Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1+2-2024, Rubrik Titelthema

Jugendliche Identitätssuche und soziale Medien

Interview mit Anette Baumeister-Duru und Christian Foth

punktum: Gibt es besondere psychische Auffälligkeiten von Jugendlichen in Bezug auf soziale Medien?

Baumeister-Duru: Ich würde es anders formulieren. Ich habe junge Menschen in meiner Praxis, die in ihren psychischen Krisen sich in sozialen Medien und anderem verlieren. Ich denke dabei insbesondere an Jugendliche während und nach der Corona-Pandemie, die sich sehr zurückgezogen haben. Sie haben Sozialängste, gehen nicht mehr aus ihren Zimmern, zum Teil monatelang. Mal ausgenommen jene Zeiten, an denen sie zur Schule, zur Ausbildung oder in die Uni gehen müssen, wobei sie diese Aktivitäten auf das zwingend Notwendige reduzieren. Sie suchen einen radikalen Rückzug, schließen sich ein und nutzen dann intensiv soziale Medien oder Computerspiele. Was ist dabei nun Ursache, was ist Folge? Man kann zunächst sagen, sie holen sich einen Ersatz von Welt über Social Media rein und nehmen darüber an etwas scheinbar Sozialem teil – gefiltert und kontrolliert von den eigenen Bedürfnissen. Man kann daher sagen, das ist ihre Überlebensstrategie in dieser Zeit, wenn ihre sozialen Ängste so groß geworden sind. Ich denke daher nicht, dass Social Media Konsum sie zum Rückzug führt, sondern es ist andersherum. Das Übermäßige resultiert aus einer psychischen Krise.

punktum: Nur so? Eine Kollegin berichtete aus ihrem Jugendverband etwas sehr Eindrückliches. Sie war nach der Corona-Pandemie mit einer Jugendgruppe auf Sommerfreizeit am Meer, und es fiel ihr auf, dass viele junge Männer in T-Shirts badeten. Sie war ganz baff und fragte sich, warum baden die in T-Shirts? Nach Gesprächen kam heraus: Diese Jugendlichen hatten Scham, ihren nicht perfekten Körper zu zeigen und haben deshalb das T-Shirt beim Baden angelassen. Offenkundig hatten sie während der Corona-Zeit viele Bilder perfekter Körper aufgeschnappt, verglichen sich mit diesen und betrachteten den eigenen Körper als defizitär. In diesem Fall scheint es umgekehrt gelaufen zu sein?

Baumeister-Duru: Solche Beobachtungen kann ich bestätigen. Auch Kollegen berichten, dass die Zahl junger Menschen mit sozialen Ängsten, sozialem Rückzug, Essstörungen und Depressionen zugenommen hat. Beispiel Essstörungen: Deren Überhandnahme ist vom übermäßigen Konsum eines verzerrten Körperbildes über Social Media kaum zu trennen. Der dort praktizierte Optimierungswahn kann zu einer verzerrten Wahrnehmung führen. Junge Menschen, und nicht nur diese, reflektieren ihr Selbst und ihren Körper in realsozialen und in pseudosozialen Umgebungen.

Foth: Dass junge Menschen sich an Bildern abarbeiten, ist erstmal verständlich in der Adoleszenzphase. Es geht um eine neue Stufe der Identitätsbildung. Eltern oder familiäre Bezüge treten als primärer Background, in denen Heranwachsende über ihr Selbst reflexiv nachdenken, in dem Maße zurück, wie die Gruppe der Gleichaltrigen an Bedeutung gewinnt. »Das Ich entsteht im Du«, formulierte treffend Martin Buber. Und da bieten soziale Medien enorme Möglichkeiten an, neue Anstöße und Antworten bereitzustellen. Wir werden auf die Gefahren, die darin liegen, noch zu sprechen kommen, aber zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass der Reiz sozialer Medien für Jugendliche darin liegt, ihre Identitätsexploration weiter voranzutreiben. Und zwar weiter als die unmittelbare soziale Umgebung des Jugendlichen es vielleicht zulassen würde.

punktum: Identitätsexploration meint konkret?

Foth: Identität ist ein problematischer Begriff. Identität versucht etwas als fest, stabil und unveränderbar über die Zeit zu beschreiben, aber der Mensch befindet sich in einem dauernden Entwicklungsprozeß. Wer bin ich, wer möchte ich sein, wo gehöre ich dazu, und wo möchte ich dazu gehören? Andererseits empfinde ich mich über die Zeit hinweg als der- oder dieselbe. Es ein Paradox: die Sicherheit der Identität immer wieder aufgeben zu müssen, um sich zu verändern und gleichzeitig die Einheit des Selbst zu erhalten. In der Jugend ist die Offenheit, sich auf diese Prozesse einzulassen, sich in Frage zu stellen, vielleicht manchmal radikaler und grundsätzlicher als zu anderen Zeiten. In der Interaktion mit Gleichaltrigen, mit wichtigen Bezugspersonen, in der Anerkennung meiner Lebensvorstellungen durch mein Gegenüber, in der Auseinandersetzung mit sich selbst finden diese Entwicklungen – also die Identitätsexploration – statt. Soziale Medien eröffnen hierfür sicherlich einen viel größeren Raum als das gewohnte Umfeld, da hier spielerisch, auch anonym, andere Rollen, Lebensentwürfe wie beispielsweise auch die Geschlechtsidentität, ausprobiert werden können.

punktum: Social Media bedeute für junge Menschen so etwas wie der Schulhof oder der Freundeskreis – nur eben in größerer Dimension? Aber gibt es da nicht einen qualitativen Unterschied? Hinsichtlich des Erfahrungsgehaltes im sozialen oder digitalen Raum? Nur mehr Freiheiten?

Foth: Wenn man das erst einmal aus der Perspektive junger Menschen betrachtet, besteht der Reiz sozialer Medien oder des digitalem Raums darin, dass diese Medien einen Übungsraum darstellen.
Es ist ein Spielraum zwischen der inneren und der äußeren Realität, zwischen virtuellem, phantasierten Raum und realem Raum. Jugendliche betreten diesen dritten Raum auch, um sich auszuprobieren und sich selbst zu finden.
Daher finde ich falsch, wenn Ältere als erstes den warnenden Finger heben und so vorlaut wie paternalistisch vor den Gefahren sozialer Medien warnen. Deren Teil sie übrigens selbst sind.

Baumeister-Duru: Es gibt so viele Aspekte, die mit zu bedenken sind. Man muss auch mit bedenken – und da kommt jetzt wieder das Problematische zur Sprache –, dass soziale Plattformen durch ihre Funktionsweise die Nutzer zur Selbstdarstellung und zur Mitteilung nicht nur anregen sondern auch fesseln wollen. Für Zwecke, die jenseits der Interessen der Nutzer liegen. Entweder sammeln die Betreiberkonzerne Nutzerdaten für kommerzielle Zwecke ein oder wollen ihre Nutzer binden, um über Reklameeinblendungen Geld zu verdienen. In dem »Spielraum« für jugendliche Identitätsexploration spielen also ganz andere, und zwar wirtschaftliche Interessen mit rein. Was das bedeutet, sollten wir auch klären.
Zudem ein Aspekt, den ich ganz ganz wesentlich finde: Du sagst in Deiner Überlegung zum »Spielraum«, Jugendliche finden hier die Möglichkeit sich zu erproben. Richtig, aber in welcher Form? Im Digitalen bleibt es leibfern. Nur eine gespielte Repräsentation des Ichs wird erprobt. Und das hat sicherlich Konsequenzen, und zwar große für junge Menschen in der kritischen Phase der Adoleszenz. Sie können sich erproben, aber es bleibt im digitalen Raum. Es gibt größere Freiheiten, aber diese bringen virtuell immer ein anderes Erleben mit sich. Die Sinnlichkeit des Unmittelbaren – also zwischen mir und dir – spielt dabei keine Rolle.

punktum: Was hat das zur Folge? Feedbacks gibt es sowohl im digitalen als auch im realsozialen Raum. 

Baumeister-Duru: Das Internet als intermediärer Raum oder Spielraum hat dadurch größere Freiheiten, weil die Nutzer, wenn gewünscht, sich anonym bewegen können. Und sie treffen auf ebenso gespielte oder anonymisierte Nutzer. Es sind ja nicht Lotte oder Johannes, die man Morgen auf dem Schulhof oder im Freundeskreis wieder sieht. Man tritt den Freunden im Netz sozusagen nicht unter die Augen. Das könnte man als etwas Positives auffassen. Negativ ist aber, dass dadurch soziale Grenzen leichter überschritten werden können. Hass- oder Shitstorm-Reaktionen fallen viel leichter, wenn anonym soziale Grenzen nicht respektiert werden müssen.

punktum: Das bleibt nicht ohne Widerspruch?

Foth: Nicht direkt. Es geht mir um eine Ergänzung der Sichtweise. Bei jungen Menschen sind soziale Medien oder Computerspiele und die Kommunikation über diese Kanäle durchaus real in ihrem normalen Alltag eingebunden. Ein gutes Beispiel ist das Computerspiel »Fortnite«. Viele Millionen Nutzer weltweit, eine riesige Community und damit durchaus anonym. Aber was machen viele junge Nutzer? Sie verabreden sich in der Schule, am Arbeitsplatz mit Freundinnen und Freunden, um am Abend gemeinsam »Fortnite« zu spielen. Entweder ist jeder für sich allein zu Hause über den Computer mit seinen Freunden verbunden oder sie treffen sich gemeinsam an einem Ort, vernetzen ihre Rechner über das Wlan und spielen so das Spiel miteinander.
Was ich damit sagen will: Soziale Medien oder Computerspiele führen nicht per se zur sozialen Trennung. So wie junge Menschen diese in ihren Alltag integrieren, überwinden sie die strenge Trennung zwischen sozialem und digitalem Raum. Und umso mehr findet man das bei jugendlichen Frauen. Sie kommunizieren tagsüber permanent via Smartphone miteinander, auf allen Kanälen, um sich dann am Abend doch live zu treffen. Das Interessante bei der jugendlichen Nutzung medialer Kanäle ist also, dass sie Übergänge schaffen und dass die scheinbar getrennten Welten, anders als vermutet, nicht gegeneinander stehen, sondern von ihnen ineinander verwoben werden.

punktum: Das macht es wohl umso schwieriger zu beurteilen, wenn Eltern etwa Sorgen haben, ihr Kind sei spielesüchtig?

Baumeister-Duru: Allerdings. In meiner Praxis hatte sich eine Mutter in Sorge gemeldet: Mein Sohn ist internetsüchtig, er ist spielesüchtig, er kommt nicht mehr aus seinem Zimmer heraus. Das war zur Zeit der Corona-Pandemie. Ich habe diesen jungen Mann später in der Therapie kennengelernt. Jetzt ist er 18 Jahre alt, und er sagte, dass die Computerspiele ihm das Leben gerettet hätten. Das haben wir in der Therapie bearbeitet und vor allem die Situation beleuchtet, in der er sich in die Spielewelt geflüchtet hatte. Es stellte sich heraus, dass er durch eine Krebserkrankung der Mutter sowie durch mehrere Schicksalsschläge keinen Ansprechpartner mehr hatte, weil alle erstarrt waren in ihrer Angst und in ihrer Trauer. Er hatte sich in Folge wirklich verbarrikadiert in seinem Zimmer und »World of Warcraft« sowie Storytelling-Spiele exzessiv gespielt. Die ihm unaussprechbaren Emotionen wurden zu Themen in den Spielen, und er behielt die Kontrolle darüber. So hat er innerlich überlebt, ohne suizidal zu werden. In die Schule ging er wie ein Roboter, kam nach Hause und hat gespielt. Wichtig war in der Therapie, diese Situation und das Dahinterliegende zu verstehen. Er war also nicht durch Computerspiele spielesüchtig geworden, sondern seine Umstände in dieser Situation waren unaushaltbar. Er hatte eine schwere Depression, die es zu behandeln galt.

punktum: Ein anderes Problem für Jugendliche, insbesondere für junge Frauen, ist die Magersucht. Laut der AOK ist Anorexie die dritthäufigste Erkrankung in der weiblichen Adoleszenz. In der öffentlichen Debatte werden sozialen Medien eine dabei treibende Rolle zugeschrieben wird. Ist das so?

Foth: Auch bei der Anorexie kann man kein einfaches Bild zeichnen, dass pauschal Ursache und Wirkung beschreiben würde. Es gibt im Netz bedenkliche Foren wie etwa »pro ana« oder »anorexia till the end«. Daneben stehen Gruppen wie »with ana«, in denen sich junge Frauen darüber austauschen, wie sie trotz Anorexie ihr Leben bewältigen können.

punktum: Was macht das eine problematisch, das andere eher hilfreich?

Foth: In Foren wie »with ana« suchen junge Frauen, die sich der Problematik ihrer Erkrankung teilweise bewußt sind, nach Wegen, wie sie mit Anorexie leben können. Austausch über Ängste und Selbstreflexion stehen mehr im Mittelpunkt, als dass sie sich gegenseitig zu noch größerer Abmagerung anstacheln. Bei den anderen Foren überwiegt das »Sich zur Schau stellen«. Radikale Magerheit gilt hier als Schönheitsideal, Anorexie wird zur Identität: das bin ich! Feedbacks der Forenmitglieder führen zu einem Verstärkungseffekt. Sie bewegen sich in einer Echokammer, die das, was reingerufen wird, in den Feedbacks wechselseitig potentiert und andere, gegenläufige Impulse ausschließt.
Das gibt es auch in der realen Lebenswelt, ist also nicht »durch das Internet erst erfunden« worden. Schon Sigmund Freud hat vor über 100 Jahren Gruppenphänomene in seiner Arbeit »Massenpsychologie und Ich-Analyse« beschrieben, die später in der faschistischen Bewegung offen zutage traten. Daher sollten wir uns davon verabschieden, Internetphänomene als isolierte, quasi von der Gesellschaft und von den sozialen und psychischen Nöten der Individuen losgelöste Probleme zu betrachten.

punktum: Kann diese Freudsche Analyse wiederum auf das angesprochene Phönomen der Anorexie-Gruppen im Netz angewandet werden?

Foth: In gewisser Weise schon. Was hat Freud mit Blick auf das Individuum in der Masse sozialpsychologisch beschrieben? Es gibt in der Gruppe Resonanz für die eigenen Wünsche, Ängste, Befürchtungen. Aber es ist eine Resonanz, die im Sinne des Echos nur immer das Gleiche zurückgibt, und hierdurch kommt es zu einer Verstärkung dessen, was man eh schon denkt. Es fehlen kritische Stimmen, die andere Gedanken in die Gruppe bringen könnten. So fühlt man sich aufgehoben, gestärkt in der eigenen Sichtweise, man fühlt sich mächtig und im Recht und schaut auf die Welt draußen mit Verachtung und Verurteilung herab. Das, was die Gruppe denkt, wird von allen Mitgliedern der Gruppe für die Realität gehalten. Die Gruppe wird identitätsbildend. Das in der Magersuchtgruppe geteilte Ideal der Unterernährung ist das Ideal des Einzelnen als auch der Gruppe – und gegenseitig schaukelt sich das System immer weiter auf. Das ist doch genau das, was wir vorher mit den Echo-Kammern im Netz beschrieben haben. Foren oder andere Gruppenräume können (müssen aber nicht) massenpsychologisch so wirken, wie Freud es analysiert hat.
Den abgemagerten Körper als Ideal zu überhöhen, bildet die Eintrittskarte für junge Menschen in eine Anaroxiegruppe. Dieses Ideal für sich zu erreichen, hat auch mit Selbstverwirklichung zu tun. Eine Anaroxiegruppe gewährt Schutz und Sicherheit. In dieser Obhut empfindet der oder die Einzelne wieder die Macht über den eigenen Körper, die Suggestion, den eigenen Körper nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten. Das kann bei Mädchen soweit gehen, durch Hungern selbst der sexuellen Entwicklung des Körpers Einhalt gebieten zu wollen. Zudem betrachten diese jungen Frauen ihren ausgehungerten Körper manchmal auch als Protestzeichen gegen die Überflussgesellschaft.

punktum: Ein regressiver Protest?

Foth: Ja, denn es kann tragisch enden, wenn letztendlich Jugendliche sich gesundheitlich selbst schaden.

Baumeister-Duru: Es ist zwar richtig, dass es diese von Dir, Christian, beschriebenen Blasenbildung schon vor dem Internet gegeben hat. Ich beobachte aber, dass es durch einschlägige Foren oder soziale Medien noch einmal einen ganz anderen »Wumms« erfahren hat. Es gibt eine größere Heftigkeit – sowohl in der Wucht der Wirkung als auch in der Reichweite in die Gesellschaft hinein.

punktum: Woran liegt das? Die Betreiber von Instagram oder TiKTok beschreiben ihre Plattformen als einen »freien« Raum, da die User hier selbst den sogenannten Content liefern.

Baumeister-Duru: So frei ist dieser Raum nicht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Betreiber ihre User durch verschiedene Mechanismen einer Aufmerksamkeitsökonomie an ihre Plattformen binden wollen und so der Blasenbildung Vorschub leisten. Das kann für psychisch labile junge Menschen problematisch werden. In meiner therapeutischen Praxis frage ich inzwischen Jugendliche, die abends von suizidalen Stimmungen überschwemmt werden und dann beispielsweise an Bahngleise gehen: Was hast Du vorher gemacht? Immer wieder stellt sich heraus, dass sie in speziellen Foren unterwegs waren, die depressive oder suizidale Gedanken unterstützen. Dort erfahren sie durch Gleichaltrige eine gewisse Anerkennung, was ihre Stimmungslage verstärken kann.
Um sich das einmal anzuschauen, braucht man nur den Satz »Ich bin lebensmüde« in eine Internetsuchmaschine eingeben. Neben hilfreichen Angeboten findet man viele Foren mit beängstigenden Inhalten.

punktum: Solche problematischen Zusammenhänge, aber auch banalere, führen zu Diskussionen, ob beispielsweise die Smartphone-Nutzung für junge oder sehr junge Menschen beschränkt werden sollte. Zumindest für Zeitphasen wie beim Schulbesuch. Was halten Sie davon?

Baumeister-Duru: In der Grundschule auf jeden Fall. Das würde ich befürworten. Es gilt Schutzräume zu bewahren, in denen junge Menschen »analoge« Erfahrungen machen können. Wie wichtig ist es, dass Kinder auf dem Schulhof toben. Auch für weiterführende Schulen, zumindest für untere Jahrgänge, ist das überlegenswert. Das Smartphone kann zu einer Reizüberflutung für junge Nutzer führen. Ständig kommen über Kanäle wie WhatsApp oder TikTok neue Nachrichten oder Videos rein und bauen Druck auf, darauf einzugehen oder zu antworten. Wer da nicht antwortet, ist in seiner Gruppe schnell raus.

punktum: Von Pfadfindergruppen in Hamburg höre ich, dass sie in Gruppenstunden bewusst die Smartphone-Nutzung ausschließen. Und bei Fahrten, also Wanderungen, hat allenfalls die Gruppenleitung ein Smartphone für den Notfall mit dabei. Sind das positive Beispiele?

Baumeister-Duru: Solche Erfahrungsräume halte ich für wichtig in der Adoleszenzphase. Es zeigt, dass es durchaus funktionieren kann, eine digitale Auszeit zu nehmen und andere, unmittelbare Erfahrungen zu machen. Und wenn junge Menschen selbst so einen Schutzraum schaffen, umso besser. Auch an Schulen gibt es bei Klassenreisen vermehrt Versuche, auf diesen die Smartphone-Mitnahme auszuschließen. Das gibt am Anfang immer einen großen Wirbel. Jugendliche protestieren, und die Eltern sorgen sich, was soll mein Kind machen, wenn es Heimweh hat. Wenn es dann doch gelingt, finden es am Ende die meisten gut.

Foth: Solche Beispiele sind gut. Dennoch sollten wir die Augen nicht davor verschließen, wie weit das Smartphone in die Lebenswelt selbst bei Kindern eingedrungen ist. Deshalb sehe ich es als ein Problem an, darauf mit generellen Verboten, sei es in der Schule oder im Elternhaus zu reagieren. Kinder sehen ihre Eltern, wie sie ständig mit dem Smartphone hantieren. Und als erlernende Nachahmer wollen Kinder sich auch diese Welt spielerisch erschließen. Ob man es nun bedenklich findet oder nicht: Je prekärer die Lebensverhältnisse sind, unter denen Kinder aufwachsen, umso mehr hat das Smartphone den Fernseher, den man früher anstellte, um quengelnde Kinder ruhig zu stellen, abgelöst. Folglich geht es auch darum, auf diese veränderte Realität zu reagieren.

punktum: Wie?

Baumeister-Duru: Ich plädiere gleichwohl für die Herstellung von Schutzräumen ohne Smartphone – insbesondere in der Grundschule. Auch um einen heute alltäglichen Streitfall in den Familien abzumildern (und auf später zu verschieben), bei dem es darum geht, dass Kinder andere sehen, die bereits ein Smartphone besitzen, und darum zuhause es ebenso einfordern. Diese Konkurrenzsituation überlagert Erziehungsfragen und überfordert Eltern. Deshalb halte ich allgemein verpflichtende Regelungen für besser. Zudem ist es dringend geboten, dass digitale Medien und der Umgang damit als Schulfach eingeführt werden.

Foth: Das kann ich nur unterstützen. Es geht darum, den bewussten und kritischen Umgang mit allen digitalen Medien und Geräten zu erlernen. Von mir aus: ab der ersten Klasse.

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 

Das Interview führte Jürgen Garbers, Landesjugendring Hamburg