Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2012, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

Mit gekreuzten Blicken

Eine deutsch-türkische Jugendbegegnung des Jugendarbeitskreises Hamburg im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der Schule Hüseyin Avni Sözen Anadolu Lisesi in Istanbul vom 28. April bis 5. Mai 2012

Von Katharina Tenti, Jugendarbeitskreis Hamburg im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Istanbul pulsiert, überwältigt und der Bosporus strahlt. Gleichzeitig ist die Stadt überfordernd, laut, voll geschäftigem Treiben und dennoch entspannend. Istanbul wächst in alle Richtungen, ufert geradezu aus, obwohl die Stadt, ähnlich wie Rom, auf sieben Hügeln gebaut ist, kann man nirgendwo das Ende ausmachen. Nur an einer Stelle, an der auch das Bauen von Hochhäusern unmöglich scheint, dort wo der Bosporus in das Schwarze Meer fließt und sich auf einmal eine unglaubliche Weite öffnet, sieht man nur noch Natur und Meer. Nach 30 km Schiffsfahrt entlang des Bosporus endet Istanbul doch einmal.

Ende April bis Anfang Mai fand der erste Teil der deutsch-türkischen Jugendbegegnung des Jugendarbeitskreises Hamburg (jak) im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Istanbul statt. Damit hat der jak Hamburg neue Wege beschritten. Obwohl in der Jugendarbeit des Volksbundes der Gegenwartsbezug eine wichtige Rolle spielt, wurden doch bisher junge Menschen meistens durch die Geschichte des Zweiten Weltkrieges für die Ursachen und Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft sensibilisiert. Aus dem Wunsch des jak heraus, sich in einem Projekt einmal nicht mit »der Geschichte« auseinanderzusetzen, sondern interkulturelle Fragen in den Vordergrund zu stellen, entwickelte sich der deutsch-türkische Jugendaustausch zwischen Hamburg und Istanbul mit einer Hin- und Rückbegegnung.

Ausgehend davon, dass es in unserer Gesellschaft Fremdenfeindlichkeit gibt und immer noch Vorurteile und Stereotypen den eigenen Bewertungsrahmen bewusst oder unbewusst bestimmen, hat sich der jak in dieser Begegnung die Beschäftigung mit kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zum Ziel gesetzt. Gemeinsam mit der Partnerin Beril Ulugöl, ehemalige und gut vernetzte Deutschlehrerin in Istanbul, die seit einigen Jahren der Jugendbildungsarbeit des Volksbundes verbunden ist, haben sich der jak Hamburg und die Schule Hüseyin Avni Sözen Anadolu Lisesi (HASAL) im Istanbuler Stadtteil Üsküdar Ende 2011 als Projektpartner gefunden.

Gekreuzte Blicke. Somit kooperiert in diesem Fall ein schulischer Bildungsträger mit einem außerschulisch tätigen Jugendverband, was zugleich eine Chance und ein Gewinn darstellt, aber auch Schwierigkeiten birgt, die zu meistern ebenfalls Teil des Austausches ist. Während es beispielsweise in der außerschulischen Jugendarbeit üblich ist, alles so partizipatorisch wie möglich zu gestalten, war es für die Schule eine große Herausforderung, sich auf soviel jugendliche Mitbestimmung einzustellen. Während die jakis es gewohnt sind zu diskutieren und selbst zu gestalten, war dies für die türkischen Schüler/innen in diesem Rahmen oft neu. Andersherum war es für die deutsche Begleiterin ungewohnt, bei Ausflügen und Mittagessen nicht gemeinsam mit der Jugendgruppe zu sitzen – sondern separat, so wie es vielleicht im schulischen Rahmen üblich ist.

 »Diese Stadt bläst Klischees zu Staub, und zwar […] gründlich«, schreibt SZ-Korrespondent Kai Strittmacher in seinem Buch »Gebrauchsanweisung für Istanbul« (München 2012, S. 12). Moscheen und Minarette scheinen das Stadtbild zu prägen, doch das Gewusel in den Straßen und die Architektur erinnert oft eher an südeuropäische Großstädte. Obwohl das moderne Istanbul eine Weltmetropole mit viel westlichem Einfluss ist, haben sich traditionelle Çayhäuser gehalten. An fast jeder Ecke gibt es den typischen türkischen Tee zu kaufen. Der Bosporus trennt die Stadt geografisch in zwei Kontinente, Asien und Europa. In Istanbul verschmelzen diese beiden Kontinente, eine Trennung gibt es nicht – außer im Stau bei dem unglaublichen Verkehrsaufkommen auf den Brücken, das einem so manche Nerven raubt.

Vorurteile abbauen, bzw. sie gar nicht erst entstehen zu lassen, Verständnis, Toleranz und Offenheit sind Werte dieser Jugendbegegnung. Die Teilnehmenden aus Hamburg waren in verschiedenen türkischen Gastfamilien untergebracht. Durch diesen intensiven Austausch und das Kennenlernen der Lebenswirklichkeiten des anderen wurden den Jugendlichen neue Perspektiven eröffnet. Gespräche und interkulturelle Spiele führten zu »gekreuzten Blicken« und der Auseinandersetzung mit kulturellen Identitäten. Eine besondere Bereicherung, da sich unsere Gruppen zwar formal in deutsche und türkische Nationalitäten einteilen ließen, die Zusammensetzung der Gruppen doch aber mehr als das verkörperte, da einige der Jugendlichen eine Zuwanderungsgeschichte mitbringen. Daran wird deutlich, wie brüchig diese Einteilungen sein können und dass ein Nachdenken über diese Grenzen hinaus wichtig ist. Wie ist das Bild von mir selbst/wie ist das Bild vom anderen/wie ist das Bild vom Bild des anderen – dies waren die Fragen, mit denen sich die Gruppe in Istanbul beschäftigte und worüber im Herbst in Hamburg weiter reflektiert werden wird.

Nach der ersten Phase, in der sich die Jugendlichen aus Hamburg orientierten, alle Eindrücke aufsogen und die Stadt auf sich wirken ließen, wurden sie ab Mitte der Woche selbstständiger und wollten mehr auf eigene Faust erleben. Zum Ende der Woche fingen sie bereits an zu überlegen, was sie den türkischen Jugendlichen im Herbst von ihrem Hamburg zeigen möchten. Dies war nicht zuletzt der überwältigenden Gastfreundschaft und Herzlichkeit geschuldet, die die gesamte Gruppe in Istanbul erfahren hat. Viele der Jugendlichen wurden wie ein Teil der eigenen Familie em-pfangen und umsorgt. Einige hatten Verwandte und Nachbarn eingeladen, denen der Gast aus Deutschland bereits im Vorfeld freudig angekündigt und nun vorgestellt wurde!

Tanzen macht glücklich. Mitte der Woche trafen sich alle Beteiligten der Begegnung zu einem gemeinsamen Abendessen. Die deutsch-türkische Gruppe kam mit den Familien und der gesamten Schulleitung in entspannter und fröhlicher Stimmung zusammen. Begleitet von alles übertönender Livemusik wurden leckere türkische Spezialitäten probiert und auch der Dank des jak an die Organisatoren vor Ort und den Gastfamilien ausgesprochen. Zur Überraschung der Hamburger/innen wurde dann die Tanzfläche eröffnet! Viele Eltern und Lehrer/innen machten den Anfang. Nach ersten Hemmungen der Jugendlichen tanzten alt und jung gemeinsam. Es wurde ein bunter Abend mit vielen strahlenden Gesichtern!

Deutsch-türkischer Dialog. Eine Neuauflage des Jugendaustausches zwischen dem jak Hamburg und HASAL ist bereits für 2013 geplant. Auch auf politischer Ebene scheint die Bedeutung des deutsch-türkischen Dialogs angekommen zu sein. So sagte Außenminister Guido Westerwelle in seiner Rede am 15. Mai 2012 in Istanbul: »Wir sollten darüber nachdenken, wie wir den Austausch zwischen jungen Türken und Deutschen intensivieren können. Programme, die Deutschland mit seinen Nachbarn Frankreich und Polen entwickelt hat, können dafür als Vorbild dienen. Wir sollten eine türkisch-deutsche Brücke für die Jugend errichten.« (www.ijab.de/nc/startseite/news/n/show/deutsch-tuerkischer-jugendaustausch-ist-investition-in-die-zukunft)

Hoffentlich werden dies keine leeren Wort bleiben. Denn für zukünftige deutsch-türkische Jugendprojekte wäre eine regelmäßige Förderung wünschenswert!