Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3-2006, Rubrik Titelthema

Von Hamburg nach Hongkew

Shanghai als letzte Zufluchtsstätte für verfolgte Hamburger Juden in der Nazi-Zeit

von Sybille Baumbach und Claudia Thorn, Dokusearch

Das zwanzigjährige Bestehen der Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und Shanghai bietet die Gelegenheit, ihr Entstehen und ihre Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren zu resümieren, aber auch gegenwärtige Trends zu reflektieren und über zukünftige Prozesse nachzudenken. Dabei stehen die vielfältigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Hafenstädten zumeist im Vordergrund.

Kaum bekannt ist jedoch, dass Shanghai lange vor der Entstehung seiner Partnerschaft zu Hamburg eine besondere Rolle für verfolgte Hamburger Juden im Dritten Reich gespielt hat. Für die Hamburger Juden wurde Shanghai in dieser Zeit zum fünft wichtigsten Zufluchtsort – gut 3% aller Hamburger jüdischen Auswanderer flüchtete dorthin, nach den Hauptzielländern USA mit 27%, England mit knapp 16%, Palästina mit rd. 13% und den Niederlanden mit 8,5%. (1)
Nach der Pogromnacht im November 1938 spitzte sich die Lage für die jüdische Bevölkerung dramatisch zu. Abertausende deutsche und österreichische Juden versuchten ihr Land zu verlassen. Shanghai wurde zur allerletzten Zufluchtsstätte für insgesamt ca. 20 bis 30.000 europäische jüdische Flüchtlinge. Kein anderes Land hatte damals ein Interesse daran, unfreiwillig vor einem totalitären Regime geflüchtete, zumeist mittelose Menschen aufzunehmen. Da andere Länder restriktive Einwanderungsbedingungen hatten (z. B. Vorzeigegeld und/oder Bürgschaften forderten), waren sie für viele Emigranten nicht erreichbar. In dieser fast ausweglosen Situation war Shanghai der einzige Ort auf der Welt, in dem Flüchtlinge ohne Visum Aufnahme fanden.
Anhand einer Auswahl von Auswandererakten im Bestand Oberfinanzpräsident im Hamburger Staatsarchiv konnten wir 260 jüdische Antragsteller ermitteln, die auf dem sog. Auswanderer-Fragebogen als Bestimmungsort ihrer Emigration »Shanghai« vermerkt hatten. (2)

Bevor die endgültige Ausreise aus Deutschland erfolgen konnte, mussten die Auswanderer vielfältige bürokratische Hindernisse überwinden und waren nicht selten Behördenwillkür und Schikanen ausgesetzt: U. a. mussten sie Unbedenklichkeitsbescheinigungen bei der Polizei und dem Finanzamt einholen. Die Mitnahme von Umzugsgut war streng reglementiert und der Kontrolle durch die Zollämter unterstellt. Die Auswanderer wurden verpflichtet, akribische Aufstellungen über ihren Besitz vor dem 1.1.1933, die danach erworbenen und die speziell für die Auswanderung angeschafften Gegenstände anzufertigen. Die Genehmigung zur Mitnahme von Gegenständen, die seit 1933 angeschafft worden waren, erteilte die Devisenstelle nur dann, wenn der Antragsteller eine Abgabe von 100% des ursprünglichen Anschaffungspreises leistete, die sog. Dego-Abgabe, die an die Deutsche Golddiskontbank abgeführt werden musste. So geschah es z. B. in dem Fall des Auswanderers Martin Ehrmann, der eine gebrauchte Schreibmaschine nach Shanghai mitnehmen wollte. Der Zollbeamte verweigerte ihm die Mitnahme mit der Begründung, Martin Ehrmann beabsichtige in Shanghai jegliche Arbeit anzunehmen, daher sei die Mitnahme der Schreibmaschine nicht dringend geboten. Wenn er sie jedoch mitnehmen wolle, so müsse er das doppelte ihres Wertes, nämlich 150 Reichsmark Dego-Abgabe dafür entrichten. (3)

Im Gegensatz zu den Hamburger Juden, die über ausreichende finanzielle Mittel und Kontakte im europäischen Ausland oder in den USA verfügten und sich auch deshalb schon früher mit Auswanderungsplänen beschäftigt hatten, blieb den mittellosen Hamburger Juden, die nach der Pogromnacht um ihr Leben fürchten mussten, als einziger Ausweg das Ziel Shanghai. Oftmals reichten nicht einmal noch vorhandene bescheidende eigene Geldmittel, um die Reisekosten aufzubringen. Vielen musste deshalb vom Jüdischen Hilfsverein die Schiffspassage ganz oder in Teilen bezahlt werden. In den Ermittlungsberichten der Hamburger Zollbeamten, die das Reisegepäck der Shanghai-Auswanderer kontrollierten, ist nicht selten die Rede von den »ärmlichen Verhältnissen«, in denen die Antragsteller lebten.
Die Mehrzahl der Hamburger Juden, die nach Shanghai flüchteten, verließen die Stadt in dem Zeitraum zwischen Dezember 1938 und August 1939. Sie fuhren zumeist mit der Bahn in eine der italienischen Hafenstädte Triest oder Genua und bestiegen dort ein Schiff, das sie über die Reiseroute Kairo, den Suezkanal, Bombay, Singapur, Hongkong bis nach Shanghai führte. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges war dieser Weg erheblich erschwert und schließlich bestand nur noch die Möglichkeit, auf dem Landweg über Russland, die Mandschurei und Japan nach Shanghai zu gelangen.
Im Hafen von Shanghai nahmen Vertreter der jüdischen Hilfsorganisationen die Flüchtlinge in Empfang. Auf Lastwagen wurden die Neuankömmlinge zu Massenunterkünften gefahren. Die Ankunft war für viele befremdlich. Eine Zeitzeugin, die sich die Überfahrt in der ersten Klasse auf dem Schiff hatte leisten können, berichtet: »Auf Lastwagen, von der ersten Klasse auf Lastautos … In ein camp. Ohne Fußboden.« (4)

Für die Hamburger Flüchtlinge waren die Lebensverhältnisse in Shanghai ein Schock, »weil plötzlich – like this – unser Leben vollkommen geändert war.« (5) Zusammengepfercht mit vielen anderen Menschen auf engstem Raum, unzureichende sanitäre Anlagen, kein oder aber nur wenig Geld, keine Möglichkeit zur Ausübung des erlernten Berufes, inmitten einer fremden Sprache und Kultur, all das bedeutete tagtägliche Belastungen, auf die die Emigranten so nicht vorbereitet gewesen waren. Besonders zu schaffen machten den Flüchtlingen das heißschwüle Klima Shanghais und die Verbreitung von Ungeziefer: »Ratten und Wanzen. Die Ratten haben durch das Holz gefressen. Wanzen! Kolossal, und entsetzlich«. (6)

Eine Sichtung der Akten des Health Department in den Shanghai Municipal Archives ergab vielfältige Klagen und Beschwerden von Bewohnern der Massenunterkünfte, die die mangelhaften Zustände verantwortlich für eine Vielzahl von Krankheiten machten, z. B. Typhus und diverse Hauterkrankungen. Gleichzeitig belegen die Akten allerdings auch, wie engagierte Vertreter der jüdischen Gemeinde, Mitarbeiter der Hilfsorganisationen sowie emigrierte Ärzte sich um die Beseitigung der Missstände und um die Verbesserung der Lage bemühten. (7)

Wie die Emigranten versuchten, trotz widriger äußerer Umstände ihren Lebensunterhalt zu sichern, zeigen die vielfältigen Aktivitäten, die sie entfalteten. So nutzten sie z. B. rege die einzige deutschsprachige jüdische Emigrantenzeitung in Shanghai, die »Shanghai Jewish Chronicle«, um zu inserieren. Es finden sich darin u. a. Anzeigen von James Wolf, Mitglied des bekannten Hamburger Gesangshumoristen-Trios Gebrüder Wolf, der nach seiner Emigration in Shanghai seinen Lebensunterhalt mit der Reparatur von Schreibmaschinen zu verdienen versuchte (8). Ernst Berlin, »Grabmale«, inseriert ebenfalls in der Zeitung (9). Er bemühte sich um die Fortsetzung der geschäftlichen Familientradition. Sein Vater hatte bereits einen Steinmetzbetrieb am Hamburger Ohlsdorfer Friedhof geführt. Auch der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Herbert Frank versuchte das Beste aus seiner Lage zu machen. Für in Europa ausgebildete Rechtsanwälte war die berufliche Situation besonders prekär.
Die Lage wurde dadurch weiter verschärft, dass die japanische Besatzungsmacht im Februar 1943 alle staatenlosen europäischen Juden zwang, in den während des chinesisch-japanischen Krieges 1937 zerstörten Stadtteil Hongkew überzusiedeln, in dem die Japaner ein Ghetto für die jüdischen Flüchtlinge einrichteten. Das Ghetto durfte nur mit Passierscheinen verlassen werden. Obgleich die Lebens- und Arbeitsbedingungen dadurch erheblich erschwert wurden, fand Herbert Frank eine Lösung: Er tat sich mit einem japanischen Rechtsanwalt zusammen, vermutlich aus der Überlegung heraus, durch die Kooperation neue Klienten zu gewinnen. Im September 1943 annonciert er in der Shanghai Jewish Chronicle, um der Leserschaft mitzuteilen, dass er künftig mit Dr. T. G. Nacayama, Attorney at law, eine gemeinsame Kanzlei betreiben würde. (10)

Abschließend ist festzustellen, dass es für ältere Emigranten erheblich schwerer war, sich mit den neuen und ungewohnten Lebensverhältnissen abzufinden und sich darauf einzustellen als dies bei jüngeren Emigranten der Fall gewesen ist. Diese konnten dem »Abenteuer Shanghai« einiges abgewinnen, schlossen Freundschaften, nutzten Chancen und starteten eigene Aktivitäten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Marsch der kommunistischen Truppen auf Shanghai verließen nahezu alle europäischen Juden die Stadt. Die meisten wanderten in die USA aus. Der Zeitzeuge Richard Hembley resümiert rückblick-
end für seine Eltern: »Die besten Jahre ihres Lebens wurden ihnen gestohlen. Besser die besten Jahre ihres Lebens stehlen als ihr Leben.« (11)

Trotz der überaus schwierigen Jahre im Exil Shanghai ist bei vielen Überlebenden eine Dankbarkeit der Stadt Shanghai gegenüber erhalten geblieben, die ihnen einst Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nazis geboten und ihnen dadurch das Leben gerettet hat.

Anmerkungen:

(1) Insgesamt waren es schätzungsweise zwischen 10.000 und 12.000 jüdische Menschen; die von Hamburg aus emigrierten; eine genauere Zahl lässt sich nicht ermitteln. Siehe Sybille Baumbach: Die Auswanderung von Juden aus Hamburg in der NS-Zeit, in: Verfolgung und Verwaltung. Beiträge zur Hamburger Finanzverwaltung 1933-1945. Hrsg. vom Deutschen Zollmuseum Hamburg, Hamburg 2003, S. 39-79, hier S. 40 und S. 42.
(2) Diese Angaben mussten wir als Absichtserklärungen werten, die noch keinen konkreten Hinweis oder gar Beweis auf den tatsächlichen Verbleib der Antragsteller ergaben. Erst die Auswertung weiterer Quellen, die wir u. a. in den Shanghai Municipal Archives und in der Shanghai Library fanden, ermöglichte eine Überprüfung und Bestätigung von Quellenbefunden.
(3) Siehe Auswandererakte Martin Ehrmann, Staatsarchiv Hamburg, Bestand 315-14, Sign. FVg 4022.
(4) Interview mit Alma Kleinschmidt (Aliasname), Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg/Werkstatt der Erinnerung (im folgenden FZH/WdE), Sign. 626.
(5) Interview mit Inge Betten (Aliasname), FZH/WdE, Sign. 468.
(6) Wie Anm. 3.
(7) Shanghai Municipal Archives, Health Department, Akten der Signaturengruppe U, passim. Zu den Ärzten siehe auch Francoise Kreissler: Emigrierte Ärzte in Shanghai (1933-1945): Aufnahmebedingungen, Ausgrenzung, Ghettoisierung, in: Albrecht Scholz, Caris-Petra Heidel (Hrsg.): Emigrantenschicksale. Einfluss der jüdischen Emigranten auf Sozialpolitik und Wissenschaft in den Aufnahmeländern, Frankfurt am Main 2004, S. 175-188. Im Emigranten Adressbuch für Shanghai vom November 1939 finden sich auch die Namen dreier Hamburger Ärzte: Dr. Louis Ludwig Goldschmidt, Dr. Salomon Goldschmitt und Dr. Georg Meyer.
(8) Shanghai Jewish Chronicle vom 4.7.1943.
(9) Shanghai Jewish Chronicle vom 10.7.1943.
(10) Shanghai Jewish Chronicle vom 5.9.1943.
(11) Interview mit Richard Hembley (Aliasname), FZH/WdE, Sign. 178.