwilligensurvey von 2004, bestätigen dies. Der Freiwilligensurvey betont die gute soziale Einbindung freiwillig engagierter Jugendlicher. Danach sind bei den Jugendlichen - ähnlich wie bei den Erwachsenen - die besser integrierten und höher ausgebildeten häufiger engagiert. In vielen Bereichen, in denen sich Jugendliche engagieren, sind Hauptschüler oder Jugendliche mit unteren Bildungsabschlüssen eher unterrepräsentiert. Ausnahmen bilden die technisch orientierten Organisationen wie beispielsweise die Jugendfeuerwehr, in denen sich auch Hauptschüler verstärkt beteiligen.«

DJI: »Welche Rolle spielt dabei das Elternhaus?«

Düx: »Das Elternhaus spielt eine wichtige Rolle für die aktive Beteiligung Jugendlicher in Jugendorganisationen und anderen gemeinnützigen Vereinen. Schon der Zugang zum Engagement hängt häufig von den sozialen und kulturellen Ressourcen und Interessen der Familien ab. In unserer Studie zeigte sich, dass es in der Mehrzahl der Fälle die von den Eltern vielfältig geförderten Jugendlichen ohne größere schulische und soziale Probleme sind, die sich in ihrer Freizeit engagieren. In der Regel wird das freiwillige Engagement der Jugendlichen von der Familie unterstützt. Auch wo die Eltern selbst nicht oder nicht mehr freiwillig engagiert sind, fördern sie das Engagement ihrer Kinder ideell oder auch materiell.
Es bleibt allerdings die Frage nach den Jugendlichen, die aufgrund ihrer familialen Herkunft nicht den Weg in einen Jugendverband oder eine andere Form des Engagements finden. Diese Jugendlichen sind damit leider auch von den hier möglichen vielfältigen Lernerfahrungen und Kompetenzgewinnen ausgeschlossen.
Hier sind die Jugendorganisationen herausgefordert, dieser schichtspezifischen Schieflage des Engagements entgegenzuwirken und Strategien zu entwickeln, die diese jungen Menschen motivieren könnten, bei ihnen mitzumachen. Eventuell könnte die Schaffung von Betätigungsfeldern im handwerklich-technischen Bereich oder mit niedrigen Zugangsvoraussetzungen – bei allen Schwierigkeiten – auch Hauptschüler und vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund motivieren, sich zu engagieren und damit auch von den unbestreitbar vorhandenen Bildungschancen eines Engagements zu profitieren.«

DJI: »Lassen sich die von Ihnen beschriebenen Lerneffekte überhaupt nachweisen?«

Düx: »Mit dieser Frage weisen Sie auf eine methodische Schwierigkeit unseres Projekts hin. Wie alle Lern- und Bildungsprozesse können auch Lernprozesse in informellen Kontexten mit sozialwissenschaftlichen Methoden nicht unmittelbar beobachtet oder gar gemessen werden. Beobachtet werden können allenfalls Wirkungen und Ergebnisse des Lernens etwa in Form erworbener Kompetenzen wie z.B. Klavierspielen oder Schwimmen. Doch auch bei der empirischen Erfassung von Kompetenzen stößt man an Grenzen: Während sich kulturelle und instrumentelle Kompetenzen wie etwa Sach- und Fachwissen oder handwerklich-technische Fertigkeiten noch relativ präzise überprüfen und messen lassen, erweist sich dies als weitaus schwieriger für soziale oder personale Kompetenzen. Ich denke da etwa an Empathie, Mut oder Durchhaltevermögen, die insbesondere in lebensweltlichen Kontexten wie Familie, Freundeskreis oder auch freiwilligem Engagement angeeignet werden.
In den Organisationen des freiwilligen Engagements findet sich – ähnlich wie in der Familie – eine große Bandbreite äußerst heterogener Lerninhalte, die auf höchst unterschiedliche Weise erworben werden. Diese Vielfalt und Diffusität der unterschiedlichen Lerninhalte, Lernebenen und -formen erschwert ihre Erfassung. Zudem entziehen sich diese lebensweltlichen Bereiche selbst auch weitaus stärker einer empirischen Erforschung und Erfassung als das formale Bildungs- und Ausbildungssystem.
Ein weiteres methodisches Problem unserer qualitativen Studie liegt darin, dass wir versucht haben, den Erwerb von Kompetenzen anhand der Aussagen Heranwachsender, also sprachlich vermittelt, zu untersuchen. Dabei wurde deutlich, dass die Fähigkeit, Erfahrungen zu verbalisieren und zu reflektieren, bei den Befragten sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Die Schwierigkeit mancher Jugendlicher, Lernprozesse als solche zu erkennen und zu beschreiben, heißt aber natürlich nicht, dass sie nichts gelernt haben. Deshalb sind wir bei der Auswertung der Interviews zweistufig vorgegangen. Zum einen wurde ausgewertet, was die engagierten Jugendlichen selbst zum Thema Lernen und Kompetenzerwerb bewusst reflektierten und explizit benannten. Zum anderen haben wir versucht, anhand der von den Befragten beschriebenen Tätigkeiten, Aufgaben, Erfahrungen und Erlebnisse zu rekonstruieren, was sie im Engagement gelernt haben.
In den Interviews wurde nur die Selbsteinschätzung von Kompetenzen abgefragt. Das heißt, Kompetenzen geraten stets nur über den Filter subjektiver Wahrnehmung in den Blick. Ob die genannten Kompetenzen tatsächlich erworben wurden sowie auch deren Qualität konnte in der Studie nicht geprüft oder gemessen werden.«

DJI: »Sie haben dennoch versucht, den Kompetenzerwerb beim informellen Lernen wissenschaftlich aufzuschlüsseln. Wie haben Sie Ihre Studie angelegt?«

Düx: »Da der Gegenstandsbereich unserer Studie eine einfache Übertragung von Tests und Leistungsmessverfahren - etwa schulischer oder betriebswirtschaftlicher Art - verbot, haben wir andere methodische Instrumente erprobt. So haben wir zum einen eine qualitative Untersuchung in unterschiedlichen Organisationen wie Jugendverbänden, Schülervertretungen oder Initiativen in drei ausgewählten Bundesländern durchgeführt. Zum anderen befragten wir in einer bundesweiten Repräsentativerhebung per Telefon 1.500 ehemals engagierte Erwachsene zwischen 25 und 40 Jahren zum Kompetenzerwerb durch ihr Engagement im Jugendalter. Als Kontrollgruppe wurden zusätzlich 500 in ihrer Jugend nicht engagierte Personen der gleichen Alterskohorte in die Untersuchung einbezogen. Für diese quantitative Erhebung ist gerade die Feldphase beendet und wir stehen am Beginn der Auswertung. Deshalb liegen Ergebnisse und fundierte Zahlen hier noch nicht vor.
Die bisher veröffentlichten Befunde aus unserem Projekt stammen ausschließlich aus unserer qualitativen Untersuchung. Hier wurden 70 engagierte Jugendliche zwischen 14 und 22 Jahren in NRW, Bayern und Sachsen anhand leitfaden-gestützter Interviews zu ihren im Engagement gemachten Lernerfahrungen, übernommenen Tätigkeiten und Aufgaben sowie den hierzu erforderlichen Kompetenzen befragt.«

DJI: »Welchen Stellenwert hat das freiwillige Engagement bei den Jugendlichen selbst?«

Düx: »Alle Befragten schildern ihre freiwillige Tätigkeit als sinnvoll und wichtig. Für die einzelnen Befragten hat das freiwillige Engagement einen unterschiedlichen Stellenwert, auch in Abhängigkeit davon, wie lange sie schon engagiert sind oder in welcher biographischen Situation sie sich gerade befinden. Deutlich wurde, dass Jugendliche ihr freiwilliges Engagement als ein Erfahrungsfeld sehen, in dem sie den Sinn ihres Handelns ständig neu überprüfen können.
Einige Interviews lassen vermuten, dass der im Engagement erfahrene subjektive Sinn der übernommenen Aufgaben zu einer starken Identifikation mit dem eigenen Tun führt. Hier sehen wir einen starken Unterschied zur Schule. Durch ihr Engagement scheinen einige Engagierte zudem aber auch in einen über ihre eigene Person hinausweisenden gesellschaftlichen Sinnzusammenhang eingebunden zu sein. So hofft etwa ein 16-jähriger von seiner Arbeit mit Kindern, damit einen Beitrag zu Frieden und Toleranz in der Welt leisten zu können. Diese und ähnliche Aussagen legen die Annahme nahe, dass das Engagement Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet, über ihre Tätigkeit und den gemeinsamen Diskurs in der Organisation Sinn zu erzeugen und zu erfahren sowie einen Zusammenhang zwischen dem eigenen Leben, den eigenen Werten und Zielen und der Gesellschaft herzustellen.
Neben dem Erwerb unterschiedlicher Kompetenzen scheinen Orientierungsangebote und die Vermittlung von Werten in den Organisationen für die Heranwachsenden große Bedeutung zu besitzen. Insbesondere in den weltanschaulichen Organisationen wird die Entwicklung von Einstellungen und Wertorientierungen geschildert, von denen sich vermuten lässt, dass sie für die biographische und gesellschaftliche Verortung Heranwachsender eine entscheidende Rolle spielen können. Insgesamt gesehen, können die Organisationen des freiwilligen Engagements als ein Sozialisationsfeld betrachtet werden, welches Heranwachsenden Chancen des Kompetenzerwerbs, der Persönlichkeitsentwicklung, biographischer Orientierung sowie gesellschaftlicher Solidarität bietet.«

DJI: »Nehmen die Jugendlichen ihr ›informelles‹ Lernen eigentlich als Lernen wahr?«

Düx: »Interessanter Weise wird das Lernen im Engagement von den befragten Jugendlichen, insbesondere von den jüngeren, oft gar nicht als Lernen wahrgenommen. Lernen wird häufig mit schulischem oder kognitivem Lernen assoziiert und Handeln oft nicht als Ergebnis eines Lernprozesses verstanden. Anscheinend existieren Lernkulturen und Lerninhalte, die den Befragten so alltäglich oder trivial erscheinen, dass sie von ihnen nicht als Lernen angesehen werden. Lernen im Engagement ereignet sich in vielen Situationen nebenher, unbewusst oder erscheint selbstverständlich und nicht erwähnenswert. In den Interviews zeigt sich, dass den Befragten oft erst im Nachhinein oder teilweise auch während des Gesprächs bewusst wird, was sie gelernt haben.
Die befragten engagierten Jugendlichen lernen nicht primär um des Lernens willen oder um für sich selbst Kompetenzen zu erwerben, sondern für ihre Aufgaben im Engagement. Anlass, Medium und Ziel des Lernens ist in der Regel die Tätigkeit. In einzelnen Bereichen und Themenfeldern lernen die befragten Heranwachsenden dann auch weit mehr als den entsprechenden Schulstoff. Beispielsweise erwerben einige in ihrem Engagement gründliche Kenntnisse über Umweltprobleme, Fragen sozialer Gerechtigkeit oder auch musikalische Kompetenzen.«

DJI: »Wodurch zeichnen sich diese informellen Lernumgebungen vor allem aus?«

Düx: »Die Settings des freiwilligen Engagements bieten für Jugendliche besondere Lernchancen. Dafür sind bestimmte strukturelle Voraussetzungen dieser Settings maßgeblich. Da ist als erstes grundlegendes Strukturmerkmal die Freiwilligkeit der Tätigkeit in selbst gewählten Kontexten sowie die Orientierung an den eigenen Interessen und Themen der Jugendlichen zu nennen. Alle Interviewten weisen darauf hin, dass der größte Unterschied zum Lernen in der Schule in der Freiwilligkeit des Lernens im Engagement liegt.
Des Weiteren ist das Engagement dadurch gekennzeichnet, dass die Engagierten Frei- und Gestaltungsspielräume zum Ausprobieren, aber auch zum Mitbestimmen und zum selber Organisieren vorfinden. Jugendliche erhalten hier vielfältige Anregungen und Anerkennung auf der inhaltlichen wie auch auf der Beziehungsebene. In ihrem Engagement eröffnen sich ihnen Möglichkeiten, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, Werten und Anschauungen zu experimentieren sowie ihre Kenntnisse, Vorstellungen und Kompetenzen zu erproben, zu erweitern oder zu verändern.
Außerdem sind die Tätigkeiten im Engagement explizit auf andere Personen oder Dinge gerichtet und erfolgen im Modus der Verantwortungsübernahme. Anders als in der Schule übernehmen Jugendliche in ihrem Engagement Verantwortung für konkrete Inhalte, Dinge oder Personen im realen Leben. Es hat sich in den Interviews gezeigt, dass Jugendliche im Engagement durch die aktive Übernahme von Verantwortung in vielfältiger Weise lernen und ganz erstaunliche Fähigkeiten entwickeln, insbesondere dann, wenn Erwachsene in den Organisationen sie hierin ermutigen und bestätigen.
Und schließlich sind Lernen und Handeln hier - anders als in der Schule - miteinander verbunden im Sinne von »Learning by doing«, so dass Lernen als Übung und Handeln als Ernstfall im Engagement inhaltlich und zeitlich sehr eng verknüpft sind oder sogar zusammenfallen, dass also Bildungsprozesse sozusagen unter Ernstfallbedingungen ablaufen. Gegenüber den schulischen Anforderungen, die sich ohne unmittelbaren Handlungsdruck vorrangig auf die Bewältigung intellektuell-kognitiver Aufgaben beziehen, bietet freiwilliges Engagement für die Heranwachsenden häufig die erste Gelegenheit und Herausforderung, sich handelnd zu erfahren und zu bewähren.«

DJI: »Freiwilligkeit, Freiräume, Ernstfallbedingungen - ein ziemlicher Unterschied zu den Strukturmerkmalen des schulischen Lernens, oder?!«

Düx: »Ja, das stellt sich wohl auf den ersten Blick so dar. Schule wird aus der Sicht junger Engagierter mit Pflicht und Zwang, freiwilliges Engagement mit Freiwilligkeit und Spaß verbunden. Man muss aber sehen, dass in diesen beiden Lernfeldern bzw. Institutionen von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgegangen wird und sich auch die jeweiligen Zielsetzungen unterscheiden.
Die erste Differenz liegt schon in der Auswahl der Kinder und Jugendlichen. Aufgrund der Schulpflicht in Deutschland müssen ja alle Heranwachsenden bis zum 18. Lebensjahr in die Schule gehen. Im Engagement findet sich demgegenüber etwa ein Drittel aller Jugendlichen, die sich freiwillig und daher in der Regel auch mit größerer Motivation beteiligen. Zudem ist der Zeitaufwand für ein Engagement normalerweise weit geringer als die Zeit, die für die Schule aufgewendet werden muss.
Im Engagement sind die Lerninhalte sowie die Lernmodalitäten vielfältig und bunt, häufig aber auch unstrukturiert, zufällig und unübersichtlich. Schule als formaler, von der Lebenswelt Heranwachsender abgekoppelter Lernort, ist durch strukturelle Merkmale wie Pflicht, Leistungsdruck und -kontrolle, Selektion und Sanktionsmöglichkeiten bestimmt. Die hier gebotene Standardisierung und Systematisierung inhaltlich und zeitlich aufeinander aufbauender Lernmodule begünstigt den Erwerb systematischen, insbesondere kognitiv-abstrakten Wissens. Diese Form der Wissensvermittlung und Wissensaneignung widerspricht der Logik und dem Eigensinn, aber auch den strukturellen Bedingungen des freiwilligen Engagements.
Die Chancen und Stärken dieses außerschulischen Lernfeldes liegen in Freiwilligkeit, Vielfalt, Eigensinn und Selbstbestimmtheit des Lernens und Handelns, in den Möglichkeiten der individuellen Persönlichkeitsentwicklung und im Erwerb sozialer Kompetenzen. Die Aneignung dieser Kompetenzen findet bislang in der Schule eher zufällig und überwiegend auf der informellen Ebene statt. Freiwilliges Engagement verbindet Lernwelt und Lebenswelt, Lernen und verantwortliches Handeln in Realsituationen und folgt somit einer anderen Handlungsrationalität als Schule. Nicht Wettbewerb, Konkurrenz und Benotung spornen die Jugendlichen im Engagement zum Lernen an, sondern Freiwilligkeit, eigenes Interesse, gemeinsames Tun, die Anerkennung von Gleichaltrigen und Älteren, Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitgestaltung sowie die Erfahrung von Sinn, Selbstwirksamkeit und sozialer Zugehörigkeit.«

DJI: »Sehen Sie trotzdem Möglichkeiten, einige dieser Rahmenbedingungen und Aneignungsformen auf die Schule zu übertragen und für den schulischen Kontext zu nutzen?«

Düx: »Diese Versuche gibt es ja schon. Beispielsweise werden an vielen Schulen Projekte durchgeführt, die über den schulischen Alltag hinausgehen, oder es wird versucht, über das aus den USA stammende Konzept des »Service Learning« Engagement im Gemeinwesen mit Lernen in der Schule zu verbinden.
Gerade bei uns in NRW gibt es eine ganze Reihe von Ansätzen, durch die Kooperation mit Einrichtungen der Jugendhilfe einige dieser Rahmenbedingungen in das formale Schulsystem einzubringen, etwa im Bereich der »Offenen Ganztagsschule«. Jugendarbeit hat dabei die Chance, anders als bisher, alle Kinder und Jugendlichen zu erreichen.«

DJI: »Lassen sich die Konzepte von Schule und Jugendarbeit miteinander verbinden, ohne dass es zu einem Identitätsverlust eines der beiden Akteure kommt?«

Düx: »Wie die vielfach geforderte »Kooperation auf Augenhöhe« aussehen könnte, ohne dass Jugendarbeit ihr Profil von Freiwilligkeit, Selbstorganisation, Engagement, Mitbestimmung und Anerkennung verliert, ist sicher noch zu prüfen.
Lernerfahrungen und Strukturbedingungen in beiden Feldern lassen sich gegenseitig nicht einfach austauschen. Beide Seiten müssten sich auf Neues einlassen. Im besten Fall könnten die Kooperationspartner versuchen, die jeweils unterschiedliche Logik des anderen anzuerkennen, Anknüpfungspunkte zu ermitteln und voneinander zu lernen. Schule kann sich zum Gemeinwesen öffnen und die außerschulischen Interessen, Erfahrungen und Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen stärker inhaltlich einbeziehen und die Jugendarbeit sollte sich besser über schulische Inhalte, Ansätze und Strukturen informieren. Dies könnte für beide Seiten Chancen und innovative Anregungen bedeuten. Für Heranwachsende könnte es zu mehr Freude und Interesse an der Schule führen. Die Kooperation könnte eventuell auch eine Erhöhung der Zahl der Engagierten mit sich bringen, indem Kinder und Jugendliche, die sonst vielleicht nicht mit Jugendorganisationen in Berührung kommen, hier die Gelegenheit hätten, diese kennen zu lernen und sich dann vielleicht auch aktiv dort zu beteiligen.«

DJI: »Also ganz im Sinne eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses?«

Düx: »Ja, das die gesamte Person und nicht nur die Überlieferung von Wissen in den Blick nimmt. Soziales Lernen, Verantwortungsübernahme im Gemeinwesen und Persönlichkeitsentwicklung sind ebenso wichtig wie die Förderung kognitiver, kreativer oder instrumenteller Kompetenzen.
DJI-Direktor Thomas Rauschenbach fordert immer wieder, dass ein umfassendes Lern- und Bildungskonzept mit Blick auf die Aneignung zentraler Kompetenzen auch die außerschulischen Lern- und Bildungsressourcen, -orte und
-modalitäten integrieren soll. Ein erster Schritt hierzu wäre – was wir ja ansatzweise mit unserer Studie für den Bereich des Engagements versuchen – die unterschiedlichen Leistungen und Möglichkeiten der verschiedenen gesellschaftlichen Lernorte sichtbar zu machen, anzuerkennen und aufeinander zu beziehen.«

DJI: »Es gibt mittlerweile Bestrebungen, informell erworbene Fähigkeiten und Kenntnisse zu zertifizieren? Ist es nicht ein Widerspruch in sich, wenn das informelle Lernen im Nachhinein formalisiert wird?«

Düx: »Das ist schon problematisch und ambivalent. Zertifizierung von Lernergebnissen ist ein wesentliches Strukturmerkmal von Schule und formaler Ausbildung. Die Forderung nach einer Zertifizierung von Kompetenzen und Wissen, die in informellen Zusammenhängen erworben wurden, entstammt ja ursprünglich der arbeitsmarktpolitischen Diskussion.
In lebensweltlichen Bereichen wie Familie oder Engagement gibt es in der Regel noch keine Benotung oder formale Bewertung der eigenen Lernanstrengungen und Leistungen. Wenn in Bewerbungen für berufliche Positionen neben Schulzeugnissen zunehmend auch Nachweise über freiwilliges Engagement oder Praktika eine Rolle spielen, dann erhalten Jugendliche damit eine Chance, Kenntnisse und Können einzubringen, die sie außerhalb der Schule erworben haben. Und es ist ja verständlich, dass junge Menschen sich darüber freuen, wenn sie durch die Bescheinigung ihres Engagements einen Wettbewerbsvorteil bei Bewerbungsverfahren in der Berufswelt erlangen.
Allerdings bedeutet die Zertifizierung von Kompetenzen, die in informellen Lernkontexten erworben wurden, nicht nur eine gesellschaftliche Anerkennung und Rehabilitierung dieser Formen und Bereiche des Lernens, sondern bringt auch die Gefahr der Formalisierung und Instrumentalisierung noch bestehender informeller, lebensweltlicher Lernfelder und Lernerfahrungen mit sich.«

DJI: »Wie wird denn derzeit verfahren?«

Düx: »In Nordrhein-Westfalen besteht wie in einer Reihe anderer Bundesländer die Möglichkeit, auf einem Beiblatt zum Schulzeugnis die ehrenamtliche Tätigkeit der Schüler zu dokumentieren. Dies geschieht nur auf Wunsch der Schüler. In unserer Studie zeigte sich, dass Möglichkeiten der Zertifizierung ihrer freiwilligen Tätigkeit von den befragten Jugendlichen zwar prinzipiell begrüßt werden, aber in der Praxis bisher nicht von ihnen genutzt wurden bzw. noch nicht einmal bekannt waren. Keiner der Befragten hat das Engagement aufgenommen, um damit beim späteren Berufseinstieg zu punkten.«

DJI: »Wie stehen die Jugendverbände dazu?«

Düx: »Fragt man die Verantwortlichen der Jugendverbände, so wird ein Nachweis der Kompetenzen aus dem freiwilligen Engagement nicht grundsätzlich abgelehnt. Es gibt hier im Bereich der Aus- und Weiterbildung für die ehrenamtlichen Mitarbeiter ja bereits eine Vielzahl von Kursen wie Übungsleiterlehrgang, Erste-Hilfe-Kurs, Jugendleiter-Card und ähnliches, deren erfolgreicher Abschluss durch Zertifikate bestätigt wird. Bisher wird von den Organisationen, wenn die Engagierten dies wünschen, das Engagement bescheinigt, d.h. welche Aufgaben über welchen Zeitraum ausgeführt wurden. Es wird aber kein Zeugnis erstellt, wie qualifiziert – gut oder weniger gut – die übernommen Aufgaben erledigt wurden.«

DJI: »Und wie bewerten Sie selbst die Forderung nach Zeugnissen für Leistungen im freiwilligen Engagement?«

Düx: Ich sehe darin eine Tendenz, das Engagement wirtschaftlichen Interessen dienstbar zu machen. Dies kann durchaus den individuellen Bedürfnissen und Wünschen mancher Jugendlichen entgegenkommen. Eine solche Indienstnahme brächte aber die Gefahr einer stärkeren Pädagogisierung und Formalisierung des Engagements mit sich sowie tendenziell auch die Gefahr der Zerstörung von Eigensinn, Selbstbestimmung und Freiräumen des Lernens.
Dies könnte dann wiederum zur Folge haben, dass ein Engagement in gemeinnützigen Organisationen von den Jugendlichen nicht mehr überwiegend aus Interesse an der Sache, den Inhalten und den Menschen aufgenommen und beibehalten wird, sondern um Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen nicht-engagierten Jugendlichen beim Berufseinstieg zu haben. Damit würde das Engagement instrumentalisiert.
Ich fürchte auch, dass es dann für Jugendliche seinen Charme einer von Freiwilligkeit, Spaß und eigenem Interesse geprägten Alternative zum schulischen Lernen einbüßen könnte. Das heißt, das Engagement stünde in der Gefahr, seinen spezifischen Charakter als Frei- und Experimentierraum für die eigensinnige Aneignung von Welt und damit auch seine Anziehungskraft für Jugendliche zu verlieren.

»Frau Düx, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.«


Quelle: DJI-Online-Thema »Informelle Bildung am Beispiel des freiwilligen Engagements«, Februar 2006, www.dji.de
Copyright: Deutsches Jugendinstitut e.V.