Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2021, Rubrik Titelthema

Jugendliche in Zeiten der Pandemie

Herausforderungen für die Verbandsarbeit

Von Ronald Lutz, Erfurt

Zur Einstimmung. Die in der Pandemie bemühte Metapher des »Brennglases« beschreibt, dass wir nun besser »sehen«, was bisher eher verborgen blieb. Zudem weist sie darauf hin, dass sich durch die Folgen der Maßnahmen soziale Probleme verschärfen. Dies kann als »Radikalisierung der Ungleichheit« verstanden werden. Insbesondere muss die Situation von Kindern und Jugendlichen betrachtet werden, die von den Folgen der Lockdowns offensichtlich stärker betroffen und ohnehin bereits Benachteiligte in ihren Entwicklungschancen noch intensiver beeinträchtigt werden. Eine Betrachtung dieser »Radikalisierung« mit einem speziellen Fokus auf Kinder und Jugendliche stellt eine Herausforderung für Jugendarbeit und für die Verbandsarbeit dar, da sich die Ausgangslagen verändert haben. Daraus sind Konsequenzen zu ziehen. Da könnte eine an Paulo Freire angelehnte »verstehende und befreiende Soziale Arbeit« eine mögliche Antwort sein (Lutz 2020b).

Radikalisierung der Ungleichheit. Das Virus bedroht zwar alle, aber Menschen in prekären Lagen sind eher davon betroffen. Betroffen sind nicht nur jene besonders hart, deren Immunsystem durch Vorerkrankungen geschwächt ist; dies wird mitunter auch von benachteiligten Lebenslagen mit verursacht [1]. Es sind zudem soziale Risikogruppen wie Alleinerziehende, Wohnungslose, Drogenabhängige, erschöpfte Familien, Menschen mit Migrationshintergrund aber auch viele Kinder und Jugendliche zu identifizieren, die dem Virus stärker ausgesetzt sind, da für sie »social distancing« schwerer oder gar nicht möglich ist. Auch werden gerade diese von den sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie besonders beeinträchtigt [2].

Die prognostizierte Radikalisierung der Ungleichheit (Butterwegge 2021) bringt deutlicher Gewinner und Verlierer hervor. Alte soziale Fragen zeigen sich im neuen Licht, seitherige und oft diskutierte »Bruchstellen« werden sichtbarer. Trends sozialer Ungleichheit und sozialer Verwerfungen werden offensichtlich verstärkt sowie verfestigt [3]. Das Statistische Bundesamt belegte mit seinem Anfang März 2021 vorgelegten »Datenreport 2021« [4], dass soziale Ungleichheit in Deutschland größer wird und Armutsgefährdung sich ausweitet. Ohnehin benachteiligte Gruppen könnten noch weiter zurückfallen und stärker abgehängt sowie ausgegrenzt werden. Sowohl der Datenreport als auch der neue 6. Armuts- und Reichtumsbericht [5] zeigen in aller Klarheit :
• Die Schere zwischen arm und reich wird größer, die Mittelschichten schrumpfen, wer in Deutschland einmal unter die Armutsgrenze rutscht, der verweilt immer länger in Armut.
• Die Folgen der Pandemie, die vielfältigen Beschränkungen und die ökonomischen Folgen des Lockdowns, treffen Menschen in prekären Lebens- und Beschäftigungsverhältnissen besonders hart.

Offenkundig ist die Pandemie nicht der »große Gleichmacher«, wie manche es noch zu Beginn erhofften [6]. Sie wirkt wie ein »Brennglas«, da vieles deutlicher wird, zugleich ist sie ein »Vergrößerungsglas«, das Ungleichheit und soziale Probleme verschärft. Die sozialen Kosten einer ohnehin bereits ungleichen und ungerechten Gesellschaft (Butterwege 2019, 2021) werden in der Pandemie und den Folgen der Maßnahmen verschärft.

Viele Einrichtungen der Sozialen Arbeit konnten gar keine oder lediglich eingeschränkte Angebote machen, insbesondere auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Sie befinden sich teilweise noch immer im Notbetrieb. Viele Menschen, vor allem auch Jugendliche, sind seit einiger Zeit nahezu allein mit ihren Problemen. Zwar sucht die Sozialarbeit nach Wegen, diesen Menschen dennoch zu helfen. Dabei ist sie mitunter sehr erfinderisch. Zu beobachten sind dennoch Brüche in der Betreuung, über deren langfristige Folgen sich aktuell kaum etwas sagen lässt. Experten vermuten, dass vieles wieder neu aufgebaut werden muss. Dabei sind die Ausgangslagen, in denen Menschen wieder angesprochen werden müssen, bisher nicht wirklich bekannt [7].

Vor allem Kinder und Jugendliche, insbesondere aus benachteiligten Familien, sind stärker belastet, die ohnehin bestehende Bildungsbenachteiligung wird durch »Home Schooling« und anderes weiter verschärft. Diese Situation haben die »JuCo I« und »JuCo II« Studien analysiert (Lips et al 2021), eine Bertelsmann Studie lieferte klare Ergebnisse [8]. Die Kinderschutzbünde weisen mit Dringlichkeit darauf hin, dass Kinder und Jugendliche leiden und offenkundig von der Politik vergessen wurden [9].

Kinder und Jugendliche. Inzwischen werden von Ärzten zunehmend psychische Probleme von Kindern und Jugendlichen berichtet, die an der Trennung von Freundinnen und Freunden leiden, die im »Home Schooling« Schwierigkeiten haben, denen online-Kontakte nicht genügen, wenn sie denn überhaupt einen Zugang haben, denen Sport, Bewegung und das gemeinsame »Abhängen« einfach fehlen [10]. Ärzte und Therapeuten beobachten seit dem zweiten Corona-Lockdown bei Kindern und Jugendlichen verstärkt Angst- und Schlafstörungen, Depressionen, Zwangs- und Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität. Auch hat die Gewalt gegen Kinder zugenommen. Dies kann zwar nicht direkt mit Corona begründet werden; es ist allerdings zu vermuten, dass in den Pandemiezeiten vieles nicht bekannt wurde, da dies unter dem »Radar« der Aufmerksamkeit (Kita, Schule, Vereine und Jugendhilfe) lief. Die Einschränkungen der Pandemie könnten Täter begünstigen und es Opfern erschweren sich Hilfe zu holen. [11] Unter dem Motto »Kinder brauchen mehr/Jugend braucht mehr« wird von der Politik gefordert, dem Leiden von jungen Menschen in der Corona-Krise mit einem umfänglichen Maßnahmenpaket zu begegnen [12]. Diese Forderung geht weit über das vor kurzem vorgelegte »Aufholprogramm« hinaus.

Kinder und Jugendliche werden offenkundig von der Politik nicht explizit in den Blick genommen. Die Kita- und Schulschließungen sowie das daran geknüpfte »Home Schooling« überließen den Familien neue und bisher kaum ausgeübte Aufgaben, die bereits für viele Mittelschichtfamilien und deren Kinder Belastungen erzeugten. Um wie viel schwerer muss sich dies in erschöpften und benachteiligten Familien abbilden. Dies geschah zudem bei einer schlechten digitalen Infrastruktur, bei nicht überall vorhandenen Zugängen zum Netz bzw. fehlender Endgeräte, um an online-Veranstaltungen teilzunehmen. Auch werden Kinder und Jugendliche kaum nach ihren Positionen und Meinungen zur Situation gefragt oder gar in Entscheidungen eingebunden.

Es ist die Frage berechtigt, ob Kinder und Jugendliche nicht die größten Leidtragenden und Opfer der Pandemie und ihrer Folgen sind. Die JuCo I und JuCo II Studien zeigen jedenfalls, dass Kinder und Jugendliche von Maßnahmen der Corona-Pandemie besonders betroffen sind, sich sorgen und sich auch nicht wahrgenommen fühlen [13]. Die differenzierten Ergebnisse werden in ein paar zentralen Aussagen verdichtet :
• Sie sorgen sich um die Zukunft.
• Sie äußern Einsamkeit und massive Freizeitprobleme.
• Sie sehen sich in ihrer Heterogenität nicht wahrgenommen.
• Ihre Wege mit der Krise umzugehen und ihre Sorgen werden nicht verstanden.
• Sie sollen sich anpassen an Regeln, die sie zum Teil nicht verstehen und nicht mitgestalten konnten.
• Sie sehen sich immer wieder in eine Art »Verteidigungshaltung« gedrängt, wenn sie einfach nur ein wenig mehr mit ihren Freunden unternehmen möchten.
• Sie fühlen sich vor allem aber bei Entscheidungen nicht ausreichend berücksichtigt und haben das Gefühl, sie werden als eigenständige Subjekte nicht wahrgenommen.

Wenn sich Jugendliche schon sorgen, sich nicht als Subjekte und Mitglieder der Gemeinschaft wahrgenommen und akzeptiert sehen, dann ist zu fragen : Wie geht es benachteiligten und erschöpften Jugendlichen, die zusätzlich das Gefühl haben, auf der Schattenseite der Gesellschaft zu stehen und dafür auch noch verurteilt zu werden, da ihnen vielleicht ein individuelles Fehlverhalten unterstellt wird. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die schon im Juli 2020 vorgelegt wurde, kommt zu dem Schluss, dass die Krise benachteiligte und arme Eltern, Kinder und Jugendlicher besonders trifft [14] :
• Die Familien erfahren nicht nur Einkommenseinbußen, sondern die Kinder und Jugendlichen sind von erkennbaren Beeinträchtigungen in ihren Bildungschancen betroffen.
• Beim »Home Schooling« sind diese besonders benachteiligt, da ärmere Familien seltener über die erforderliche technische Ausstattung verfügen. Es gibt vielfach Probleme mit dem Internetzugang, und in den eher beengten Wohnverhältnissen sind kaum Rückzugsmöglichkeiten vorhanden.
• Viele Kinder haben zudem nicht immer eigenes Zimmer, was aber für »Home Schooling« vorteilhaft wäre.
• Die erforderliche Beaufsichtigung durch die Eltern kann in benachteiligten und erschöpften Familien nicht immer gewährleistet werden, zumindest nicht so wie in vielen akademischen Familien.
• Viele Familien haben Probleme mit der Sprache und der Lesekompetenz, die aber von der Schule erwartet wird. Das Zitat eines Kindes kann dies illustrieren : »Meine Mutter geht mit mir immer zur Schule und holt die Arbeitsaufgaben, die dann unverständlich sind …«
• Die von Fachkräften immer wieder eingeforderte Kompensation durch Kitas und Schulen fehlt völlig, somit aber auch das wichtige Feedback durch Erzieher*innen und Lehrer*innen. Die wichtigen sozialen Kontakte zur Kompensation und zur Stärkung von Resilienz durch Resonanz entfallen.

Die sozialen Folgen der Pandemie verschärfen die bereits prekäre Situation armer Familien und insbesondere der Kinder und Jugendlichen. Ohnehin bestehende soziale Unterschiede im Bildungszugang und im Bildungserfolg werden größer und verfestigter. Die Lockdowns und die Kita- und Schulschließungen haben eine bis heute nicht konkret einschätzbare Auswirkung auf die Bildungssituation von Kindern. Die Folgen bei Kindern, insbesondere auch aus sozial benachteiligten Familien, sind nicht wirklich absehbar. Bildungsbenachteiligungen werden sich verschärfen. Das Wegbrechen außerhäuslicher Unterstützung verschärft die Lagen von ärmeren Kindern zusätzlich. Manche befürchten sogar eine Zunahme an funktionellen Analphabeten sowie eine Zunahme an Drop Outs und »verlorenen Jugendlichen«.

Dies hat seine Ursache auch in den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. In der Krisenbewältigung wird der Fokus auf die »Rettung der Ökonomie« und auf die Förderung von »systemrelevanten Bereichen« gelegt [15]. Damit zeigt sich erneut, dass diese Gesellschaft und ihre Politik schon länger den Schritt zur Normalisierung von Armut vollzogen hat (Lutz 2020d) und dies noch deutlicher wird [16]. Insofern ist diese kein Thema der Krisenbewältigung, sie gehört ganz einfach dazu. Ärmere stehen zumindest nicht im Fokus der politischen Maßnahmen, eine Reduktion von Armut und Ungleichheit, die sich in der Pandemie verschärfen, ist nicht vorgesehen, somit auch kein wirklicher Fokus auf ärmere Familien und deren Kinder. Dabei ist das beschlossene Programm, mit zwei Milliarden Euro die Corona-Folgen für Schulkinder abzumildern, nur ein »Tropfen auf den heißen Stein«, da pro Kind lediglich 150 Euro verfügbar sind [17]. Es ist kaum eine Kinder- und Jugendpolitik zu erkennen, die den Herausforderungen der Pandemie gerecht wird. Eigentlich spielen Kinderrechte und Kinderschutz keine besondere Rolle (Klundt 2021).

Konsequenzen. Die skizzierten Folgen der Pandemie zeigen Risiken, die alle treffen können, doch sind sie in ihren Auswirkungen unterschiedlich. Sie belasten sowohl Kinder und Jugendliche als auch Ärmere und Marginalisierten härter und unmittelbarer. Dieser Effekt wird mit der These der »Vulnerabilität« erörtert, die als »soziale Verwundbarkeit« für die Armutsforschung rezipiert wurde (Lutz 2014; 2015a; Butterwegge 2019; Lutz 2020a). Damit kommen Prozesse und Verhältnisse in den Blick, die auf Grund der ungleichen Verteilung von Gütern eine höhere Verwundbarkeit und Gefährdung für bestimmte Menschen in prekären Lebenslagen hinsichtlich sozialer Probleme, Ausgrenzung und Armut identifizieren.

Die sozialen Folgen der Pandemie zeigen, dass diese nicht nur ungleich verteilt sind, sie belegen auch, dass dies mit einer höheren Verwundbarkeit auf Grund der Ungleichverteilung von Ressourcen zusammenhängt. Verwundbarere Menschen haben nicht nur ein höheres Risiko sich mit dem Virus zu infizieren, sie erleben auch gehäuft schwerere Verläufe der Erkrankung. Dabei muss der Blick gezielt auf verwundbarere Jugendliche geworfen werden. Sie befinden sich schon länger auf Grund vielfach negativer Erfahrungen, auch mit der Kinder- und Jugendhilfe, in einer Situation der erlebten Marginalisierung und stehen sozialarbeiterischen Bemühungen der Integration mitunter skeptisch gegenüber, wie es die Debatte um »verlorene Jugendliche« offenbarte (Lutz 2015; Lutz 2020a). Diese Summe vielfältig erfahrener Ausgrenzungen, Verletzungen, Demütigungen und Enttäuschungen haben sich in der Pandemie noch verstärkt.

Die Konsequenzen aus den sozialen Folgen der Pandemie sind deshalb auch eine Aufforderung, dass sich Soziale Arbeit, und somit auch Jugendverbandsarbeit, sich mit der veränderten Situation dieser Jugendlichen und deren Erfahrungswelten in den Zeiten der Pandemie auseinandersetzen müssen, da sich deren Lebenslagen verändert haben. Es müssen vielfach modifizierte Zugänge zu den Lebenswelten geschaffen werden; manche Projekte sind in veränderter Form neu zu konzipieren. Gerade die Jugendverbandsarbeit ist hier aufgefordert die Kinder- und Jugendarbeit zu unterstützen, damit sie diese Wege gehen kann. Sie ist in dreifacher Hinsicht gefragt :
• Sie muss Unterstützung bieten, die Jugendarbeit neu aufzustellen, um der veränderten Situation gerecht zu werden.
• Es ist notwendig, die veränderten Situationen und Lebenswelten der Jugendlichen zu erfassen, um veränderte Perspektiven zufinden. Deshalb ist eine »forschende Praxis« zu fordern und zu fördern.
• Es muss politisch und laut agiert werden, um die aktuelle Ausblendung der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie mit anderen zusammen öffentlich zu machen und Maßnahmen einzufordern, da sonst die Folgen für Kinder und Jugendliche klein geredet werden und sich die Politik auch weiterhin auf die Sicherung der ökonomischen Basis fokussiert ist.

Diese Herausforderungen könne mit dem Wiederlesen von Paulo Freire eine möglichen Impuls für Perspektiven eröffnen.

Warum Freire? Ein Wiederlesen von Paulo Freire kann in der aktuellen Situation von großer Bedeutung sein (Lutz 2020b) :
• Freire verstand Erziehung im weitesten Sinne als politisch; mit einer neuerlichen Rezeption seines Denkens kann Soziale Arbeit somit einen politischen Schub erfahren.
• Er konzipierte eine »befreiende und dialogische Praxis«, die nicht nur eine forschende Praxis war, sie gab zudem Benachteiligten und Ausgegrenzten eine Stimme, um wieder Subjekt für sich zu werden und zu sein.

Dies kann Grundlagen einer verstehenden und befreienden Sozialen Arbeit skizzieren, die aktuell nötiger denn je ist. Damit kann Soziale Arbeit aber zugleich kritisch und politisch agieren, indem Utopien eines guten Lebens entworfen werden (Lutz 2020c).

Die an Freires Überlegungen angelehnte Theorie und Praxis geht von den Menschen und deren Erfahrungen in ihren eigenen Welten aus. Sie setzt prinzipiell und in allen Situationen Menschen als handelnde und zur Handlung befähigte Wesen voraus. Die etablierte »Kultur des Schweigens« in unseren Gesellschaften, die in der Pandemie eine essenzielle Bedeutung zu erlangen scheint, könnte durchbrochen werden, indem sich an die Ränder gedrängte Menschen durch die Praxis wieder in die zukünftige Gestaltung des Sozialen einbringen. Das bedarf sicherlich großer Anstrengungen seitens der Akteure, die sich von bisherigen Routinen verabschieden müssen. Hierfür kann die Rezeption der Theorie und Praxis von Freire aber wichtige Impulse geben, da sie eben von den Menschen ausgeht.

Von den Menschen in ihren Welten auszugehen, heißt diese in den Fokus zu rücken (Lutz 2011). Dem liegt ein Bild zugrunde : Menschen sind nie Opfer, sondern Gestalter ihres Lebens, sie haben keine Defizite, die immer Interpretationen aus einer kolonialistischen Sichtweise sind, sondern Ressourcen. Situationen und Bilder sind deshalb mit den Menschen aufzudecken, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Als Subjekte sind sie die Protagonisten und Experten ihres eigenen Lebens. Sonst niemand. Nur sie können Auskunft über ihre Realität geben. Nur sie können diese auch verändern. Dies fordert von der Praxis dialogische Prozesse und dialogische Methoden; sozialarbeiterische Praxis muss (in der Pandemie vor allem) wieder zuhören, Lebensweisen verstehen, das Fragen neu lernen, anerkennen und dialogisch und resonant sein.

Im Blickpunkt einer dialogischen Begegnung und Analyse steht die Frage, wie Menschen ihr Leben erleben, wie sie es interpretieren, welche Chancen sie für sich sehen, was sie erwarten, was sie dabei benötigen, um Subjekte zu werden und zu sein. Aus der Dialektik »Zuhören und Fragen« kann eine gemeinsame Praxis werden. Dazu muss der pädagogische Akteur aber aufhören, zu bewerten, zu wissen, was gut für die Menschen ist, sie zu diagnostizieren und in Schubladen zu stecken. Hierzu hat Paulo Freire in seinen Arbeiten sowohl theoretisch als auch praktisch einiges beizutragen, dies gilt es zu rekonstruieren und zu verdichten (Freire 1973; 1974; 1987; 1992; 2008).

Von den Menschen ausgehen. Von den Menschen auszugehen, bedeutet ihre Interpretationen, ihre Perspektive, ihre Sicht der Dinge und ihre Handlungsmuster als authentisch zu sehen. Es meint auch, dass Menschen keine Defizite haben, sie werden vielmehr an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten behindert (was in der Pandemie massiv geschieht). Zu diesen ausgeblendeten Fähigkeiten der Menschen gehören die prinzipielle Entwicklungsoffenheit menschlichen Denkens und Handelns sowie die Veränderbarkeit der Welt und des Menschen durch die Praxis der Menschen.

Wichtig wird dabei aber : In benachteiligenden und diskriminierenden Situationen übernehmen Benachteiligte und Diskriminierte oftmals eine fatale Selbstdefinition jener die gesellschaftlichen Beziehungen determinierenden Verhältnisse; sie handeln nach diesen Bildern und schreiben somit ihre Benachteiligung erst richtig fest. In den Erfahrungen der Pandemie hieße dies u. a. : Ihnen wird der Hang zur Leugnung unterstellt, sie widersetzen sich Maßnahmen (Coronapartys) bzw. sie werden nicht gehört oder gar ignoriert. Diese Situation muss, in Anlehnung an Freire, mit den Menschen aufgedeckt werden; sie muss bewusst werden, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Neben seiner Achtung gegenüber den Fähigkeiten der Menschen ruhte Freires Arbeit auf dem Wort und dem Dialog, der Menschen in Aushandlungen einbindet. Für ihn gab es kein wirkliches Wort, das nicht zugleich Praxis ist. Er war von der prinzipiellen Dialogfähigkeit des Menschen überzeugt, die zu einem gegenseitigen und resonanten Verstehen als Voraussetzung des gemeinsamen Handelns führt. Dialog war für ihn immer eine »Begegnung zwischen Menschen«, die gemeinsam die Welt benennen, deshalb »darf er keine Situation bilden, in der einige Menschen auf Kosten anderer die Welt benennen. […] Er darf nicht als handliches Instrument zur Beherrschung von Menschen durch andere dienen. Die Herrschaft, die der Dialog impliziert, ist die Beherrschung der Welt durch die im Dialog Befindlichen« (Freire 1973, 72).

Dialogischer Prozess und methodische Prinzipien. Im Zentrum einer verstehenden und dialogischen Praxis steht die Ermächtigung der Subjekte in ihrer sozialen Welt für eine zu verändernde Praxis. Das fordert dialogische und resonante Methoden : Sozialarbeiter müssen wieder zuhören und dabei vor allem und zunächst Lebensweisen verstehen, um daraus zusammen mit den Menschen eine gemeinsame Basis zu finden. Darin muss der pädagogische Begleiter ein offener Dialogpartner sein, sein einziges methodisches Instrumentarium ist Dialogfähigkeit : »In einer humanisierenden Pädagogik«, so Freire, »ist die Methode nicht länger ein Instrument, mit dessen Hilfe manipuliert wird. Ihr einzig wirksames Instrument ist der dauernde Dialog« (Freire 1973, 54). Darin nehmen Sozialarbeiter*innen die Rollen von Diskurspartnern, Maklern, Mittlern und Anwälten, Erleichterern, Einrichtern und Anstoßern ein.

Dieses methodische Arbeiten setzt Offenheit voraus : Die gemeinsame pädagogische Arbeit muss als ein Schüler-Lehrer-Lehrer-Schüler-Verhältnis gesehen werden, indem beide voneinander bzw. miteinander lernen und sich verstehen. Das bedarf eines resonanten Dialogs, in den alle Beteiligten eingebunden sind. Da Menschen die eigentlichen Experten ihres Lebens sind, kann es nur um sie und um niemanden anderen gehen. Ziel des Dialogs kann es deshalb nicht sein, dass Sozialarbeitende den Betroffenen die Welt erklären und sie für diese Interpretation gewinnen wollen. Es geht nicht um eine Bankiers-Methode, die als ein anderer Begriff für Wissenserwerb, der Einlagerung von Wissen in die »Klienten« (Schüler), verstanden werden kann [18]. Die Praxis muss vielmehr eine problemformulierende Methode sein, die Menschen befähigt ihre Lage zu verstehen, und sie dadurch ermächtigt, wieder Wesen für sich zu werden und Fragen zu stellen, Wissen zur Bewältigung und zur Gestaltung des eigenen Lebens zu aktivieren und zu erwerben.

Dieser an Lebenswelten orientierte Ansatz, der sich in der deutschen Sozialarbeit auch in Ansätzen der Lebensweltorientierung zeigt (Thiersch 2014), reflektiert die Situationen des Lebens in den Interpretationen der Menschen. Es sind vor allem folgende essenzielle methodische Prinzipien, die Freire für die Praxis skizziert hat, und die eigentlich nur im Kontext einer am Gemeinwesen orientierten Sozialen Arbeit möglich sind (Lutz 2010) :
• Im »thematischen Universum« Menschen wird nach »generativen Themen« gesucht, nach Erfahrungen, womit diese Tag für Tag zu tun haben, Erlebnisse, die sie bewegen, Probleme, die sie wissbegierig Fragen stellen lassen, die sie verstehen und begreifen wollen.
• Gefragt wird nach den Bedeutungen dieser Themen für das je eigene Leben, den je eigenen Alltag.
• In diesen Themen werden »Schlüsselsituationen« ausfindig gemacht, Begriffe und Bilder, in denen Bedeutungen der Situationen codiert sind.
• Die integrierten Bedeutungen und Hintergründe werden aufgedeckt und so einem Verständnis und einer gemeinsamen Verständigung zugeführt.
• Damit eröffnen sich neue Themen und Situationen.
• Es verdichten sich Strukturen dahinter, die in ihren Wirkungen reflektiert werden können.

Soziale Arbeit beginnt bei den Menschen, ihre eigentliche Absicht ist es, mit Menschen in einen Entwicklungsprozess zu treten, um diese für Gestaltungsprozesse ihres eigenen Daseins zu befähigen, mit ihnen Chancen zu öffnen. Darin werden soziale Probleme, die immer nur negative Zuschreibungen produzieren, zu positiven und auch politischen Herausforderungen, um sie in Gestaltungs- und Entwicklungsoptionen zu übersetzen, die es zu bewältigen gilt.

Wenn dies ernst genommen wird, dann kann das Ziel der Jugendarbeit in der Zeit der Pandemie und darüber hinaus das Folgende sein : Mitbestimmung und Gestaltung der sozialen Welt macht aus Menschen starke und fähige Menschen, die sich ihre Welt anzueignen vermögen. Sie werden resilient durch dialogische Resonanz. Sie können dadurch zu selbstbewussten und selbstverantwortlichen Akteuren werden, sie entwickeln Kompetenz und Handlungsfähigkeit und sind nicht mehr Objekte der Praxis, keine Klient*innen in den Beratungsprozessen; sie sind vielmehr Subjekte in ihren je eigenen Verhältnissen, die sie thematisieren und dabei neu gestalten.

Zur Ausstimmung. Soziale Arbeit kann und muss aus dieser Pandemie ihre Lehren ziehen, es steht die Chance und die Notwendigkeit einer Verwandlung an, um neue Auf- und Ausbrüche zu suchen und umzusetzen. Neue Pfade scheinen gerade für eine Jugend(verbands)arbeit möglich, die Freires Überlegungen neu aufgreifen und in Praxis verwandeln kann :
• Da ist zum einen die immer wieder eingeforderte und eindeutige Re-Politisierung zu erwähnen;
• Zum zweiten ist eine wieder stärkere Orientierung am Sozialen Raum und eine Re-Konzeptualisierung von Gemeinwesenarbeit erforderlich, zu der auch Straßensozialarbeit gehört;
• Drittens ist eine Einbeziehung der sogenannten Klient*innen anzustreben, also die Partizipation der »Betroffenen«, die als Subjekte und Protagonisten zu verstehen sind.

------------------------------------------------------------------

Fußnoten:

1 Siehe hierzu die vielen Beiträge in : Volkmer / Werner 2020

2 Es gehört zum Wissen der Gesundheitssoziologie, aber auch zu den Thesen der Armutsforschung, dass Krisen jene stärker treffen, die am schwächsten bzw. am vulnerabelsten sind.

3 Siehe die Beiträge in : Lutz / Steinhaußen / Kniffki 2021a sowie Lutz / Steinhaußen / Kniffki 2021b

4 Bundeszentrale für politische Bildung; Statistisches Bundesamt; Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (Hrsg.) (2021) : Berlin, Auch : https ://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2021.pdf;jsessionid=11ABB95B40EBC2E955B8F47B1B062E3F.internet722?__blob=publicationFile, Zugriff am 11.5.2021 

5 https ://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/entwurf-sechster-armuts-reichttumsbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=3; Zugriff am 18.5.2021

6 Siehe hierzu Beiträge : Volkmer / Werner 2020

7 Siehe Beiträge in : Lutz / Steinhaußen / Kniffki 2021a sowie Lutz / Steinhaußen / Kniffki 2021b

8 Siehe auch eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung : file :///C :/Users/lutzr/Downloads/jugendliche-fuehlen-sich-durch-corona-stark-belastet-und-zu-wenig-gehoert-2d2c79d4cd6cf69c5b4151f67fb53bef6a5a42a1.pdf 

9 Siehe u. a. : https ://www.dkhw.de/presse/schlagzeilen-archiv/schlagzeilen-details/bekaempfung-der-corona-pandemie-situation-von-kindern-und-familien-nicht-aus-dem-blick-verlieren/; Zugriff am 17.5.2021

10 https ://www.aerzteblatt.de/nachrichten/114603/Psychische-Gesundheit-von-Kindern-waehrend-Coronapandemie-verschlechtert; Zugriff am 11.3.2021
Auch : https ://www.br.de/nachrichten/bayern/kinder-und-corona-einsamkeit-und-essstoerungen-nehmen-zu,SJRbDDp; Zugriff am 11.3.2021
Auch : https ://www.berliner-zeitung.de/news/kassenaerzte-berlin-psychische-stoerungen-haben-wegen-corona-massiv-zugenommen-li.148020; Zugriff am 18.5.2021

11 Siehe u. a. : https ://www.zdf.de/nachrichten/panorama/polizei-kriminalstatistik-sexualisierte-gewalt-kinder-100.html; Zugriff am 27.5.2021

12 https ://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/folgen-der-corona-pandemie-auch-kinder-sind-systemrelevant-17265356.html; Zugriff am 18.5.2021

13 https ://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1078; https ://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1166 und https ://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1081, Zugriffe im März 2021

14 https ://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/juli/kinderarmut-eine-unbearbeitete-grossbaustelle; Zugriff am 16.9.2020

15 Der Begriff Systemrelevanz bleibt unscharf, da er keine Aussage darüber trifft, ob es darum geht das »ökonomische System« zu stabilisieren oder darum, Menschen in ihrem Alltag zu unterstützen. Auch ist es fraglich, ob er die Situation der ökonomischen Betonung mancher Bereiche tatsächlich abbildet. Somit stellt sich die Frage : welches System gemeint ist und was dabei Relevanz bedeutet. Dennoch soll er benutz werden, da er in öffentlichen Debatten stark konnotiert wird.. . Auch soll

16 Siehe hierzu : https ://www.n-tv.de/politik/politik_kipping_oder_kuhle/Die-Armen-zu-ignorieren-ist-ein-schwerer-Fehler-article22552368.html; Zugriff am 18.5.2021

17 https ://www.lto.de/recht/nachrichten/n/coronavirus-bundesregierung-kabinettsbeschluesse-aufholprogramm-nachhilfe-schueler-ganztagsbetreuung-grundschueler/, Zugriff am 18.5.2021

18 Eigentlich kann die Bankiers-Methode als eine Form der instrumentellen Vernunft interpretiert werden, die sich vielfach in Beratungskontexte der Sozialen Arbeit artikuliert.

------------------------------------------------------------------

Literatur

Butterwegge, Christoph (2019) : Die zerrissene Republik, Weinheim

Butterwegge, Christoph (2021) : Wachsende Ungleichheit im Corona-Zeitalter. Die sozioökonomischen Konsequnzen der Pandemie, in : Lutz / Steinhaußen (Kniffki 2021, S. 78-88

Freire, Paulo (1973) : Pädagogik der Unterdrückten, Fischer, Reinbek.

Freire, Paulo (1974) : Erziehung als Praxis der Freiheit. Stuttgart-Berlin

Freire, Paulo (1987) : Pedagogia, dialogo y conflict, Buenos Aires.

Freire, Paulo (1992) : Pedagogia de esperanca, Rio de Janeiro.

Freire, Paulo (2008) : Pädagogik der Autonomie : Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis, Münster; New York, NY; München; Berlin

Klundt, Michael (2021) : Kinder, Kinderrechte und Kinderschutz im Corona-Kapitalismus, in Lutz / Steinhaußen / Kniffki 2021, S. 89-104

Lips, Anna / Rusack, Tanja / Schröer, Wolfgang / Thomas, Severine (2021), in : Lutz / Steinhaußen / Kniffki 2021, S. 120-231

Lutz, Ronald (2010) : Politik beginnt bei den Leuten : Politische Gemeinwesenarbeit als Irritation und als Praxis der Integrierten Sozialraumplanung, in : Hammer, Veronika / Lutz, Ronald / Mardorf, Silke / Rund, Mario (Hg.) : Gemeinsam leben – gemeinsam gestalten. Zugänge und Perspektiven Integrierter Sozialraumplanung, Frankfurt am Main, S. 201-240

Lutz, Ronald (2011) : Das Mandat der Sozialen Arbeit. Wiesbaden.

Lutz, Ronald (2014) : Soziale Erschöpfung, Weinheim 2014

Lutz, Ronald (Lutz 2015) : Erschöpfte Jugendliche. Auf dem Weg in die nächste Generation armer Menschen; in : Fischer, Jörg / Lutz, Ronald (Hrsg.) : Jugend im Blick, Weinheim 2015, 181-198

Lutz, Ronald (Lutz 2020a) : Erschöpfte Familien und die Folgen für Kinder, in : Rahn, Peter / Chasse, Karl-August (Hg.) : Handbuch Kinderarmut, Opladen & Toronto, S. 208-216

Lutz, Ronald (Lutz 2020b) : Von den Menschen ausgehen. Skizzen einer befreienden und dialogischen Sozialen Arbeit, in widersprüche 2020 / 155, S.63-74

Lutz, Ronald (2020c) : Freire-Pädagogik [online]. socialnet Lexikon. Bonn : socialnet, 07.07.2020. Verfügbar unter : https ://www.socialnet.de/lexikon/Freire-Paedagogik

Lutz, Ronald (2020d) : Armut – Normalisierung und Moralisierung, in : neue praxis, 1/2020, S. 13-29

Lutz, Ronald / Steinhaußen, Jan / Kniffki, Johannes (Hrsg.) (2021a) : Corona, Gesellschaft und Soziale Arbeit. Neue Perspektiven und Pfade,

Lutz, Ronald / Steinhaußen, Jan / Kniffki, Johannes (Hrsg.) (2021b) : Covid-19 – Zumutungen an die Soziale Arbeit. Praxisfelder, Herausforderungen und Perspektiven Juventa; Weinheim

Thiersch, Hans (2014) : Lebensweltorientierte Soziale Arbeit : Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel, Weinheim

Volkmer, Michael / Werner, Katrin (Hg.) (2020) : Die Coronagesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, transcript : Bielefeld