Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2012, Rubrik Titelthema

»Wir denken, wir sind aufgeklärt«

Jugendliche entwickeln Ideen für den Gedenkort Hannoverscher Bahnhof

Von Sibylle Hoffmann, Hamburg

Max spricht schnell und laut. Seine Augen blitzen, und er schöpft immer neue Argumente. Vehement verteidigt er den »Deportations-Rap«, den er mit der Arbeitsgruppe Hip-Hop geschrieben hat. »Tuk Tuk Tuk die Eisenbahn / wer von uns muss diesmal fahr’n / wir brauchen keinen Fahrschein / wenn wir Glück ham, komm’ wir lebend an« – zitiert Pia den Refrain. In diesem Rap stecke viel Ironie, meint Max. Und Ironie erzeuge Aufmerksamkeit, ergänzt Pia (s. Interview: »Deportation rappen?«). Wenn man jungen Menschen in einer Gedenkstätte das Grauen des Nationalsozialismus vor Augen führen und sie vor Rassismus und Extremismus warnen will, dann muss man ihre Gefühle ansprechen, sagen beide. Max Stimme wird noch lauter, er will eine Revolution in der Erinnerungskultur.

Einige Ältere schütteln zunächst die Köpfe und hadern. Kann man über Deportationen in diesem Tonfall sprechen – oder gar im Beat singen? Sie kritisieren historische Ungenauigkeiten. Am Ende einer intensiven Debatte einigen sich alle. Das Lied wird mit kleinen Veränderungen akzeptiert und als Video zu sehen sein.

Ein positives Zeichen also für die Jugendlichen, die seit Wochen schon Ideen zusammentragen, wie ein zukünftiges Dokumentations- und Informationszentrums am Lohseplatz gestaltet werden könnte. Am Lohseplatz – auf dem Gebiet der heutigen HafenCity – stand bis 1955 der Hannoversche Bahnhof. Zwischen 1940 und 1945 fuhren hier 20 Deportationszüge ab und brachten fast 7.700 Juden, Sinti und Roma in Ghettos und Vernichtungslager. Am Lohseplatz ist eine Gedenkstätte geplant, und 37 Hamburger Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren haben in mehreren Workshops unter Anleitung eines siebenköfiges Projektteams ihre Vorstellungen dazu entwickelt.

Das neuartige Partizipationsprojekt auf Initiative des Landesjugendrings Hamburg wird von einem breiten Spektrum Hamburger Institutionen (s.u.) unterstützt und organisiert. Zeitzeugen, Vertreter von Verfolgtenverbänden, Historiker, Stadtplaner und andere Experten kommen zu den Workshops der Jugendlichen hinzu. Viele Stimmen also, viele Meinungen und immer wieder Diskussionen. Wie gestaltet man ein Dokumentationszentrum so überzeugend, dass es auch kommende Generationen beeindruckt, die keinen persönlichen Kontakt mehr zu Zeugen aus der Nazizeit haben werden? Anfangs gab es im Projekt Missverständnisse. Manche Jugendliche dachten, sie könnten die Gedenkstätte selbst planen, aber nein: Architekten haben bereits Entwürfe vorgelegt (s. Interview: »Ein wandernder, mobiler Stand«). Die vollständige Realisierung samt Erinnerungspark soll 2017 erfolgen, ein Informations- und Dokumentationszentrum wird bereits 2013/14 stehen. Allerdings lässt auch die Dokumentations-Ausstellung für die Gedenkstätte den Jugendlichen wenig Raum für neue Ideen, denn es gibt die Ausstellung bereits – inklusive Katalog*. Sie wurde 2009 im Kunsthaus Hamburg gezeigt und wartet nun darauf, am Lohseplatz dauerhaft präsentiert zu werden.

Fragen und Aufgaben. Die Initiatoren des Vorhabens wollten in diesem Projekt mit den Jugendlichen vor allem Ideen sammeln zu der Frage: »Wie wollt ihr euch an diesem Gedenkort erinnern?« In einer Liste hatten die Ausrichter des Projekts Fragen zusammengetragen. Die erste lautete : »Welche aktuellen Themen stehen eurer Meinung nach in Bezug zur Geschichte der Hamburger Deportationen?« Die achte und letzte: »Wie würdet ihr das Informations- und Dokumentationszentrum in der HafenCity nennen?« Zwei Titel fanden die jungen Leute für den Gedenkort am Lohseplatz: »Gedenkstätte Hannoverscher Bahnhof – Gleise ins Ungewisse« und »Abfahrt zum Erinnern – zum Gedenken an die Deportierten vom Hannoverschen Bahnhof«.

Insgesamt sieben Treffen hat es in der Zeit zwischen Oktober 2011 und Mai 2012 gegeben, jeweils freitags und samstags. Die Jugendlichen besuchten die KZ Gedenkstätte in Neuengamme, nahmen den Lohseplatz in Augenschein, und gemeinsam reisten sie nach Berlin, um Gedenkorte zu besichtigen und deren Gestaltung zu studieren. Die Projektwebsite »www.wie-wollt-ihr-euch-erinnern.de« diente ihnen als öffentliches Tagebuch.

»Wir denken, wir sind aufgeklärt«, warnt Marlin, »aber es gibt diese Rechtsextremen noch in unserem Alltag«. Immer wieder überlegen die Schüler/innen, was sie wie und wo beitragen können, um den Hannoverschen Bahnhof zu einem – wie Lukas (s. Interview: »Ein wandernder, mobiler Stand«) sagt – »Ballungsort« zu machen: Viele Menschen sollen zum Lohseplatz kommen! Im Dokumentationszentrum werden sie von den Deportationen im Nationalsozialismus erfahren und einen Bezug zur Gegenwart finden.

Die Arbeit der Jugendlichen konzentrierte sich auf acht Schwerpunkte:
• Die Arbeitsgruppe Accessoires hat Taschen und Armbänder entworfen, die in der Gedenkstätte verkauft werden sollen. Das wirkt absurd, findet Niclas. Aber er hat sich in das Thema hineingedacht und begründet klar, warum Leinenbeutel mit dem Aufdruck »Erinnere dich« in vielen Sprachen eine gute Sache sind (s. Interview: »Ich habe mich erinnert. Du dich auch?«).
• Die Arbeitsgruppe Wegweiser entwickelte einen Plan zur Aufstellung von Schildern, die zum Lohseplatz führen. Der Plan bindet auch Orte in Hamburg ein, deren Bedeutung im Nationalsozialismus heute nicht mehr sichtbar ist. Eine gute Idee, die aber viel Bürokratie mit sich bringt, stöhnt Doris (s. Interview: Wegweisend).
• Die Arbeitsgruppe Angebote stellt sich einen Chill-Out-Room vor, in dem die Besucher der Gedenkstätte sich zwar hinsetzen und ausruhen können, aber doch beim Thema bleiben. Darum sollen auf Tischen handliche, große Würfel platziert werden, auf denen Photos und Biographisches über deportierte Menschen informieren (s. Interview: »Deportation rappen?«).
• Einen besonderen Eingangsbereich in den Gedenkort plant die Audio-Arbeitsgruppe: Der Besucher soll gleichsam eingeschlossen werden – als wäre er in einem Deportationswaggon. Dazu soll der Raum abgedunkelt werden und eine »Tondusche« mit Berichten von Deportierten erklingen. Die jungen Ausstellungsmacher wollen den Besuchern die Bedrückung nicht ersparen. (s. Interview: »Deportation rappen?«).
• Die Arbeitsgruppe mobiler Stand hat ein kleines Dokumentationszentrum entwickelt, mit dem öffentliche Orte und Schulen angefahren werden können, um einen ersten Eindruck von der Gedenkstätte zu geben und zu informieren (s. Interview: »Ein wandernder, mobiler Stand«).
• Ein zehn Minuten langes Video zum Projektablauf und zu den behandelten Themen hat die Arbeitsgruppe Film gedreht.
• Die Arbeitsgruppe Hip-Hop hat den oben erwähnten und zunächst so umstrittenen Deportations-Rap geschrieben und im Video aufgezeichnet (s. Interview: »Deportation rappen?«).
• Eine Arbeitsgruppe hat ihren Namen im Projektverlauf mehrmals gewechselt. Erst hieß sie »Promi-AG«. Prominente sollten angesprochen werden, damit sie sich in einem Video zum Thema Deportation äußern. Diese Idee zerschlug sich (s. Interview: »Mein Opa war U-Bootkapitän«). Daraufhin nannte sich die Arbeitsgruppe einfach »Erinnern ohne Prominente«: Die Jugendlichen stellten sich selbst vor die Kamera. Im Video erklären sie, warum sie sich an wen erinnern. (s. Interview: »Wen kann die Gedenkstätte erreichen?«). Zuletzt hat sich die Gruppe den Titel »Blick zurück – Erinnerungsclips« gegeben.

Ihre »Erinnerungsclips« wird die Arbeitsgruppe ins Internet stellen, vorab aber haben die Jugendlichen darüber mit zwei Vertretern des Auschwitzkomitees diskutiert, die in den Arbeitsgruppen zu Gast waren. Eine Workshopteilnehmerin fand sich im Erinnerungsclip unpassend gekleidet und bat um eine Nachaufnahme. Frieda Larsen vom Auschwitzkomitee wischte die Bitte vom Tisch: Die Deportierten hatten keine Zeit, sich über ihr Aussehen Gedanken zu machen! So wurden die Jugendlichen immer mehr und unmittelbarer mit der Wirklichkeit der Deportationen konfrontiert. In allen Workshops legten die Vertreter des Auschwitzkomitees großen Wert darauf, dass die Jugendlichen in ihren Beiträgen die Würde der Deportierten und ihrer Nachfahren so wahren, dass es keine Missverständnisse gibt.

Zurück zum Anfang: Die Frage nach den Themen, die aktuell in Bezug zum Hannoverschen Bahnhof stehen, wurde von den Jugendlichen überwiegend mit dem Hinweis auf Rassismus und Rechtsextremismus beantwortet. Die Abschiebung von Flüchtlingen erwähnten sie dagegen kaum. Frieda Larsen, die sich selbst auch gegen Abschiebungen engagiert, betonte : »Es geht hier ja auch wirklich um das Erinnern an das, was 1933 bis 1945 geschehen ist und dass das nicht verfälscht wird.« In den nächsten Monaten sind weitere Projekttreffen geplant. Dann wird diskutiert, welche Ideen in das Ausstellungskonzept wirklich integriert werden. Auf jeden Fall soll das Projekt und mit ihm das Thema lebendig gehalten werden.

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Projektförderer und -ausrichter
Das Beteiligungsprojekt »Wie wollt ihr euch erinnern?« wird ausgerichtet und gefördert von:
• Alfred Toepfer Stiftung F.V.S.
• Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration
• Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
• Freundeskeis der KZ-Gedenkstätte
• Gewerkschaft Erziehung Wissenschaft
• HafenCity GmbH
• Institut für Geographie der Universität Hamburg
• Körber-Stiftung
• Kühne Logistics University
• Kulturbehörde
• KZ-Gedenkstätte Neuengamme
• Landesjugendring Hamburg
• Landeszentrale für politische Bildung
• Moses-Mendelssohn-Stiftung
• Nordmetall-Stiftung

Der Landesjugendring Hamburg bedankt sich insbesondere bei der Alfred Toepfer Stiftung für eine großzügige Spende, mit der dem LJR eine personelle Beteiligung an der Projektdurchführung ermöglicht wurde.

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* In den Tod geschickt. Die Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 – 1945, hg. von Linde Apel im Auftrag der Behörde für Kultur, Sport und Medien u.a., Hamburg 2009