Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2013, Rubrik Titelthema

Phantasien der Überwältigung und der Unterdrückung

Sven Kramer über »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« von Robert Musil

Sexuelle Nötigung von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsanstalten – bis vor einiger Zeit glaubten wir, dieses Thema gehöre der Vergangenheit an. Bis bekannt wurde, dass in einigen kirchlichen Einrichtungen und in manchen Internaten solches noch bis heute geschieht und von den Verantwortlichen vertuscht und gedeckt wird. Doch von welcher Zeit nahmen wir an, dass in ihr finstere Erziehungsrituale die Regel gewesen seien? In Deutschland wird das wilhelminische Kaiserreich genannt werden müssen, das im Ersten Weltkrieg versank und der ganz anders gestrickten Weimarer Republik Platz machte. Sein Gegenstück hatte es in der österreich-ungarischen Doppelmonarchie, jenes damals noch großen Habsburgerreichs, in dem Franz Joseph eine scheinbar ewige Herrschaft ausübte.
Hier spielt Robert Musils Erzählung von 1906, in der er den Jugendlichen Törleß porträtiert. In ein Internat am Rande des riesigen Reiches verschickt, führt dieser in einer endlosen Langeweile ein streng reglementiertes Dasein. Er tut sich mit anderen Schülern zusammen, um etwas zu erleben und macht im örtlichen Bordell erste sexuelle Erfahrungen. Doch wirklich interessant wird es erst, als er und zwei andere beginnen, einen Mitschüler, der etwas gestohlen hat, zu erpressen. Er ist ihnen ausgeliefert; sie nutzen das aus, beginnen ihn zu quälen.
In Musils Erzählung sind es also nicht die Erwachsenen, die die Jugendlichen behelligen, sondern die Schüler selbst demütigen und foltern einander. Zu einer Zeit, als Sigmund Freud in Wien das Unbewusste entdeckte und erkundete, zeigte Musil mit seiner Erzählung, dass Phantasien der Überwältigung und der Unterdrückung schon in der Pubertät vorhanden sind und dass sie – wo sich die Gelegenheit bietet – in die Realität umgesetzt werden.
In einer spannenden Handlung geht es also vor allem um das Innenleben des Internatsschülers Törleß, aber dieser ist natürlich Teil eines gesellschaftlichen Systems, das solche Orientierungen erst hervorbringt. Aber sind diese Haltungen wirklich mit den beiden Kaiserreichen im Ersten Weltkrieg versunken? Dass auch in unserer Gesellschaft irgendetwas nicht stimmt, darauf deuten die oben genannten Vorfälle.

Buch: Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1989 (1906)

Sven Kramer ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg. | Juror und Mitveranstalter der LiteraTour Nord | Letzte Publikation: Spuren der Zeitgeschichte im Kulturraum Elbe, hg. zs. mit M. Schierbaum, Springe 2012.