Von Gerd Brenner, Mönchengladbach
Mit einer über 200-seitigen Klageschrift haben Dutzende von US-Bundesstaaten im Oktober vergangenen Jahres den Tech-Konzern Meta verklagt. Sie beschuldigen Meta, durch den Suchtcharakter seiner Social-Media-Plattformen zu psychischen Gesundheitsproblemen von Kindern und Jugendlichen entscheidend beizutragen. Der hoch profitable Tech-Konzern ignoriere die negativen Folgen von Facebook und Instagram, um durch immer mehr kommerziell verwertbaren Traffic den Gewinn nach oben zu treiben, heißt es in der in Kalifornien eingereichten Klageschrift.
Das »Wall Street Journal« meldete, dass vor der Klage Gespräche über einen Vergleich gescheitert seien. Facebook und Co. wollen also offensichtlich ihre höchst lukrativen, aber sozialschädlichen Wirtschaftsmodelle nicht aufgeben und sollen deshalb nun gerichtlich an einer weiteren ungehemmten Expansion gefährlicher Geschäftsmodelle gehindert werden.
Die Algorithmen der Tech-Konzerne sind eine Gefahr für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und die Demokratie
Die klagenden US-Bundesstaaten nehmen Meta nicht mehr ab, dass die Kinder und Jugendlichen nicht manipuliert würden. Das genaue Gegenteil sei der Fall, und das aus kommerziellen Interessen, argumentieren die Kläger. Das Geschäftsmodell der Plattformen sei gezielt darauf aus-gerichtet, Kinder und Jugendliche für möglichst lange Zeiträume auf die Plattform zu locken und sie dann dort zu binden. Meta sei dabei durchaus bewusst gewesen, dass junge Nutzerinnen und Nutzer leichter in dieser Weise zu beeinflussen seien als Erwachsene. Die Bundesstaaten prangern z. B. die »Like«-Funktionen und die Flut an Benachrichtigungen an, die Kinder und Jugendliche immer wieder zur Handynutzung veranlassten. Diese zeitintensive Nutzung der Plattformen störe z. B. massiv das Lernverhalten sowie das Schlafverhalten von Teenagern. Dadurch förderten die Social-Media-Plattformen auch weitere Probleme wie z. B. Essstörungen, heißt es in der Klageschrift weiter. Meta wisse, dass Funktionen der Online-Plattformen schädlich seien und süchtig machten, argumentieren die klagenden Bundesstaaten. Sie attestieren dem Tech-Konzern also Vorsatz. Die in der Klageschrift erhobenen Vorwürfe lehnen sich an Enthüllungen der Whistleblowerin Frances Haugen aus dem Jahr 2021 an.
Die äußerst schädlichen Folgen der Mediensucht betreffen längst nicht mehr nur Jugendliche, sondern zunehmend auch bereits Kinder. Daher heißt es in der Klageschrift der US-Bundesstaaten, Meta lasse zu, dass Nutzer ohne ausdrückliche Erlaubnis der Eltern bereits im Alter unter 13 Jahren auf die Dienste zugriffen. Diese Zustände sind auch in Deutschland inzwischen weit verbreitet. In den USA ist eine solche Praxis per Gesetz untersagt. Das entsprechende Gesetz hat sich bislang allerdings als ein zahnloser Tiger erwiesen; Versuche, eine tatsächliche Altersverifikation, die technisch durchaus möglich wäre, in der Praxis durchzusetzen, scheiterten stets vor dem Obersten Gericht der USA. In der Regel fragen Online-Dienste bei der Anmeldung einfach ab, ob ein Nutzer oder eine Nutzerin das Alter von 13 Jahren erreicht habe – und lädt damit Kinder zu einer Lüge ein, um den Zugang zu der Plattform zu erhalten. Das schwache Argument des Meta-Konzerns, dass andere Online-Dienste wie Tiktok, Youtube und Snapchat bei Kindern und Jugendlichen zum Teil mindestens genauso populär seien, hat die US-Staaten nicht davon abhalten können, eine Klage gegen den Tech-Konzern einzureichen. Das Wort haben jetzt erst einmal die Richterinnen und Richter in Kalifornien, wo der Meta-Konzern angesiedelt ist.
Kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerade auch aus den USA, aber auch aus Europa (z. B. Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt/M./ New York 2018; Gisela Schmalz: Mein fremder Wille, Frankfurt a.M./New York 2020) weisen seit Jahren außer auf die Gesundheitsprobleme, die sich aus der bewusst befeuerten Mediensucht von Kindern und Jugendlichen ergeben, auch auf die erheblichen Folgen für die Demokratie hin. Sie begreifen die Social-Media-Plattformen als zentrale Bedrohung demokratisch verfasster Staaten von innen. Um den Kern des Problems für Demokratien deutlich zu machen, führt Gisela Schmalz, Professorin für Strategisches Management und Wirtschaftsethik, eine frappierend aktuelle Äußerung des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau an: »Keine Unterwerfung ist so vollkommen wie die, die den Anschein der Freiheit wahrt. Damit lässt sich selbst der Wille gefangennehmen.«
Reaktionen in Europa
Mitte Oktober kündigte auch die EU-Kommission ein Verfahren gegen den Facebook-Mutter-konzern Meta und den Kurzvideodienst TikTok an. Sie wirft beiden Konzernen die Verbreitung von Falschinformationen zum Krieg im Nahen Osten vor. Die Konzernzentralen erhielten eine sogenannte Informationsanfrage. Auf der Grundlage des Gesetzes für digitale Dienste (Digital Services Act/DSA) sollen die Konzerne noch in diesem Jahr nachweisen, wie sie gegen die Verbreitung von Hassreden sowie gewalttätige und terroristische Inhalte vorgehen; diese können auf den Plattformen auch von Kindern und Jugendlichen eingesehen werden. Solche Videos mit sehr brutalen Inhalten sind nach dem Beginn des Nahost-Krieges massenweise auf den Plattformen zugänglich gemacht worden – in der Realität auch für Kinder und Jugendliche. Aufgrund der sehr verstörenden Inhalte ist bei jungen Menschen mit einer Zunahme psychischer Belastungen zu rechnen.
Bereits eine Woche vor der Einleitung des Verfahrens hatte EU-Digitalkommissar Thierry Breton Meta, TikTok und auch den US-Kurznachrichtendienst X wegen der »Verbreitung von illegalen Inhalten« und »Falschinformationen« verwarnt.
Breton wies TikTok darauf hin, dass die Plattform eine besondere Verantwortung habe, Kinder und Jugendliche vor gewaltsamen Inhalten wie etwa der Darstellung brutaler Geiselnahmen zu schützen. Die EU hat bislang allerdings nur schwache gesetzlich abgesicherte Handlungsmöglichkeiten, um einen konsequenten Kinder- und Jugendschutz gegen die großen Internet-Plattformen wirklich effektiv durchzusetzen: Nach gemeldeten Verstößen gegen den Kinder- und Jugendschutz müssen die Internetplattformen die jeweiligen Beiträge nicht etwa schnell löschen, sondern sie nur prüfen und auf sie »reagieren«; eine Löschungspflicht besteht in der EU nicht. Damit hat die EU bisher keine wirksamen Durchsetzungsmöglichkeiten.
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* Zuerst erschienen in: deutsche jugend – Zeitschrift für die Jugendarbeit, 2-2024, S. 55ff. (Wir danken dem Verlag Beltz Juventa für die Gewährung des Wiederabdrucks.)