Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3+4-2011, Rubrik Titelthema

Jugendsexualität im Internetzeitalter

Von Urszula Martyniuk und Silja Matthiesen, Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie

Die aktuelle Debatte zur Bedeutung des Internets für die sexuelle Sozialisation legt ihren Fokus auf die befürchteten Schäden, die die Internetpornografie im Liebesleben junger Menschen anrichten soll. Von sexuellen Tragödien und sexueller Verwahrlosung ist die Rede (vgl. Siggelkow/Büscher 2009), obwohl die empirische Forschung zur Jugendsexualität gegenteilige Befunde liefert: Die meisten Jugendlichen leben ihre Sexualität in festen Beziehungen, sie verhüten so gut wie nie zuvor, und sie gehen relativ gelassen und souverän mit den neuen sexuellen Erfahrungsräumen im Internet um.

Jugendsexualität heute. Der Zustand der Jugendsexualität lässt sich anhand von drei einfachen Indikatoren wie der Anzahl der Jugendschwangerschaften, dem Alter beim ersten Geschlechtsverkehr und dem Verhütungsverhalten überprüfen. Betrachten wir als erstes die Schwangerschaftsraten bei minderjährigen Frauen, so zeigen die Daten des Statistischen Bundesamts einen leichten aber kontinuierlichen Abfall der Raten seit 2001. Gegenwärtig werden etwa sieben von tausend (acht von tausend wenn wir die Fehlgeburten berücksichtigen) 15- bis 17-jährige Frauen pro Jahr schwanger. Diese Schwangerschaften sind in der Regel ungewollt und ungeplant, etwa 60 Prozent der minderjährigen Frauen entscheiden sich für einen Schwangerschaftsabbruch. Vergleicht man die Schwangerschaftsraten junger Frauen in verschiedenen westlichen Ländern, sieht man, dass die Raten in Deutschland niedrig sind: In Großbritannien sind sie etwa 2–3 Mal, in den USA sogar 4–5 Mal so hoch (vgl. Matthiesen 2009, S. 13 – 27).

Auch die Befürchtung, »Jugendliche fangen immer früher an« sexuelle Erfahrungen zu machen, ist ein Mythos. Wie die aktuelle Studie der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (2010, S. 113) zeigt, hat sich das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr in den letzten 15 Jahren kaum verändert. Heutzutage hatten etwa ein Fünftel der 15-Jährigen und zwei Drittel der 17-Jährigen bereits Geschlechtsverkehr. Die Meisten erleben also ihr »Erstes Mal« zwischen dem 15. und dem 19. Lebensjahr und in der Regel verwenden sie dabei sichere Verhütungsmethoden, d.h. Kondom und/oder Pille (BZgA 2010, S. 148). Erfreulicherweise wird das Verhütungsverhalten mit zunehmender sexueller Erfahrung noch besser, wobei die Pille an Bedeutung gewinnt (ibd. S. 160 – 163). Auch im Langzeitvergleich lässt sich eine Verbesserung des Verhütungsverhaltens bei Jugendlichen beobachten: Im Jahr 1980 haben etwa 17 Prozent der jungen Frauen und Männer beim letzten Geschlechtsverkehr gar nicht oder mit unsicheren Methoden verhütet, im Jahr 2009 waren es nur vier Prozent (ibd. S. 166).

Lieber Sex mit Liebe. Sexualität ist in den Augen der meisten Jugendlichen stark an Liebesbeziehungen gekoppelt. Schon 1990 – also in der »Vor-Internet-Zeit« – fanden Sexualforscher bei jungen Frauen und Männern eine hohe Orientierung an den romantischen Idealen Liebe und Treue. Damals gaben 81 Prozent der Mädchen und 71 Prozent der Jungen an, dass sie nur mit jemandem Sex haben wollen, den sie richtig lieben (vgl. Schmidt u.a. 1993, S. 40). Heute, also 20 Jahre später, klingt die so genannte »Generation Porno« ganz ähnlich: »Ich muss einem Jungen erstmal richtig alles anvertrauen, damit ich mir überhaupt Sex vorstellen kann«, sagt eine 17-Jährige, die an einer aktuellen Interviewstudie des Hamburger Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie teilgenommen hat (siehe Info unten). Ihre Meinung wird von den meisten Gleichaltrigen geteilt, sie finden: »[Sex] ohne Beziehung und Liebe und Vertrauen – das geht einfach nicht«. Der Beziehungssex wird mehr geschätzt als der unverbindliche One-Night-Stand. Diejenigen, die Erfahrung mit beziehungsfernem Sex gemacht haben, finden Sexualität in einer Beziehung intensiver, genussvoller und gefühlvoller als eine einmalige sexuelle Begegnung: »Der Sex mit Leuten, die man nicht kennt, [läuft] sehr oberflächlich ab und nur auf Spaß hinaus. Bei einer Freundin ist es schon sehr gefühlsreich und man macht den Sex zärtlicher. (…) Küssen ist zum Beispiel bei One-Night-Stands nicht vorhanden.«

Was hält Beziehungen zusammen? Jugendliche wünschen sich dauerhafte Beziehungen, aber – wie bei Erwachsenen auch – konkurriert der Wert »Dauer« mit der Wertvorstellung »Qualität der Beziehung«. Dauer wird nur gewünscht, solange sie sich in der Beziehung aufgehoben fühlen und sie die Partnerschaft als befriedigend und lebendig erleben. Dabei werden die Maßstäbe klar definiert, eine typische Aussage eines 18-Jährigen lautet: »Unter einer festen Beziehung [verstehe ich], dass man wirklich zusammen ist, dass man wirklich nur diese Person liebt, dass es da jetzt nicht noch irgendwelche anderen gibt, dass man wirklich auch sich vollkommen vertrauen kann, dass man auch treu zueinander ist.« Was antworten Jugendliche auf die Frage, was ihre Beziehung zusammenhält? Den ersten Rang (am häufigsten genannt) nimmt die Intimität ein – gemeint sind: »beiderseitiges Vertrauen«, »große Offenheit und Ehrlichkeit«, »keine Geheimnisse voreinander«, »gegenseitiges Verständnis« und »Interesse aneinander«. An zweiter Stelle folgt Austausch als Oberbegriff für »zusammen lachen und Spaß haben« oder ähnliche Ansichten, Hobbys, Interessen und Gemeinsamkeiten wie »der gleiche Humor«. Fast genauso häufig wie Rückhalt, also »dass wir zueinander stehen und füreinander da sind«, wird Liebe erwähnt: »Weil wir uns lieben, das hält einfach zusammen.« Interessanterweise trägt die Sexualität nicht viel zum Zusammenhalt bei, sie wird äußerst selten genannt.

Sobald es einer Partnerschaft an diesen Qualitäten mangelt, wird sie in Frage gestellt und im Zweifelsfall beendet. Die Folge sind serielle Beziehungsmuster im Jugendalter: Trennungen können schmerzen, aber sie werden weniger als ein Scheitern erlebt als eine Möglichkeit, Erfahrungen mit unterschiedlichen Partnerschaften zu machen.

Sexuelle Erfahrungsräume im Internet. Laut der aktuellen Internet-Studie »Jugend, Information, (Multi-)Media« (JIM-Studie 2010) verfügen 98 Prozent der Haushalte, in denen Jugendliche leben, über einen Internetzugang. Durchschnittlich verbringen junge Frauen und Männer heute zwei Stunden täglich online. Die allermeisten Jugendlichen der Internet-Generation (vgl. Palfry/Gasser 2008) nutzen das Internet selbstverständlich auch als sexuellen Erfahrungsraum. Dort können sie eine unendliche Anzahl von Pornoclips erreichen und sich diese in der Regel ungestört, unkontrolliert und kostenfrei ansehen. Außerdem ermöglicht das Web 2.0 durch Online-Kommunikation und aktive Beteiligung in Foren, Chats oder Online Communitys, neue Begegnungen. Diese Möglichkeiten werden gerne genutzt: 84 Prozent der jugendlichen Internet-Nutzer kommunizieren (mehr oder weniger häufig) in sozialen Netzwerken (ibd.). Und obwohl die aktuelle Debatte stark von der Sorge über mögliche Auswirkungen der Internetpornografie geprägt ist, spielt das Chatten in Flirt- und Kontakträumen für das Sexual- und Beziehungsleben Jugendlicher vermutlich eine viel größere Rolle.

Pornografiekonsum der Jungen, Pornografiekontakte der Mädchen. So leicht zugänglich wie heute waren sexuell explizite Bilder und Filme für Jugendliche und auch für Erwachsene noch nie. Das ist eine tiefgreifende Veränderung ihrer sexuellen Umwelt – und viele, genauer: viele Jungen, nutzen sie.

Nach unserer aktuellen Interviewstudie zur Jugendsexualität (siehe Info unten) kann man davon ausgehen, dass gegenwärtig ein Drittel der 16- bis 19-jährigen Männer mindestens ein Mal in der Woche oder häufiger Pornografie, vor allem Clips oder Streams im Internet, konsumiert. Mäßig, aber regelmäßig ist, etwas flapsig formuliert, das Hauptmuster des Pornokonsums adoleszenter Jungen. Da die meisten in der Pubertät, mit 13 oder 14 Jahren, anfangen, haben sie bis zum Alter von 18 oder 19 Jahren viele Erfahrungen mit oder in Pornowelten.

Von den Mädchen hingegen konsumieren nur sehr wenige gezielt Pornografie, die meisten aber hatten schon einmal Kontakt mit Pornografie im Internet oder auf DVD: Diese Kontakte bleiben so gut wie immer vereinzelt und sporadisch. Die jungen Frauen finden Pornografie selten gut oder erregend, aber sie haben verbreitet eine liberale Einstellung dazu. Eine typische Aussage einer 18-Jährigen lautet: »Wer das gucken möchte, der kann das natürlich gucken. Ich würde jetzt niemanden verurteilen, aber das ist einfach nicht meine Welt«.

»What do boys do with porn?« Es gibt drei Settings, in denen Jungen Pornografie konsumieren: Alleine, zusammen mit Gleichaltrigen (fast immer im homosozialen Kontext), zusammen mit der Freundin. Letzteres ist in dieser Altersgruppe recht selten, nur Wenige (etwa ein Viertel) probieren es überhaupt, und wenn sie es tun, tun sie es sporadisch, so gut wie nie regelmäßig. Es ist, als sollte die pornografische der partnersexuellen Welt nicht zu nahe kommen.

Zusammen mit Peers, vor allem mit anderen Jungen, haben sehr viel mehr (über 50%) schon einmal und auch immer wieder einmal Pornos gesehen oder ausgetauscht (auf dem Handy, im Netz, auf DVD). Bei dieser Art des Konsums geht es so gut wie nie um sexuelle Erregung. In diesem Kontext erregt zu werden gilt klar als »uncool« und peinlich, sondern es geht, wie ein 18-Jähriger es ausdrückte, um den »Spaßfaktor«, die gemeinsame Belustigung über die besonders bizarren, grotesken, absurden, absonderlichen sexuellen (und für die Jungen unerotischen) Darbietungen – und das sich Abgrenzen davon. Man kennt sich aus in der weiten Welt des Sexuellen und versichert sich zugleich seiner Normalität und des im Rahmenbleibens. Der Austausch wüstester Bilder auf dem Handy bei pubertierenden Jungen hat aber auch noch eine andere Bedeutung: Es ist eine frühe Machogeste, durch die man sich mit »männlichen« Kenntnissen brüstet, sozusagen eine moderne Form der Mutprobe.

Am weitaus häufigsten aber ist der solitäre Gebrauch der Pornografie zur sexuellen Erregung und auch zur Befriedigung bei der Masturbation (90% haben das schon gemacht, fast alle Jungen mehr als sporadisch). Natürlich wird auch ohne Pornografie masturbiert. Aber Pornografie ohne Masturbation gibt es im solitären Setting eher selten. Bevorzugt werden kurze Clips, die dem Zeittakt der Masturbation entsprechen. Filme, die lange dauern, treffen auf weniger Interesse. Wenn wir über den Pornokonsum von Jungen zu sprechen, müssen wir also auch über Masturbation sprechen. Das eine begleitet das andere. Der solitäre Gebrauch der Pornografie ist für adoleszente Jungen so alltäglich, normal und selbstverständlich wie die Masturbation. Wenn sie in festen Beziehungen sind, geht die Masturbationsfrequenz in der Regel zurück. Sie wird aber nicht aufgegeben, ebenso wenig wie der Pornokonsum. Typisch für die matter-of-fact-Haltung der Jungen ist die Antwort eines 18-Jährigen auf die Frage, ob seine Mutter wisse, dass er Pornos sieht: »Sie kann sich’s denken. Also, ich bin ein ganz normaler Junge, deswegen.«

»What do girls do with porn?« Bei Mädchen ist der solitäre Gebrauch der Pornografie selten, 33% haben zwar schon einmal alleine Pornos gesehen, sie konsumieren sie aber insgesamt sehr selten. Auch funktionalisieren sie Pornos so gut wie nie für die Masturbation, auch nicht, wenn sie darin erfahren sind. Für die meisten jungen Frauen sind Pornos nicht erregend. Wenn Mädchen alleine einen Porno sehen, dann meistens, weil sie beim spätabendlichen »zappen« im Fernsehen oder beim Surfen im Internet zufällig darauf stoßen und dann einige Minuten »hängen bleiben«. Der typische Kontakt ist ungewollt, kurz und hinterlässt keine gravierenden Spuren. Eine 17-Jährige fasst die Banalität ihrer bisherigen Pornoerfahrung so zusammen: »Also belastet hat mich überhaupt nichts davon, das eine Mal hab ich den Porno halt geguckt, den ich nicht wirklich toll fand, ansonsten keine Auswirkungen.« Eine andere betont die Unwichtigkeit von Pornos in der Welt der Mädchen, wenn sie auf die Frage, ob sie gerne einmal einen Pornofilm sehen würde lachend antwortet: »Kosmetiksachen sind mir wichtiger als so ein Pornofilm.«

Gemeinsamer Pornokonsum unter Freundinnen (ein Drittel hat das schon einmal gemacht) findet meist in einer albernen Atmosphäre statt. Ziel ist es, gemeinsam ein Tabu zu brechen und etwas Verbotenes zu tun. Es wird viel gekichert. Der pornographische Film liefert dabei eher einen Lacherfolg als ein sexuelles oder gar erotisches Erlebnis. »Irgendwie war’s witzig, dieses typische Hihihi, guck mal da«, bilanziert eine 19-Jährige ihre Erinnerungen an ihren ersten Mädchen-Pornoabend. Die Motivation in diesem Setting ist außer Neugier und gemeinsamer Spaß auch das diffuse Gefühl, dass minimale Pornokenntnisse heute zum Erwachsenwerden dazugehören.

Manchmal werden Pornos auch in gemischtgeschlechtlichen Gruppen geguckt, meistens auf Partys, Feiern, bei DVD-Abenden und vor allem auf Initiative der Jungen (ein Fünftel der Mädchen hat das schon einmal gemacht). Die typische Rollenaufteilung sieht aus Mädchensicht dabei folgendermaßen aus: »Dann kamen irgendwann die Kerle auf die Idee: Ja, legen wir doch mal einen Porno ein. Und ich dachte nur so: Macht doch was ihr wollt.« Zum Pornogucken mit dem Partner (ein Fünftel der Mädchen hat das schon einmal gemacht) kommt es ebenfalls meistens auf Initiative des Jungen. Die Reaktionen sind »gegendert«: Er wird erregt, sie ist eher genervt und müde. Die meisten jungen Paare sind vom gemeinsamen Pornogucken wenig begeistert. Selten kommt es zu Wiederholungen. Eine 17-Jährige bringt es auf den Punkt: »Wir machen’s lieber selber als anderen dabei zuzugucken.«

Es wird deutlich, dass die Normalisierung der Pornografie inzwischen weit fortgeschritten ist. Die hohe Präsenz und Verfügbarkeit von Pornografie führt bei den meisten Jugendlichen zu ihrer Veralltäglichung – nicht zu Verwahrlosung und Verrohung. Viele Jugendliche sehen heute ganz gelassen oder auch belustigt explizite Sexszenen allein oder mit anderen zusammen – eine Gelassenheit die man als Ausdruck sexueller Zivilisierung begreifen kann.

Online-Flirten. Das Web 2.0 gehört so selbstverständlich zum Alltag von Jugendlichen wie die Schule auch, dort treffen sie andere Gleichaltrige – bekannte wie unbekannte – und dort bieten sich Gelegenheiten jemanden kennen zu lernen. Dazu kommt es vor allem dort, wo die sozialen Kontakte eine zentrale Rolle spielen, also z.B. bei Online-Communitys, Online-Spielen oder Internetforen. Das Internet ist eine neue Option, die man bei der Partnersuche in Betracht ziehen kann. In Online-Communitys kann man aus sicherer Entfernung potentielle Flirt- oder Beziehungspartner ansehen, nach eigenen Auswahlkriterien aussuchen, ansprechen und im Zweifelsfall schnell wieder wegklicken – eine Besonderheit der Kontaktanbahnung im Internet, die Geser und Bühler (2006) als erleichterte Exit-Option bezeichnen. »Da kann man eingeben von welcher Stadt du Mädchen suchst, von welcher Altersgruppe und dann kommen da unzählige Profile. Dann kannst du dir angucken wie die aussehen oder mit wem die befreundet sind. Du kannst mit denen so ein Netzwerk aufbauen«, erzählt ein 17-Jähriger.

Online-Flirts sind unter deutschen Jugendlichen weit verbreitet, etwa zwei Drittel aller Jugendlichen haben das schon einmal ausprobiert, überraschenderweise flirten junge Männer genauso häufig wie junge Frauen. Online-Flirten wird oft mit Freunden gemeinsam ausprobiert, es geht bei diesem Einstieg in die Welt der erotischen Begegnungen nicht primär um sexuelle Erregung, die zentrale Motivation ist Neugier und »Spaß«. Was man unter Spaßflirten versteht, beschreibt eine 16-Jährige: »Ich habe mich mal bei Flirtfieber angemeldet, bei dieser Flirtseite. Das ist aber schon lange her. Da hatten wir das alle zusammen gemacht, meine Freundinnen und ich. Das war nicht ernst gemeint, sondern ein bisschen mehr aus Spaß.« Das Internet dient als Probebühne, auf der Jugendliche erste Erfahrungen mit den Regeln des Flirtens machen, sich selbst und andere auf dem Partnermarkt positionieren und die eigene Attraktivität und Selbstinszenierung testen. Dabei gehört Spaßflirten zu den »frühen Anfängen des Flirtens«, die an Attraktivität verlieren, sobald die Jugendlichen höhere Chancen sehen, tatsächliche Beziehungen einzugehen und feste Partner/innen zu finden.

Vom Chat zum Date. Wenden wir uns nun einem Szenario zu, das in der Debatte über mögliche Risiken der Partnersuche über das Internet eine zentrale Rolle spielt: Ein/e Jugendliche/r lernt im Netz eine fremde Person kennen, beginnt einen Flirt und will diese Person dann »in echt« kennen lernen. Das typische Kennenlernen übers Internet verläuft in drei Etappen: (1) Chatten, (2) Telefonieren, (3) Treffen. Bei jedem Schritt bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder wird der Kontakt weiter vertieft oder abgebrochen.

Beim Chatten werden wie in einem Auswahlverfahren die potentiellen Partner nach individuellen Kriterien ausgesiebt. Diejenigen, die nicht zum Idealprofil passen, werden ignoriert oder gelöscht. Wenn aber das Online-Gespräch gut gelungen ist, das Interesse am Gegenüber weiter besteht und sich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, macht man den nächsten Schritt und vertieft die Bekanntschaft offline.

Die zweite Bewährungsprobe ist das Telefonieren. Sie hat den großen Vorteil, dass am Telefon ein »No-Fake-Test« gemacht werden kann, bei dem man einen vertieften Eindruck von der Person, über die Stimme und die Art zu Sprechen und sich auszudrücken, gewinnt. Manchmal bleibt es beim Telefonieren, weil die Entfernung zu groß und ein Treffen unmöglich ist, manchmal passt die Stimme oder Redeweise nicht, und der Kontakt wird abgebrochen und manchmal, wenn alles gut gefällt, verabredet man sich.

Ein Drittel unserer Befragten haben sich schon mindestens einmal mit jemandem getroffen, den sie im Internet kennen gelernt hatten.

Zum ersten Treffen kommt es unterschiedlich schnell, wobei nur Wenige sich direkt am nächsten Tag treffen, die Meisten brauchen mehr Zeit, um Vertrauen aufzubauen. Ebenso wie man sich im Netz schrittweise annähert, werden auch bei der Vorbereitung des ersten Treffens vorsichtige Schritte gemacht und Hintertüren möglichst lange offen gehalten.

Jugendliche setzen verschiedene Strategien ein, um die Sicherheit bei einem Treffen mit einer fremden Person zu verbessern: Am häufigsten lässt man sich von Freunden begleiten oder trifft sich nur mit Bekannten von Bekannten. Als Ort des Treffens wählt man einen öffentlichen Raum oder (seltener) involviert die Eltern in die Schutzmaßnahmen. Bei den befragten Jugendlichen finden wir überwiegend ein hohes Bewusstsein von der potentiellen Gefährlichkeit eines Treffens mit unbekannten Personen aus dem Netz. Natürlich gibt es auch hier einzelne Ausnahmefälle, es lässt sich jedoch generell sagen, dass junge Frauen und Männer verschiedene, aufeinander aufbauende Sicherheitsmaßnahmen nutzen, mit denen sie sich sowohl gegen Enttäuschung und Peinlichkeit als auch gegen mögliche Übergriffe, Missverständnisse oder sexuelle Gewalt absichern.

Nach dem ersten Date kann es auf verschiedene Weise weitergehen – am häufigsten wird der Kontakt abgebrochen. Oft entspricht das reale Bild einer Person nicht ihrer Online-Selbstdarstellung – eine Erfahrung, die auch als »Offline-Schock« bezeichnet wird. Ein Fünftel unserer Befragten haben schon mindestens einmal einen Partner/eine Partnerin für eine feste Beziehung online kennen gelernt. Nur sechs Prozent unserer Befragten haben schon einmal über das Internet jemanden kennen gelernt, mit dem sie »casual sex« oder einen »One-Night-Stand« hatten. Wir sehen, dass die Suche nach Beziehungen – online wie offline – unter Jugendlichen sehr viel verbreiteter ist als die Suche nach Sex.

Jugendsexualität und Internet. Wir bekommen hier einen ersten Eindruck davon, dass die so genannte »Generation Porno« romantischer, verantwortungsvoller und (Medien-)kompetenter ist, als es in den Medien häufig dargestellt wird. Für Jugendliche gehören Liebe, Sex und Beziehung (möglichst) zusammen: Sie organisieren ihre Sexualität im Rahmen fester Partnerschaften. In der Regel kennen sie die potentiellen Gefahren des Internet und wissen, wie und inwieweit es möglich ist, sich vor diesen zu schützen. Und daher tummeln sie sich in der virtuellen Welt, weil sie neue Erfahrungsräume eröffnet, die sexuelle Erlebnisse mit geringen Kosten und Risiken versprechen, ohne Investitionen und ohne böse Folgen.


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Literatur

BZgA (2010): Representative Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern, www.forschung.sexualaufklaerung.de

Geser, Hans / Bühler, Evelina (2006): Partnerwahl Online. In: Sociology in Switzerland: Towards Cybersociety and Vireal Social Relations. Zürich: Online Publikationen; socio.ch/intcom/ t_hgeser15.htm

JIM (2010): Jugend, Information, (Multi-) Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, www.mpfs.de

Matthiesen, Silja / Block, Karin / Mix, Svenja / Schmidt, Gunter (2009): Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen, Köln.

Palfrey, John / Gasser, Urs (2008): Generation Internet. Die Digital Natives: Wie sie leben - Was sie denken - Wie sie arbeiten, München.

Schmidt, Gunter (Hrsg.) (1993): Jugendsexualität: Sozialer Wandel, Gruppenunterschiede, Konfliktfelder, Stuttgart.

Siggelkow, Bernd / Büscher, Wolfgang (2009): Deutschlands sexuelle Tragödie: Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist, Asslar.


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Zu dem Projekt

Die Zitate und andere Angaben in diesem Beitrag stammen aus dem aktuellen Forschungsprojekt »Sexuelle und soziale Beziehungen von 17- und 18-jährigen Frauen und Männern«. Die Studie wird am Hamburger Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie unter der Leitung von Dr. Silja Matthiesen durchgeführt und von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gefördert. Im Rahmen der Studie wurden 160 junge Frauen und Männer im Alter von 16 bis 19 Jahren mittels qualitativer Interviews zu ihren bisherigen Erfahrungen mit Liebe, Sexualität, Beziehungen und dem Internet befragt. Mehr Informationen unter: www.jugendsex-forschung.de