von Lars Amenda, Historiker
Gegenwärtig wird viel über die deutsch-chinesischen Beziehungen in Hamburg berichtet. Der aktuelle Senat ist – wie auch seine Vorgänger – bemüht, die wirtschaftlichen Verbindungen mit der Volksrepublik zu intensivieren, um vom Boom in China zu profitieren. Die Handelsmetropole Hamburg hatte auch in der Vergangenheit für deutsche Verhältnisse enge Kontakte zu China. Dass in Shanghai seit dem 19. Jahrhundert viele deutsche Kaufleute ansässig waren, ist vermutlich bekannt. Weniger publik dürften hingegen die Kontakte chinesischer Seeleute und Migranten mit der Hansestadt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sein. In diesem Beitrag möchte ich diese Geschichte skizzieren und werde dabei gelegentlich auch persönliche Verbindungen zwischen Shanghai und Hamburg streifen.
Chinesische Seeleute an der »Wasserkante«
Im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog sich in der Seeschifffahrt mit der sukzessiven Umstellung von Wind- auf Dampfantrieb ein grundlegender Wandel. Reedereien wie die Hamburger Hapag gaben den Bau von neuen und schnellen Dampfschiffen in Auftrag, die über größere Frachträume verfügten und unabhängig vom Wind waren. War auf Segelschiffen eine eingespielte Mannschaft notwendig, so entstanden auf Dampfschiffen die »industrialisierten« Tätigkeiten des Heizers und des Trimmers (Kohlenzieher). Seit den 1890er Jahren begannen europäische Reedereien, »farbige Seeleute« für die körperlich anstrengende Arbeit vor den Kesseln anzumustern. Neben indischen Seeleuten wurden vor allem Chinesen aus der südlichen Provinz Guangdong und hier meist aus der Nähe Kantons und Hongkongs beschäftigt, die biologistisch als »hitzebeständiger« galten und die deutlich geringere Heuern erhielten. Die Globalisierung des maritimen Arbeitsmarktes war auf Seiten deutscher Gewerkschaften äußerst umstritten und beschäftigte wiederholt den Reichstag. Auch quantitativ war es keine Marginalie: Um 1900 fuhren rund 3.000 chinesische Seeleute auf deutschen Handelsschiffen (bei insgesamt 50.000 Beschäftigten).
In Hamburg gab es um die Jahrhundertwende bereits chinesische Verbindingsleute wie den Dolmetscher Kock Kwan Sow, welche die Kommunikation zwischen chinesischen Seeleuten auf der einen und Reedereien und Behörden auf der anderen Seite ermöglichen sollten. Chinesische Mannschaften fielen auf ihren Landgängen selbst im »internationalen« St. Pauli auf. Nach dem Krieg und dem Wiederaufbau der deutschen Handelsflotte setzte eine neue Phase der Beschäftigung chinesischer Seeleute ein, die in Hongkong und Shanghai von der Hapag und dem Norddeutschen Lloyd über Agenten angemustert wurden. Zwar war die Beschäftigung von Chinesen nach wie vor umstritten, doch es gab gegenüber der Vorkriegszeit einige Veränderungen. So ließ sich der Aufstieg der Kommunistischen Partei Chinas auch an der Hamburger Wasserkante erkennen. Ende der 1920er Jahre befand sich der chinesische Kommunist Liao Chengzhi im Auftrag der Komintern neben Rotterdam und Antwerpen immer wieder einmal auch in Hamburg, um hier chinesische Seeleute zu politisieren und beispielsweise kommunistische Flugschriften unter ihnen zu verteilen. Der Hamburger Filmemacher Guyla Trebitsch wollte Anfang der 1980er Jahre einen Film über Liaos Wirken in Hamburg produzieren, da er die Geschichte eines chinesischen Revolutionärs inmitten des »Abendlandes« wegen ihrer Symbolhaftigkeit reizvoll fand. Der historische Hamburger Hafen sollte in Shanghai nachgestellt werden – aufgrund der politischen Wetterlage kam der Film dann aber nicht zustande, obwohl auf chinesischer Seite bereits eine Co-Produktion in Aussicht gestellt worden war.
Das »Chinesenviertel« in St. Pauli
In den frühen 1920er Jahren ließen sich eine Reihe ehemaliger chinesischer Seeleute in St. Pauli nieder und eröffneten Lokale, Unterkünfte, Wäschereien und Geschäfte. Die chinesischen Betreiber lebten vom Hafenbetrieb und insbesondere von den in der Stadt weilenden chinesischen Seeleuten. In der Großen Freiheit, die auf Altonaer Boden direkt an der Hamburger Grenze lag, eröffneten mit dem »Neu-China« und dem »Ballhaus Cheong Shing« auch überregional bekannte Häuser, die als Treffpunkte chinesischer Seeleute und Migranten fungierten und ein Unterhaltungsprogramm samt Gastronomie anboten. In unmittelbarer Nähe befand sich die Schmuckstraße, die bald als »Chinesenviertel« Hamburgs galt, was angesichts der Dimensionen von wenigen hundert chinesischen Männern – chinesische Frauen lebten zu dieser Zeit in Hamburg so gut wie keine – etwas übertrieben war.
Für die Entstehung des »Chinesenviertels« waren die Deutschen in Shanghai in gewisser Weise mitverantwortlich: Im Mai 1921 unterzeichneten die deutsche und die chinesische Regierung einen Friedensvertrag – die Chinesische Republik hatte den Versailler Vertrag nicht akzeptiert – und versicherten sich die gegenseitige wirtschaftliche Betätigung ihrer Staatsangehörigen. Die deutsche Seite dachte vornehmlich an die deutschen Kaufleute in Shanghai, die vor dem Ersten Weltkrieg für den deutschen Chinahandel eine zentrale Position einnahmen. Das junge demokratische Deutschland war damit das erste westliche Land, das einen gleichberechtigten Staatsvertrag mit der Chinesischen Republik abschloss, was den Deutschen bei Verlust ihrer ehemaligen Kolonie in Kiautschou (Jiaozhou) viele Sympathien ein-brachte. An chinesische Migranten in Hamburg hatten die Berliner Außenpolitiker nicht gedacht.
Das Chinesenviertel in St. Pauli entwickelte sich schnell zu einer Sehenswürdigkeit und in Ansätzen bereits zu einer touristischen Attraktion. Einige Hamburger Schriftsteller und Journalisten wie Ludwig Jürgens, Hans Leip und Philipp Paneth »bereisten« die Schmuckstraße und Umgebung und verfassten Berichte über ihre dortigen Erlebnisse. Die Wahrnehmung chinesischer Migranten war insgesamt sehr ambivalent. Die Hamburger Polizei lehnte die Präsenz der »Fremden« grundsätzlich ab und viele deutsche Nachbarn füllten das kulturelle Nichtverstehen mit ihrer Fantasie. Aus chinesischen Kellerwohnungen wurden solcherart berüchtigte Opiumhöhlen und es kursierte sogar das bezeichnende Gerücht, die Chinesen hätten ein ausgedehntes, nur ihnen bekanntes Tunnelsystem geschaffen. Obgleich einige Chinesen auch in Hamburg Opium rauchten, waren diese aufgeregten Zuschreibungen deutlich verzerrt. Auf der anderen Seite gab es aber auch eine Faszination gegenüber der fremden Kultur: Bereits seit den 1920er Jahren existiierten Lokale, die sich gezielt an ein deutsches Klientel richteten. Kurt Tucholsky beschrieb etwa seinerzeit begeistert das lebendige und »multikulturelle« Treiben in einem chinesischen Restaurant in St. Pauli. Binnenländische Besucher fühlten sich angesichts der chinesischen Präsenz und fremden Atmosphäre in der Großen Freiheit teilweise sogar in eine chinesische Hafenstadt versetzt und entdeckten somit ein Stück Ausland inmitten Hamburgs.
Das »Chinesenviertel« bestand auch während der NS-Zeit, wenngleich chinesische Migranten und die nicht wenigen deutschchinesischen Partnerschaften aus »rassenpolitischen« Gründen in den Blick der Behörden rückten. Während des Zweiten Weltkrieges und insbesondere nach der Kriegserklärung der Chiang Kaisheks an Deutschland im Dezember 1941 spitzte sich die Lage der Chinesen in Hamburg zu. Es fanden zahlreiche Razzien der Polizei statt. Eine Gruppe von 165 chinesischen Seeleuten, die auf britischen Handelsschiffen fuhren, wurde von der deutschen Kriegsmarine gefangen genommen und nach Bremen und Hamburg gebracht; sie mussten hier Zwangarbeit leisten. Anfang 1944 wandte sich einer von ihnen in Hamburg an das Deutsche Rote Kreuz und bat um seine Repatriierung nach China. Er habe Familie in Shanghai und sei »krank vor Heimweh«, wie die Mitarbeiter gegenüber dem Auswärtigen Amt in Berlin betonten. Nur wenig später wurden dann auch Chinesen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung: Am 13. Mai 1944 nahm die Gestapo in der »Chinesenaktion« die letzten 130 in der Stadt verbliebenen chinesischen Staatsangehörigen fest und beschuldigte sie der »Feindbegünstigung«. Die verantwortlichen Gestapobeamten misshandelten die Gefangenen monatelang im Gestapogefängnis Fuhlsbüttel und später im »Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg«, woran nachweislich 17 Personen starben. Die Geschichte des Hamburger »Chinesenviertels« wurde auf diese Weise brutal beendet.
Die Erfolgsgeschichte der China-Restaurants in Hamburg
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben nur 30 chinesische Männer in Hamburg, von denen einige wieder Lokale eröffneten und auf wirtschaftlich bessere Zeiten hofften. Trotz der Bemühungen um Haftentschädigung lehnten das Wiedergutmachungsamt und die angerufenen Gerichte eine solche ab, da in ihren Augen keine »rassische« Verfolgung vorgelegen habe. Im Laufe der 1950er Jahre änderte sich die chinesische Migration in Hamburg grundlegend: Vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders wollten immer mehr Westdeutsche die Sonnenseite des Lebens genießen, nach Italien in den Urlaub fahren oder zumindest sich zu Hause an fremden kulinarischen Genüssen erfreuen. Neben einigen bereits existierenden chinesischen Lokalen in St. Pauli entstanden im Laufe der 1950er Jahre neue, professionellere Restaurants wie das Tunhuang in der Innenstadt. Die beiden Filialen hatten einen Vorbildcharakter, da sie erstmals eine gehobene chinesische Küche in Hamburg anboten und auch in der Inneneinrichtung neue Maßstäbe setzten. Chinesische Lokale wurden nun passenderweise China-Restaurants genannt – sie waren beabsichtigte Repräsentationen Chinas und seiner Kultur.
In den 1960er Jahren setzte ein regelrechter Boom der chinesischen Gastronomie in Hamburg ein, der es vielen chinesischen Migranten und Migrantinnen (unter ihnen zahlreiche Flüchtlinge aus Hongkong) ermöglichte, eine Beschäftigung in einem Lokal zu finden oder ein eigenes zu eröffnen. In Hamburg waren China-Restaurants und ihre Betreiber nun im Gegensatz zur Vorkriegszeit sehr willkommen, da sie als Bestandteil einer modernen Urbanität und als kultureller Standtortvorteil angesehen wurden. Die Hamburger Politik unterstützte zu dieser Zeit sogar chinesische Gastronomen, die u. a. wegen der restriktiven Ausländerpolitik Probleme hatten, geeignete chinesische Köche und Kellner zu finden. Hamburg entwickelte sich nicht zufällig zum Zentrum der chinesischen Gastronomie in der Bundesrepublik: Chinesische Lokale waren hier Zeichen von Internationalität, die aufgrund der Bilder und Traditionen der Hafenstadt nicht überraschten. In westdeutschen Großstädten hatten China-Restaurants eine Vorreiterfunktion für ethnische Küchen, denn italienische und spanische Lokale entstanden beispielsweise in bedeutender Zahl erst mit einiger Verzögerung aufgrund des Zuzugs von »Gastarbeitern« seit den 1960er Jahren. China-Restaurants bedienten – bei Angleichung an den westlichen Geschmack – den gesellschaftlichen Wunsch nach einem fremden Gaumenkitzel und ermöglichten einen kulinarischen »Kurzurlaub« in der eigenen Stadt.
Die Gastronomie entwickelte sich für die chinesische Migration, die nun noch heterogener als vor dem Krieg war, zur wirtschaftlichen und ethnischen Nische und bewirkte einen Anstieg der Zahlen chinesischer Staatsangehöriger (1965 = 460). Die Schifffahrt spielte aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle, da chinesische Seeleute weiterhin auf deutschen Schiffen fuhren, nun jedoch meist als Steward, Koch oder Wäscher. 1962 entstand das Chinesische Seemannsheim in Eppendorf, das chinesischen Seeleuten während ihres Aufenthaltes eine Unterkunft und Verpflegung anbot. Der Kalte Krieg blieb auch für Chinesen in Hamburg nicht ohne Folgen, da mancher als Spion verdächtigt wurde und Seeleute aus der Volksrepublik bei ihren Aufenthalten im Hafen stark eingeschränkt wurden.
Für die chinesische Migration der Nachkriegszeit entwickelte sich der Chinesische Verein in Hamburg zur wichtigen Institution. Dieser war bereits 1929 gegründet worden, entfaltete bis zum Zweiten Weltkrieg aber nur sehr begrenzte Aktivitäten. Der Leiter des Seemannsheims, Chen Shunqing, hauchte dem Verein neues Leben ein und kümmerte sich beispielsweise um das Gräberfeld auf dem Ohlsdorfer Friedhof für in Hamburg verstorbene chinesische Staatsangehörige, das einen hohen symbolischen Wert für chinesische Migranten hatte. Wegen fehlender diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik zu Taiwan und der Volksrepublik übte der Verein eine Art diplomatischer Ersatzfunktion aus und unterstützte chinesische Staatsangehörige im Alltag, etwa bei Behördengängen. Der Verein war pro-taiwanesisch und erhielt von der dortigen Regierung auch finanzielle Unterstützung; er lockerte im Laufe der Zeit aber die politische Konfrontationsstellung und kümmerte sich später auch um Chinesen aus der Volksrepublik. Seit den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ließen sich zunehmend chinesische Firmen insbesondere aus der Volksrepublik in Hamburg nieder – 1985 öffnete mit der China United Trading Corporation das Handelszentrum für Westeuropa in Hamburg.
Zusammengefasst hatte Hamburg wegen des Hafenbetriebs besonders zahlreiche persönliche Verbindungen mit chinesischen Seeleuten und Migranten. Die Geschichte dieser deutsch-chinesischen Kontakte war ambivalent und reichte von Faszination gegenüber einer unbekannten Kultur bis zu staatlichem Rassismus während der NS-Zeit. Die vielen China-Restaurants der Nachkriegszeit profitierten wiederum vom Bild des »Fremden« und dem Ruf chinesischer Kochkünste und ermöglichten einer steigenden Zahl von Chinesen ein wirtschaftliches Auskommen in Hamburg.