Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2005, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

Ganztags macht Schule

Von Bianca Gerlach, Hamburg

In Hamburg entstehen 31 neue Ganztagsschulen. Für den Nachmittag sind unter anderem Kooperationen mit Jugendverbänden angedacht. – punktum besuchte eine Ganztagsschule in spe, die Grundschule Appelhoff in Steilshoop.

Sie ist da:
Die 37-Stunden-Woche, alternativ gar die 40-Stunden-Woche. Keine weitere Umgestaltung des Arbeitsmarktes, geschraubt wird an der Basis unserer Zukunft: an der Schulausbildung des Nachwuchses in Hamburg.

Nach dem PISA-Schock, viel Lamento und ebenso vielen Diskussionsrunden folgen die ersten Taten: Bund und Länder forcieren die Erweiterung von »normalen« Schulen zu Ganztagsschulen. In Hamburg werden nach den Sommerferien dieses Jahres 31 Schulen ihren »Betrieb« von Teilzeit-auf Vollzeitbetreuung umstellen.

Langfristiges Ziel des Rahmenkonzeptes für Ganztagsschulen in Hamburg ist, Schüler und Schülerinnen international »wettbewerbsfähig« zu machen – oder kurz: Nie wieder derart miserabel bei PISA und ähnlichen international vergleichenden Untersuchungen abzuschneiden.

Die ganztägige Betreuung soll helfen, so erhofft man sich, lernschwache Kinder besser zu motivieren, die Sprachkompetenz von Migranten-Schülern zu fördern und vor allem die bisherige Abhängigkeit von Lernerfolg und sozialer Herkunft aufzubrechen. Durch »den Verzicht auf ein zeitlich eingeschränktes Raster des Vormittags«, so schreibt der Senat in seiner Mitteilung an die Bürgerschaft*, »wird der Einsatz von Lern- und Arbeitsmethoden ermöglicht, die individuell auf die Lernvoraussetzungen und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingeht«. Übersetzt heißt dies, daß zukünftig auf dem Lehrplan neben den »normalen« Fächern wie Mathe oder Erdkunde auch Knobelkurse, Kochen oder Kickern stehen. Von Feinmotorik, sozialer Kompetenz bis Persönlichkeitsentwicklung – die Bandbreite möglicher Lernerfolge ist groß. Angestrebt ist eine Verzahnung von »Phasen der Konzentration«, also dem regulären Unterricht, mit »Phasen der Entspannung«, also ergänzenden Angeboten wie Sport, Musik oder Handwerk.

Idealtypen. Möchte eine Schule zur Ganztagsschule umsatteln, kann sie sich anhand dreier idealtypischer Modelle orientieren und sich für das Ganztagsschulprogramm des Senats bewerben. Die Idealtypen sind als orientierende Vorschläge zu sehen. Den Schulen bleibt individueller Gestaltungsspielraum. Vereinfacht dargestellt unterscheiden sich die Prototypen in ihrem Grad der Verpflichtung bei den ergänzenden Angeboten. Soll heißen: In einer vollgebundenen bzw. teilweise gebundenen Ganztagsschule ist die Teilnahme an dem Nachmittagsprogramm für die Schüler und Schülerinnen obligatorisch. In einer offenen Ganztagsschule hingegen, ist nur ein Teil des Zusatzangebots je nach Gusto der jeweiligen Schule Pflicht und die Teilnahme an ergänzenden Angeboten freiwillig. Die Schüler müssen sich jedoch am Anfang eines Schulhalbjahres entscheiden, danach ist die Teilnahme an den gewählten Kursen verbindlich. Der ideale Schultag sollte laut dem Ganztagsschulprogramm für die Freie und Hansestadt Hamburg von acht bis 16 Uhr dauern, freitags läutet die Schulglocke um 13 Uhr das Wochenende ein.

Offen vor Ort. An konkreten Zielsetzungen des Hamburger Senats zum Thema Ganztagsschule mangelt es in der Mitteilung nicht, nach Hinweisen zur Umsetzung sucht man allerdings vergeblich. So viel Ungewißheit in Bezug auf die tatsächliche Gestaltung der zweiten Spielhälfte, also den so genannten »ergänzenden Angeboten«, dämpft jedoch nicht die Freude der Schulleiterin Maria-Ann Kuntze über den baldigen Beginn.

Die ambitionierte 62jährige leitet seit bereits 17 Jahren eine kleine Grundschule mit 230 Schülern im Stadtteil Steilshoop. Bereits 1998 hatte sie einen Antrag auf Umwandlung zur Ganztagsschule gestellt und freut sich umso mehr, jetzt endlich nach den Sommerferien durchstarten zu können. Der ausschlaggebende Grund, damals wie heute: »Wir haben uns aus pädagogischen oder vielleicht eher gesellschaftlichen Gründen dafür entschieden«, so Kuntze. »In vielen Familien kümmert man sich überhaupt nicht um die Kinder. Sie werden vor den Fernseher gesetzt, haben riesige Defizite. Sie können nichts, können weder mit einem Ball umgehen, noch wissen sie, wie man richtig spielt«, erläutert die Schulleiterin. Schule solle daher als ein Lebensraum gesehen werden, als »ein Stück Heimat«. Stetes Motto: Alles kann, nichts muß. Das Ideal dahinter: Schüler und Schülerinnen sollen davon sprechen, zur Schule gehen zu dürfen statt zu müssen. Kuntze ist der Überzeugung, daß Freiwilligkeit Rückwirkungen auf das Lernverhalten hat. »Ob Kinder lernen müssen oder Kinder lernen dürfen – das ist ein Riesenunterschied. Wenn sie etwas freiwillig auswählen dürfen, sind sie ganz anders motiviert«, begründet sie ihren Entschluß für das Modell einer offenen Ganztagsschule.


Eine Entscheidung, die auf langjähriger Erfahrung beruht. Denn genau genommen macht die Schule seit etlichen Jahren nichts anderes als das, was der Senat jetzt als das Aufgabengebiet einer offenen Ganztagsschule definiert. Bereits seit 2002 bietet die Schule nach dem Proregio-Konzept (Projekt Regionale Kooperation von Schule und Jugendhilfe) für die Klassen 3 und 4 ein freiwilliges Nachmittagsprogramm an. Nach einem kostenpflichtigen gemeinsamen warmen Essen oder einem unentgeltlichen »kalten Buffet« beginnen ab 14.30 Uhr Freizeitangebote oder Förderkurse. Wer mag, kann zum Mittag nach Hause gehen und erst zum gewählten Angebot zurück in die Schule kommen. Ob Märchenstunde, Computer, Tischtennis oder Deutsch für Ausländer – die Bandbreite an möglichen Aktivitäten ist groß. Ebenso groß wie die Beteiligung: Fast 90 % aller Schüler und Schülerinnen nehmen die Angebote wahr. Einige kommen täglich, andere nur einmal in der Woche. Das ein oder andere Kind muß allerdings erst zu seinem Glück überredet werden: »Bei Schülern mit Bewegungsdefiziten gehen wir manchmal direkt auf die Eltern zu und legen ihnen nahe, daß ihr Kind mindestens einmal in der Woche einen Sportkursus belegen sollte«, so Kuntze. »In der Regel wird das akzeptiert«, erläutert sie weiter.

Durchgeführt wird das Programm nicht nur von Lehrern oder Paukern im Ruhestand, sondern auch von Eltern, Pädagogikstudenten und Sonderpädagogen. Der Umfang des Angebots ist abhängig von den Ressourcen – in personeller wie finanzieller Hinsicht: »Ich muß immer zusehen, daß ich Leute bekomme, die möglichst wenig kosten oder ehrenamtlich arbeiten. Je mehr Betreuer wir haben, desto mehr Angebote können wir machen«, erzählt Kunzte.

Förderung. Nicht nur in punkto Beteiligung hat Kuntze Positives zu vermelden, auch im Hinblick auf das eigentliche Ziel der Maßnahmen, nämlich die Lernförderung, weiß sie nur Gutes zu berichten: »Wir haben zum Beispiel mal einen Knobelkurs in Mathematik gemacht. Gemeinsam und spielerisch ist man an schwierige Aufgaben herangegangen. Das fanden die Kinder ganz toll und haben eine Menge gelernt«, so Kuntze. Im regulären Schultag wäre so eine Förderung schwer möglich. »Auf der einen Seite ist da der Stoff aus dem Lehrplan, der abgearbeitet werden muß. Und auf der anderen Seite muß man mit den Kindern rausgehen und spielen, weil sie übertrieben gesagt, gar nicht wissen wie spielen geht«, erklärt die Schulleiterin.

Dank der positiven Erfahrungen der letzten Jahre sieht Kuntze der Zukunft optimistisch entgegen. Bis es soweit ist, gibt es allerdings noch so einiges zu regeln. Bislang fehlt zur Umrüstung auf Ganztagsbetrieb nämlich so ziemlich alles: ein ausreichendes Kursprogramm, passende Räumlichkeiten, Personal und Kooperationspartner. Doch neben der richtigen Baustelle, nämlich unter anderem der Erweiterung der Schulküche, wird auch an allen anderen offenen Problemen kräftig gearbeitet. In Arbeitsgruppen und im Elternrat werden Ideen gesponnen und gesammelt. Fast noch wichtiger als produktive Brainstormings sind Kontakte. Ob Hausmeister oder Eltern, hier sind alle gefragt: »Unsere Erfahrung zeigt, daß es über Kontakte am besten läuft: wenn irgendwer irgendwen irgendwie kennt«, so Kuntze über die Schwierigkeit, mögliche Kooperationspartner zu finden.

Das Potential der ortsansässigen Sportvereine hat die Schulleiterin unlängst erkannt. Eine Kooperation mit dem Hamburger Sportbund besteht bereits. »Durch die gemeinsame Nutzung der Schulsporthalle hat sich irgendwann die Zusammenarbeit ergeben«, erzählt Kuntze. Der SC Oberalster zum Beispiel bittet die Kids zum Tischtennis. »In der Regel werden die Kurse gerne angeboten. Einige erhoffen sich, daß aus den Kindern mal spätere Mitglieder werden«, erklärt sich die Schulleiterin die Motivation der Vereine.

Kooperationspartner gesucht. Insgesamt sieht der Senat vor, daß 40 % des Nachmittagsangebots mit »außerschulischen« Kräften bestritten werden sollen. Ganz oben auf der Wunschliste stehen Jugendverbände: »Interessierte sollen sich melden. Gerne! Immer! Ich freu mich über jeden, der hier anruft. Reden kann man über alles. Dann muß man sehen, ob es paßt«, so die engagierte Schulleiterin. »Die Hauptsache ist dabei, daß diese Menschen gut mit Kindern umgehen können. Es müssen nicht zwangsläufig gelernte Erzieher sein«, ergänzt der erfahrene Schulvorstand, der eigentlich bereits an die Pensionierung gedacht hatte. »Ich habe immer erzählt, wenn es dieses Jahr nichts wird mit der Ganztagsschule, dann höre ich auf«, schmunzelt Kuntze, »jetzt muß ich wohl noch etwas bleiben.« Wer weiß, wie der Hamburger Senat von dieser »Drohung« erfahren hat. Eines steht auf jeden Fall fest: Den Kindern in Steilshoop blüht ab Sommer 2005 jedenfalls so einiges an Abwechselung im Schulalltag!


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*Quelle: Senatsmitteilung an die Hamburgische Bürgerschaft, Drucksache 18/525, »Rahmenkonzept für Ganztagsschulen in Hamburg« vpm 21-06.2004