Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3+4-2018, Rubrik Titelthema

Diskussionspapier zur Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt

Landesjugendring Hamburg | Dokumentation

Am 1. Januar 2012 trat das »Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen« (Bundeskinderschutzgesetz) in Kraft. 2014 wurden die Jugendhilfeträger in Hamburg von dem öffentlichen Träger der Jugendhilfe – der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) – aufgefordert, die Vereinbarung gem. § 72 a Sozialgesetzbuch (SGB) – Achtes Buch (VIII) – Kinder- und Jugendhilfe abzuschließen. Diese abgeschlossenen Vereinbarungen sollen »präventiv« wirken: Durch die Einsicht in das erweitere Führungszeugnis sollen bei qualifizierten Kontakten zu Kindern und Jugendlichen einschlägig [1] vorbestrafte Täter/innen (Sexualstrafrecht) erst identifiziert und dann aus den Strukturen der Jugendhilfeträger ausgeschlossen werden.

Bei aller berechtigten Kritik am beschriebenen Verfahren eint alle Jugendhilfeträger der Wille Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Nach knapp vier Jahren Praxiserfahrung muss jedoch folgendes Zwischenfazit gezogen werden: Um Täter/innen (Sexualstrafrecht) aus den Strukturen der Jugendhilfeträger ausschließen zu können, bedarf es Verurteilungen, die zu einschlägigen Einträgen im erweiterten Führungszeugnis führen.

Diese Verurteilungen (Sexualstrafrecht) und die daraus resultierenden Einträge stellen eher eine Ausnahme dar. Zum einen geschieht sexueller Missbrauch oder auch die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung meistens in Eins-zu-eins-Situationen [2] was oft zu einem Mangel an Beweisen und Zeugen führt, die eine Verurteilung wahrscheinlich machen. Zum anderen wollen Opferschutzorganisationen Betroffene vor einer erneuten Traumatisierung durch ein Gerichtsverfahren bewahren. Darüber hinaus erscheint die »sexuelle Selbstbestimmung« selber einer Verurteilung oftmals im Wege zu stehen. Denn in dem Augenblick, wo die beschriebene Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zutrifft, unterstellt die Rechtsprechung auch bei möglichen Opfern unter 18 Jahren (ab 14 Jahren ⇒ sexuelle Selbstbestimmung) oftmals das Einverständnis [3] des Sexualverkehrs mit der Begründung der eigenen sexuellen Selbstbestimmung.

Wie sollen jedoch Jugendhilfeträger, Täter/innen aus ihren Strukturen ausschließen, wenn nicht auf Grundlage einer einschlägigen Verurteilung und dem damit einhergehenden Eintrag im erweiterten Führungszeugnis?

Jugendhilfeträger stehen nicht über der Rechtsprechung und haben nicht die Aufgabe Rechtsprechung in Frage zu stellen oder »nachzuheilen«. Im Rahmen unserer mehrjährigen Praxiserfahrung mussten wir jedoch feststellen, dass oftmals Rechtsprechung zum Ergebnis kam, dass »das Verhalten des/der Beschuldigten moralisch verwerflich, jedoch strafrechtlich nicht relevant war«. Es scheint gar so, als ob zwischen Rechtsprechung (im Sexualstrafrecht) und gesellschaftlich moralischer Norm eine Lücke existiert. Ergänzend hat die Reformkommission zum Sexualstrafrecht am 19.07.2017 dem damaligen Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, Herrn Heiko Maas, einen 1.399 seitigen Abschlussbericht vorgelegt. Dieser Abschlussbericht enthielt viele sinnvolle Veränderungsvorschläge. Die alte [4] Bundesregierung hat diese Vorschläge nicht mehr umgesetzt. Die neue [5] Bundesregierung hat bezüglich der Reform des Sexualstrafrechts bislang noch keine Angaben gemacht. Aus diesen Gründen bedarf es bei der Umsetzung des Bundeskinderschutzgesetzes an mehreren Stellen der Nachbesserung:

I. Sexualstrafrecht, Eintragungen in das Bundeszentralregister, Arbeitsrecht (konkurrierende Gesetzgebung)
a) Der Gesetzgeber / die Rechtsprechung sollte bei großen Altersunterschieden [6] (Altersdifferenz neun Jahre) grundsätzlich unterstellen, dass Opfern im Alter von 14 bis 17 Jahren die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung in Bezug auf den Täter fehlt. [7]
b) Der Gesetzgeber / die Rechtsprechung sollte dynamische Schutzaltersgrenzen ab 14 – 17 Jahren etwa in Abhängigkeit vom Altersunterschied (s. a) vorsehen. [8]
c) Der Gesetzgeber möge den Gesetzestext zu § 177 (1) Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung konkretisieren und gemäß des Gesetzesvorschlags der Reformkommission zum Sexualstrafrecht anpassen. [9]
d) Der Gesetzgeber sollte die Fristen zur Löschung der Eintragungen aus dem Bundeszentralregister über Verurteilungen überarbeiten / anpassen. Geringstenfalls bei Löschungen nach 10 Jahren sollte ein »Vermerk« im erweiterten Führungszeugnis zurückbleiben. Ohne Eintrag oder wenigstens »Vermerk« können verurteilte Täter/innen nicht von den Jugendhilfeträgern ausgeschlossen werden. Persönliche Rehabilitationsansprüche im Kinder- und Jugendbereich sind nicht mit dem Kinder- und Jugendschutz vereinbar.
e) Auflösung der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen dem Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) und dem Arbeitsrecht. Es ist den Jugendhilfeträgern nicht ohne weiteres [10] möglich, Kündigungen auf Grundlage eines einschlägigen Eintrags im Führungszeugnis eines/einer Mitarbeiter/in auszusprechen.

II. BKiSchG – Vereinbarung gem. 72a SGB VIII – Tätigkeitsausschluss einschlägig vorbestrafter Personen
a) Erweiterung der Vereinbarung gem. § 72 a SGB VIII: Der Jugendhilfeträger ist dazu verpflichtet, bei einem begründeten Anfangsverdacht [11] die beschuldigte Person aus dem Einflussbereich von Kindern und Jugendlichen per Freistellung zu entfernen. Die Freistellung kann bei vollen Bezügen erfolgen. Die Freistellung soll sowohl den Kinder- und Jugendschutz als auch den Schutz des/der Beschuldigten gewährleisten.
b) Behördliche Unterstützung beim Bekanntwerden von Ermittlungen bzw. Verurteilungen bei Sexualstraftaten: Einrichtung einer behördlichen übergreifenden Informationsstelle für Ermittlungsverfahren und Verurteilungen bei Sexualstraftaten. Die Jugendhilfeträger können erst potenzielle Täter/innen freistellen, wenn sie Kenntnis von einem begründeten Anfangsverdacht seitens der Polizei oder seitens der Staatsanwaltschaft haben. Es bedarf einer Informationsstelle, an welche sich die Jugendhilfeträger richten können. Die Informationsstelle sollte selber aktiv werden, um Informationen an die Jugendhilfeträger weiterzugeben.

Austausch über eine mögliche Ausweitung der Straftatbestände in der Vereinbarung gem. § 72a SGB VIII (vgl. 1) auf Straftaten gegen Leben und Gesundheit [12]: Auch wenn das Bundeskinderschutzgesetz den Fokus auf sexualisierte Gewalt gelegt hat, sollten die aufgeführten Deliktsformen mit in den Straftatbestand, welcher zum Ausschluss aus der Kinder- und Jugendarbeit führt, aufgenommen werden. Mörder/innen, Totschläger/innen oder Personen die anderen Menschen schwere Körperverletzungen beibringen, sollten nicht in der Kinder- und Jugendarbeit eingesetzt werden.

III. Öffentlichkeitsarbeit
Ziel: Die Hamburger Öffentlichkeit soll für das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen sensibilisiert werden.
Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist ein Thema, dass uns alle etwas angeht, denn es passiert täglich in Deutschland / Hamburg. Kinder und Jugendliche sollten ohne Missbrauchserfahrungen in unserer Gesellschaft aufwachsen können. Der Landesjugendring Hamburg strebt dazu eine Öffentlichkeitskampagne in Absprache mit der BASFI an.

 

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Fußnoten

1  »einschlägig« meint in diesem Schriftstück immer die §§ 171, 174, 174a, 174b, 174c, 176, 177, 178, 179, 180, 180a, 181a, 182, 183, 183a, 184, 184a, 184b, 184c, 184d, 184e, 184f, 225, 232, 233, 233a, 234, 235, 236 Strafgesetzbuch (StGB).

2  »Die bei allen Sexualstraftaten in der typischen Aussage-gegen-Aussage-Konstellation schwierige Beweiswürdigung würde mit einem »Nur Ja heißt Ja«-Modell noch komplexer.« (vgl. S. 1053 Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht vom 19.07.2017)

3  »Der Begriff »Einverständnis« sei auch deswegen problematisch, weil das Einverständnis nach dem geltenden dogmatischen Verständnis grundsätzlich nicht erklärt werden müsse und nicht an Wirksamkeitsvoraussetzungen gekoppelt sei. Unklar sei etwa wie mit dem durch Täuschung erschlichenen Einverständnis umzugehen sei.« (vgl. S. 392-393 Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht vom 19.07.2017)

4  17. Dezember 2013 bis 24. Oktober 2017, geschäftsführend bis 14. März 2018

5  Seit 14. März 2018

6  »Spielerische Freiräume, die sich wesentlich über den sexuellen Umgang mit Gleichaltrigen realisieren, müssen vor gänzlich anders gearteten Interessen von Erwachsenen geschützt werden. Im Zusammenhang mit einer im Kern zu begrüßenden Erweiterung sexueller Aktivitäten von Jugendlichen, sollte angesichts höherer Gefährdungspotenziale der Schutz eher verbessert als verringert werden.« (vgl. S. 985-986 Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht vom 19.07.2017)

7  »Die Reformkommission hielt die Tatbestandsvoraussetzung für angemessen, dass dem Opfer die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung in Bezug auf den Täter fehlen müsse.« (vgl. S. 141 Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht vom 19.07.2017)

8  »Die Mitglieder der Reformkommission diskutierten, ob auf die Schutzaltersstufe von 16 Jahren zugunsten von 18 Jahren verzichtet werden könnte. Dabei wurde auch erwogen, dynamische Schutzaltersgrenzen etwa in Abhängigkeit vom Altersunterschied vorzusehen.« (vgl. S. 139 Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht vom 19.07.2017)

9  »Wer gegen den erklärten Willen einer anderen Person oder unter Umständen, in denen fehlende Zustimmung offensichtlich ist, oder wissend, dass dies dem Willen der anderen Person widerspricht, sexuelle Handlungen an dieser vornimmt oder an sich vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung einer sexuellen Handlung an oder mit einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis fünf Jahren bestraft).« (vgl. S.1056 Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht vom 19.07.2017)

10  LAG Hamm, Urteil v. 25.04.2014 – 10Sa 1718/13

11  »Es existiert ein Aktenzeichen bei Polizei oder Staatsanwaltschaft.«

12  §§ 211 Mord, 212 Totschlag, 213 Minder schwerer Fall des Totschlags, 216 Tötung auf Verlangen, 222 Fahrlässige Tötung, 223 Körperverletzung, 224 Gefährliche Körperverletzung, Schwere Körperverletzung, 227 Körperverletzung mit Todesfolge