In der Praxis werden Begriffe wie »sexuelle Gewalt«, »sexueller Kindesmissbrauch« und »sexualisierte Gewalt« oft gleichbedeutend verwendet. Im sozialpädagogischen Bereich hat sich der Begriff »sexualisierte Gewalt« etabliert, flankiert von Konzepten der Prävention und Intervention. Der Begriff zielt nicht nur auf strafrechtliche Verhaltensweisen wie sexueller Missbrauch oder sexuelle Übergriffe, sondern geht noch darüber hinaus, da er auch sexuelle Grenzverletzungen und Übergriffe, die noch kein strafbares Verhalten darstellen, miteinbezieht. Es gibt eine große Bandbreite sexualisierter Gewalt, die von verbaler über voyeuristischer bis hin zu körperlicher Gewalt reichen kann.
Zur Bestimmung sexualisierter Gewalt können folgende Punkte benannt werden:
• Es handelt sich um sexuelle Gewalt (gegen ihren Willen) …
• an Kindern, Jugendlichen oder Schutzbefohlenen …
• und zwar zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse des*r Täter*in.
• Es herrscht ein Gefälle an Alter, Macht, Autorität und gegebenenfalls Sprache,
• es handelt sich um einen Vertrauensmissbrauch,
• und Täter*innen versuchen, Betroffene zur Geheimhaltung zu verpflichten.
Im Kontext von Jugendverbandsarbeit geht es vor allem um die Frage, wie Grenzverletzungen aussehen können. Wie eingangs erwähnt, befinden sich junge Menschen in Jugendverbänden in einem Spannungsfeld zwischen dem Freiraum, den junge Menschen in Jugendverbänden erfahren, und der Verantwortung des Verbands für einen Grenzen achtenden Umgang miteinander. Im Setting der Jugendverbandsarbeit entstehen auch Machtgefälle, z.B. zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen oder zwischen Teamenden und Teilnehmenden.
Es gibt verschiedene Stufen der Gewalt. Eine sexuelle Grenzverletzung ist oftmals unbeabsichtigt und entsteht aus einer Situation heraus. In diesem Fall sind Täter*innen oft unwissend, unerfahren und testen sich aus. Sexuelle Grenzverletzungen können auch wechselseitig sein. Bei sexuellen Grenzverletzungen kann das Verhalten der Täter*innen durch Empathie korrigiert werden.
[Beispiel: Wenn der 18-jährige Jugendleiter bei einem Spiel versehentlich die Brust einer 14-jährigen Teilnehmenden berührt, handelt es sich um eine sexuelle Grenzverletzung.]
Beabsichtigt und unter Ausnutzung bestehender geistiger, zahlenmäßiger oder körperlicher Überlegenheit entstehen hingegen sexualisierte Übergriffe. Die Abwehr der betroffenen Person wird übergangen und die Schädigung des Opfers wird wissentlich in Kauf genommen.
[Beispiel: Ein neunjähriger Teilnehmer wird von einem 13-jährigen Teilnehmer ständig umarmt, obwohl er immer wieder äußert, dass er dies nicht will. Der 13-jährige Teilnehmer nutzt jedoch jede Möglichkeit aus, um dies zu tun.]
Unter Anwendung von Täter*innenstrategien und der Ausnutzung des Machtgefälles in Kombination mit psychischer, körperlicher Gewalt handelt es sich um sexualisierte Gewalt. Die Taten sind geplant und kommen mehrfach vor.
[Beispiel: Wenn eine Jugendleiterin zwei Teilnehmende zwingt, sich gegenseitig zu küssen, wenn keine andere Person in der Nähe ist, dann ist dies sexualisierte Gewalt.]
Täter*innen planen ihre Tat und suchen gezielt Jugendverbände aus, da sie dort Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben. Sie verfolgen dabei verschiedene Strategien und nutzen ihre jeweilige Position diesbezüglich aus. Zunächst versuchen sie Vertrauen zu Kindern und Jugendlichen aufzubauen, die emotional bedürftig sind. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen oder, die Vernachlässigung erfahren, sind besonders gefährdet.
Die Täter*innen versuchen Betroffene mit Hilfe verschiedener Mittel für sich zu gewinnen, so wird z.B. der Grooming-Prozess, der als Vorbereitungsprozess verstanden werden kann, als Strategie eingesetzt. Wie gestaltet sich der Grooming-Prozess? Durch kleine Grenzverletzungen wird getestet, wie weit der*die Täter*in bei einem potenziellen Opfer gehen kann. Durch dieses Ausloten wird auch getestet, in wie weit das Umfeld auf die Grenzverletzungen und Manipulation reagiert. Es gibt verschiedene Formen der Manipulation. So wird zum Beispiel nach Außen beklagt, wie distanzlos und anhänglich ein Opfer sei; es wird getestet, ob die Sonderbehandlungen des Opfers durch andere wahrgenommen werden, oder es wird versucht, die Übergriffe zu verharmlosen und falsche Normen zu vermitteln und so zu einer Desensibilisierung beigetragen. Im digitalen Raum wird Cybergrooming immer häufiger.
Täter*innen nutzen Sonderbehandlungen, mögliche Geschenke oder Versprechungen, um den Kontakt zu Betroffenen zu festigen. Dadurch, dass sie die Opfer zur Geheimhaltung drängen, wird die betroffene Person isoliert, da auch ihre Beziehung zu anderen geschwächt wird. Die betroffene Person fühlt sich mitschuldig, da Täter*innen um Erlaubnis fragen und somit die Verantwortung versuchen abzugeben. Durch die Steigerung der Übergriffe und die gleichzeitige Belohnung, werden Betroffene zunehmend verwirrt. Wichtig ist an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass der*die Täter*in immer Schuld am Übergriff hat und betroffene Personen niemals verantwortlich sind!
Ambivalenz des Opfers: Das Leiden der Betroffenen hat weitreichende Folgen für diese. Betroffene empfinden Scham, Selbstekel sowie große Schuldgefühle und haben Angst vor der Wiederholung der Übergriffe und der Enthüllung. Gleichzeitig hat die betroffene Person sehr widersprüchliche Gefühle und will sich beispielsweise wehren, aber bekommt besondere Zuwendung durch den*die Täter*in. Es entstehen darüber hinaus Gefühle der Wertlosigkeit, Zerrissenheit und Wut. Durch die enorme Anspannung und die Schutzreaktion des Körpers können Betroffene an Gedächtnislücken leiden. Hinzu können eine erhöhte Gereiztheit, Konzentrationsschwierigkeiten, Selbstverletzungen sowie Selbstmordgedanken kommen. Betroffene haben Angst oder Panik vor zu viel körperlicher Nähe, ziehen sich emotional zurück und isolieren sich zunehmend selbst.
Wie kann ich als ehrenamtlich tätige Person in einem Jugendverband sexualisierte Gewalt an Teilnehmenden erkennen? Es gibt verschiedene altersabhängige Verhaltensauffälligkeiten, Aussagen oder Symptome, die auf Übergriffe an Betroffenen hinweisen können, jedoch sind diese oftmals nicht eindeutig. Einnässen, Essstörungen, große Wut, auffälliges sexualisiertes Verhalten, Vernachlässigung des Aussehens, Rückzug, Selbstverletzungen, plötzliche Sprachstörungen, unerklärliche Bauchschmerzen oder Schlafstörungen können Anzeichen sein – müssen aber nicht! Wichtig ist, dass man sich an einen Grundsatz hält, wenn sich betroffene Kinder und Jugendliche öffnen: glauben – schützen – trösten.
Was ist Peer-to-Peer-Gewalt?
In Jugendverbänden treffen Jugendliche in Gruppenstunden, Freizeiten oder anderen Angeboten aufeinander. Auch zwischen diesen Teilnehmenden kann es aufgrund verschiedener Faktoren (z.B. Machtgefälle, Entwicklungsstand etc.) zu Übergriffen und sexualisierter Gewalt kommen – beabsichtigt oder versehentlich. Die Abgrenzung zwischen Tester*innen und Täter*innen ist nicht leicht, es gibt aber mögliche Anhaltspunkte für eine Unterscheidung. Tester*innen nehmen Signale wahr und reagieren auf diese, hören auf, wenn sie einen Fehler gemacht haben, fragen nach und entschuldigen sich gegebenenfalls. Täter*innen hingegen ignorieren Signale, zeigen keine Einsicht, manipulieren ihr Gegenüber und geben anderen die Schuld für ihr Verhalten.
Wird ein übergriffiges Verhalten sichtbar, gilt es Interventionsmöglichkeiten zu nutzen: betroffene Jugendliche müssen umgehend geschützt werden und ihnen wird mit Trost und Mitgefühl zu Seite gestanden. Das Fehlverhalten übergriffiger Jugendlicher muss direkt gestoppt und angesprochen werden, da ihr Verhalten nicht toleriert werden kann und sie lernen müssen, die Grenzen und Rechte anderer zu achten. Darüber hinaus sollte das Geschehene mit den Jugendlichen, den Mitarbeitenden und der Einrichtung besprochen werden. Hier muss ähnlich den Regeln des Interventionsplans besonnen gehandelt und interveniert werden.
Bei sexuellen Übergriffen unter Kindern sprechen wir nicht von Täter*innen und Opfern, sondern von übergriffigen und betroffenen Kindern. Diese Übergriffe sind durch Unfreiwilligkeit und Machtgefälle gekennzeichnet. Betroffene Kinder stellen oft erst im Nachhinein fest, dass eine Situation unfreiwillig gewesen ist, auch wenn sie zunächst den Anschein gemacht haben, freiwillig mitgemacht zu haben. Auch selbstbewussten Kindern fällt es in einer solchen Situation schwer sich zu wehren.
Für die Jugendverbandsarbeit ist es deshalb von großer Bedeutung, dass der Aspekt der sexualisierten Peergewalt auch in Präventionsmaßnahmen, der Ausbildung zu Jugendleiter*innen und Schutzkonzepten für alle Beteiligten einbezogen wird.
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Hinweise:
Häufigkeit sexuellen Missbrauchs zwischen Hell- und Dunkelfeld: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verzeichnet für das Jahr 2022 in Deutschland 15.520 durch die Polizei ausermittelte Fälle des sexuellen Kindesmissbrauchs (§§ 176 -176e StGB). Diese beziehen sich zu etwa 74 % auf betroffene Mädchen und zu 26 % auf betroffene Jungen. Hinzu kommen 1.583 Fälle von sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Jugendlichen sowie ca. 48.400 Fälle sogenannter Kinder- und Jugendpornografie.
Bei diesen Zahlen handelt es sich um das sogenannte polizeiliche Hellfeld. Das Dunkelfeld, die Zahl der nicht polizeilich bekannten Fälle, ist weitaus größer. Dunkelfeldforschungen aus den vergangenen Jahren haben ergeben, dass etwa jede*r siebte bis achte Erwachsene in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlitten hat.
Wer sind die Täter*innen? Häufig handelt es sich um Männer und männliche Jugendliche, es gibt aber auch weibliche Täterinnen (Frauen und weiblichen Jugendlichen wird die Tat selten zugetraut). Das Täterprofil ist nicht einheitlich und Täter*innen stammen aus allen sozialen Schichten.