Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2013, Rubrik Titelthema

Vom zweckmäßigen und unzweckmäßigen Literaturlesen

Ein Problemaufriss in einem Bereich zwischen Unterhaltungs- und Bildungsanspruch

Von Dr. Maik Philipp, Fachhochschule Nordwestschweiz

Literatur lesen. In diesen zwei Wörtern liegen Spannungen. Sie betreffen pädagogische Hoffnungen hinsichtlich literarischer Bildung einerseits und der Lesemotivation sowie dem Verhalten von Jugendlichen andererseits. Aus historischer Sicht gibt es sehr unterschiedliche Bewertungen des Literaturlesens. Gegenwärtig erleben junge Lesende bei ihrer Lektüre ein eher konfliktreiches Verhältnis von Schule und Freizeit. Dieser Essay streift ein paar Probleme aus einem Terrain zwischen überladenem Hochwertbegriff und alltäglicher Unterhaltungslektüre.

1. Lesen – ein Hochwertwertbegriff, zumal wenn »Literatur« ins Spiel kommt

1.1 Lesen zum Vergnügen – damals und heute in der pädagogischen Diskussion


42 Prozent. Es war einer der vermutlich am meisten diskutierten Befunde der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000 – neben dem vergleichsweise unterdurchschnittlichen Abschneiden deutscher 15-Jähriger bei der Lesekompetenz im »Land der Dichter und Denker«. 42 Prozent der im Jahr 2000 getesteten Jugendlichen gaben an, nicht zum Vergnügen zu lesen. Neun Jahre später lag der Anteil vergleichbar hoch (41 Prozent). Dieser hohe Anteil wird sogar von den sonst sehr zurückhaltenden PISA-Autoren als echtes Problem bezeichnet.
Hätte man PISA gut 200 Jahre früher durchgeführt, wäre die Reaktion auf die 40-Prozent-Marke vermutlich ganz anders ausgefallen. In der Zeit der Aufklärung – jener Phase, in welcher der gebildete, selbstständige, nützlich denkende, mündige Mensch das Ideal war – war das Lesen zum Vergnügen gerade dem damals aufstrebenden Bildungsbürgertum suspekt. Der Pädagoge Joachim Heinrich Campe etwa schrieb im Jahr 1789 Folgendes: »Es kann mir nicht einfallen, das Lesen als etwas Schädliches ohne Einschränkung verwerfen zu wollen. Aber so wie der Genuß der Speisen für den menschlichen Körper zerstörend wird, wenn man theils zu viel, theils zu vielerlei, theils wirklich ungesunde Nahrungsmittel zu sich nimmt, so kann und muß auch der Genuß der geistigen Speisen, ich meine das übertriebene und das unzweckmäßige Lesen, zu einer für das Wohlbefinden unsers Geistes sehr verderblichen Sache werden.«

1.2 Das Lesen und der Kulturpessimismus

Man muss sich das einmal vor Augen halten: Binnen zweier Jahrhunderte ändert sich die pädagogische Wertung des gleichen Phänomens im 180-Grad-Schwenk. Für unzweckmäßig hält das freiwillige, ›übertriebene‹, ›unzweckmäßige‹ Lesen in der Freizeit inzwischen niemand mehr. Im Gegenteil weiß man heute, dass dieses damals als unnütz oder als gar gefährlich geltende Lesen – vor allem von unterhaltender Literatur – sogar sehr wichtig ist. Man kann sogar sagen, dass es für gelingende Lesekarrieren einen echten Motor bildet und das eher zu wenige, von außen zweckfrei wirkende Lesen ein Problem darstellt. Das wird gerade in den USA deutlich, wo die Studien zu den »summer reading losses« – den Verlusten in Lesefähigkeiten mangels Leseaktivitäten während der Sommerferien – eine vergleichsweise lange Tradition haben. Mit dem freiwilligen Lesen automatisieren sich mentale Prozesse, wächst das Weltwissen und erhöht sich der Wortschatz – und speist und verstetigt sich die Bereitschaft, sich mit Texten und ihren Inhalten überhaupt auseinanderzusetzen.
Offen gestanden, wäre die Schule ziemlich arm dran, würden sich Kinder und Jugendliche nicht freiwillig und zuungunsten anderer Optionen in der Freizeit mit dem Lesen befassen. Und dass der Umgang mit jeweils neuen medialen Phänomen und Gebrauchsweisen zunächst angefeindet wird, darf man durchaus als historische Konstante der Menschheit betrachten – siehe die aktuelle Diskussion über Medienverwahrlosung und die angeblich aggressionsförderlichen gewalthaltigen Computerspiele. In den 1980er Jahren war das Fernsehen der erklärte Feind, an dem sich die Menschheit angeblich zu Tode amüsieren würde. Auch im 18. Jahrhundert gab es eine hitzige Debatte über die Lesesucht und Lesewut, die mit dem Lesen literarischer Texte zu tun hatte. Die »Argumente« wie jenes aus dem Campe-Zitat oben sind die gleichen, die man heute bei Autoren wie Manfred Spitzer (»Vorsicht, Bildschirm!«) nachlesen kann. Und es ist bezeichnend, dass seine Warnschrift mit »Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft« untertitelt ist. Bei Campe wird ebenfalls die (geistige) Gesundheit als gefährdetes Gut problematisiert. Nur: Regt sich heute jemand ernsthaft darüber auf, dass die Lektüre von Stephen-King-Romanen zu Amokläufen führen könnte? Oder kommt es noch zum Werther-Effekt, also jenen auf die Goethe-Publikation zurückgehenden Freitoden, weil einige Menschen damals den fiktiven Roman als reale Handlungsaufforderung lasen? Eben. »Die Leiden des jungen Werthers« gehört inzwischen sogar in den schulischen Kanon (zu dem dann unten mehr).

2. Zum literarischen Lesen gelangen

2.1 Wie kommen Heranwachsende zunächst zur Literatur?


Dass sich die Sichtweise aufs zweckfreie literarische Lesen so stark gewandelt hat, wie es eben angedeutet wurde, hat mit einem sozialen Wandel zu tun. Und man muss zunächst einmal festhalten, dass das früher bekämpfte Lesen von Literatur und Büchern historisch gesehen ohnehin ein Privileg der Gebildeten war. Exakt jener Schicht also, die darüber entscheidet, was gesellschaftlich als erwünscht gilt. Lesen ist und war ein soziales und zum Teil elitäres Phänomen, und es ist eines, das so hochnormativ besetzt ist, dass sich auch der PISA-Schock erst darüber wirklich erklären lässt.
Apropos »sozial«. Obwohl hier und da immer noch das Bild vom einsamen Leser bzw. der einsamen Leserin vorherrscht und Lesen als einsame Tätigkeit gilt, muss man sich nur auf die Website einer Lokalzeitung und dort in den Leserkommentar-Bereich bei den Online-Angeboten begeben, um sich eines Besseren belehren zu lassen. Auch in Sachen Literatur ist das Internet eine Fundgrube. Es gibt zahllose Websites, auf denen sich Fans der Harry-Potter-Romane und der Twilight-Saga (um nur zwei besonders prominente Beispiele anzuführen) informieren, austauschen und im Falle der Harry-Potter-Übersetzungen diese aufs Genaueste überprüfen und damit dem Carlsen-Verlag eine Art kostenloses Lektorat boten. Der Verlag verbesserte übrigens sogar zum Teil den monierten Text in Folgeauflagen.
Das Phänomen, dass ein sozialer Austausch über Texte stattfindet, nennt die Lesesozialisationsforschung »Anschlusskommunikation«. Anschlusskommunikation ist nichts anderes, als jeder dem Lesen vorgängige, begleitende oder folgende Austausch mit anderen Personen. Das kann im Internet passieren, viel häufiger dürfte es aber in den alltäglichen Interaktionen erfolgen. Wenn eine Mutter ihrem Kind aus einem Bilderbuch vorliest und beide über den Text sprechen, ist das eine der typischsten Situationen der Anschlusskommunikation über Texte in bildungsnahen Familien. Als besonders günstig gilt es, wenn die Mutter auf das Kind eingeht und mit ihm gemeinsam lustvoll den Text liest und offen für die Beiträge des Kindes ist. Man glaubt, dass dies das Fundament einer soliden Lesemotivation ist, die dabei hilft, den anspruchsvollen Schriftspracherwerb in der Primarstufe zu bewältigen. Kinder, die die für sie lohnende Erfahrung gemacht haben, dass Geschichten spannend, lustig, traurig, überraschend etc. sind, sind vermutlich aus motivationaler Sicht gut gerüstet für den komplexen Umbau des Gehirns, den das Lesenlernen mit sich bringt. Solche Kinder meistern vermutlich die frustrierende Erfahrung besser, dass Lesen zunächst langsam und anstrengend ist und alles andere als Spaß macht.

2.2 Von Bücherwürmern und Leseratten, die sich durch Tausende Wörter im Jahr fressen

Ist das Lesen ausreichend flüssig geworden, bereiten die unterhaltsamen Geschichten weniger Mühe. Nun kann das Kind den Geschichten selbstständig frönen – und sucht sich im besten Fall immer anspruchsvollere Texte. Die Textmenge, die Kinder dabei bewältigen, lässt einen fast ehrfürchtig werden. In einer schon älteren Studie aus den USA wurde geschätzt, wie viele Wörter Kinder pro Jahr lesen. Kinder, die pro Tag gut 20 Minuten Texte in Bücher lesen, kommen auf über 1,8 Millionen Wörter. Kinder, die drei Minuten pro Tag in einem Buch lesen, schaffen nur 21.000 (zum Vergleich: Das ist das Siebenfache dieses Artikels). Von der Lesezeit unterscheiden sich die beiden Gruppen nur um den Faktor 7, bei der Wortmenge um den Faktor 87.
Gerade bei Kindern ist beobachtbar, dass sie in Geschichten abtauchen und völlig von ihnen absorbiert werden. Das hielt man zu Zeiten Campes für gefährlich, aber dieses emotional intensiv erlebte Lesen scheint eine der produktivsten und möglicherweise sogar für den Regelfall nötigen Phasen von gelingenden Lesekarrieren zu sein. Wie es sich für jedes goldene Zeitalter gehört, endet es mit einer Krise. Die Lesebiografie-Forschung hat in schriftlichen Selbstauskünften von Mittelschichtangehörigen einen Zeitkorridor zu Beginn der Jugend gefunden: die Buchlesekrise, die anscheinend das literarische Lesen besonders betrifft. Was der konkrete Auslöser ist – vermutlich sind es mehrere –, weiß man noch nicht. Aber das Leseverhalten erfährt zum Teil eine Zäsur – und nicht nur das Leseverhalten.

2.3 Die Lesekrise zu Beginn der Jugend – fürs Lesen Chance und Risiko zugleich

Manche Lesekarriere endet nun, und selbst echte Bücherwürmer werden dauerhaft lese-
abstinent. Andere wenden sich anderen Lesemedien und Genres zu, und ein anderer Teil findet wieder zum Literaturlesen zurück. Jede Krise ist aber nicht nur per se schlecht. In der Lesekrise zu Beginn der Jugend liegt auch die Chance, völlig neue Rezeptionsweisen, Interessen und Identifikationsformen zu entdecken und auszuleben – und das geschieht auch. Beispielsweise tauchen Personen nicht mehr in die Geschichte ab und identifizieren sich nur vollständig mit einer Person, sondern schätzen zunehmend Ambivalenzen und achten mehr auf Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen der realen Welt und der der fiktiven. Außerdem scheint es eine stärkere Zuwendung zu Sachtexten verschiedenster Art zu geben.
Die Lesekrise, die auf den ersten Blick unerwünscht aussieht (und im Falle der dauerhaften Abwahl des Lesens auch wirklich problematisch ist), offeriert auf den zweiten Blick die Chance zur Weiterentwicklung. Man mag es bedauern, dass vielleicht Sachtexte oder digitale Texte zum dominanteren Lesestoff werden, aber man muss auch (hinter)fragen, warum man das bedauern sollte. Es mag sein, dass zwar zwei Fünftel der Jugendlichen nicht zum Vergnügen lesen. Das bedeutet jedoch erstens nicht, dass sie überhaupt nicht lesen. Und es bedeutet zweitens ebenso wenig, dass die Lektüregewohnheiten grundsätzlich negativ zu bewerten wären. Genau genommen weiß man aus der ohnehin buch- und literaturlastigen Forschung noch viel zu wenig darüber, um hier auch nur vorläufig irgendwas seriös bewerten zu können.
Wenn sich Lesestoffe, Rezeptionsweisen und Identifikationsformen im Jugendalter ändern, dann tut das möglicherweise auch die Lesemotivation. Lesemotivation bezeichnet die Absicht, einen Text (nicht) zu lesen. Die Absicht kann ganz unterschiedlicher Natur sein. Die Lesemotivationsforschung hat jedenfalls eine grundsätzliche Zweiteilung vorgenommen. Liegt der Zweck des Lesens innerhalb der Aktivität, spricht man von intrinsischer Motivation. Dabei kann man entweder am Textthema interessiert sein, so wie Sie, wenn Sie sich für die Lektüre dieses Artikels entschieden haben, oder aber das Lesen als Tätigkeit verlockt. Der Nervenkitzel bei Thrillern, das Mitfühlen bei einer tragischen Geschichte, das Lachen bei einer amüsanten Story – all das sind Erlebensqualitäten, die insbesondere das Lesen von Literatur offeriert. Man nimmt deshalb auch in der Forschung an, dass diese Form der intrinsischen Lesemotivation besonders stark mit dem Lesen von Literatur zusammenhängt. Vermutlich viel häufiger – gerade in der Schule – lesen Jugendliche aber nicht intrinsisch motiviert. Beim extrinsischen Lesen liegt der Grund für die Lektüre außerhalb des Lesens. Man will mit dem Lesen etwas erreichen (zum Beispiel Antolin-Punkte, eine gute Note) oder vermeiden (schlechte Noten, Bestrafungen). Und auch hier ist es möglich, dass sich das auf das literarische Lesen beziehen lässt, weil zum Beispiel in der Schule ein Test ansteht.
In- und extrinsisch motiviertes Lesen werden häufig als Kontrastpaar begriffen, bei dem extrinsisch motiviertes Lesen als eher problematisch gilt. Man muss nur in den eigenen Alltag schauen, in dem laut neuesten Studien jeder von uns Erwachsenen rund vier Stunden täglich etwas liest, und sich fragen, wie viel Zeit man dies wirklich intrinsisch motiviert tut. Es ist entsprechend weniger die Frage, wie gern oder interessiert man liest, sondern ob man es einigermaßen freiwillig tut und dabei versucht, einen Text tief zu verstehen. Das erscheint immer dann besonders gut zu glücken, wenn man erstens davon überzeugt ist, dass der Text bzw. das Lesen sinnvoll ist, und zweitens den Eindruck hat, man könne aus eigenem Antrieb heraus einen Text tatsächlich bewältigen. Das kann auch bei extrinsischer Lesemotivation der Fall sein. Es gibt zum Beispiel ein Lesen, bei dem jemand gezielt liest, um sich im Verstehen literarischer Texte zu verbessern. Das ist zwar per definitionem wegen des außerhalb des Lesens liegenden Zwecks extrinsisch motiviertes Handeln. Doch es ist ein vermutlich lernförderliches Verhalten, weil jemandem das Lesen so wichtig ist, dass er oder sie das Lesen aus eigenem Wunsch heraus steigern will.

3. Literatur und Bücher in der Jugend lesen – was sagt die Forschung?

3.1 Welchen Beitrag leistet die Schule?


Die Lesekrise zu Beginn der Jugend wird wie schon angerissen unterschiedlich gedeutet. Zunächst einmal ist aber festzuhalten, dass sie anscheinend ein Regelfall in der Lesesozialisation von tendenziell bildungsnahen Jugendlichen ist (über die von bildungsfernen Heranwachsenden weiß man praktisch wenig). Entscheidender als das Auftreten der Krise ist die Frage, ob sie produktiv überwunden wird. Und hier kommt die Schule ins Spiel.
Es gibt in der Forschung einige Vermutungen, warum der vielfach berichtete Schereneffekt zwischen steigender Lesekompetenz und sinkender günstiger Lesemotivation gerade zu Beginn der Sekundarstufe auftaucht. Dabei gibt es vermutlich nicht nur eine soziale Ursache, sondern gleich mehrere. Erstens bekommen Heranwachsende zunehmend leistungsbezogene Rückmeldungen, sodass die weniger leistungsstarken Jugendlichen durch Vergleiche mit anderen erleben müssen, dass sie nicht so kompetent sind wie andere. Zweitens können Lehrerhandlungen wie das öffentliche Betonen der Unterschiede (etwa durch Bekanntgeben der Noten im Klassenverband) diese Vergleiche noch verstärken. Drittens ist es ungünstig, wenn Heranwachsende offensichtlich leistungsbasiert gruppiert werden, sodass bessere und schlechtere Schüler sich der Differenz noch stärker bewusst werden. Viertens kommen weitere Aspekte beim Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe zum Tragen: So verändern sich die unterstützenden Freundesnetzwerke, die Schulen sind größer und die Beziehungen zu den Lehrkräften, die viele Klassen zu unterrichten haben, werden unpersönlicher. Zudem legt die Sekundarstufe mehr Wert auf Disziplin und Kontrolle, sodass die Entscheidungsmöglichkeiten der Jugendlichen eingeschränkt sind.
Ein fünfter Problembereich zeichnet sich im Unterricht selbst ab. Dort ist nachweislich das Verhältnis von motivationsförderlichen und hinderlichen Verhaltensweisen von Lehrpersonen in der Sekundarstufe anders. Amerikanische Studien konnten zeigen, dass im Vergleich erster bzw. dritter und sechster Klassen in der Primarstufe dreimal so viele Verhaltensweisen wie in der sechsten Klasse beobachtet wurden, die etwas mit Motivation zu tun hatten. Auch das Verhältnis änderte sich: Bei jüngeren Kindern kamen auf eine motivationshinderliche Lehrerhandlung drei förderliche. In Klasse 6 betrug das Verhältnis 1:2. Es sind also einerseits Abnahmen in der absoluten Adressierung der Schülermotivation nachweisbar und andererseits auch relativ wenige förderliche Aspekte im Verhältnis zu den hinderlichen. Wenn man dann noch hinzunimmt, dass durchschnittliche High-School-Schüler nur sechs Prozent der allgemeinen Unterrichtszeit mit Lesen verbringen (umgerechnet weniger als drei Minuten in einer deutschen Schulstunde), erahnt man, welchen Stellenwert der Erhalt des motivierten Lesens im Unterricht de facto hat. Wie schon gesagt: Dies geschieht in einer Phase, in denen die ursprünglich lesemotivierten Jugendlichen eigentlich am meisten auf Hilfe angewiesen sind.

3.2 Der Literaturunterricht als »Totengräber der Leselust«?

Die deutsche Schule scheint mit deutlichen Schulformunterschieden sehr Unterschiedliches zu tun, wie es die DESI-Studie fürs neunte Schuljahr demonstrierte. In der Hauptschule dominiert ein anregungsreicher, hinsichtlich der Lernkontrolle systematischer Unterricht, der sich aber wiederum stark auf Sprachformales konzentriert. Im Gymnasium hingegen herrscht ein literaturbezogener Unterricht vor, der jedoch ausgesprochen anregungsarm ist. In beiden Schulformen sieht es daher nicht so aus, als würde das literarische Lesen auf günstige Art gefördert werden.
Mancher Literaturdidaktiker findet für den schulischen (eher gymnasialen) Umgang mit Literatur drastische Worte, in der auffallend oft das Begriffspaar »Literaturunterricht« und »Tod« auftaucht. »Lesezwang, Interpretationspflicht und schulischer Kanon treten als Totengräber der Leselust auf den Plan«, schreibt Werner Graf etwa mit Blick auf die intrinsische Lesemotivation. Das Unbehagen betrifft Methoden und Lesestoffe, die wenig mit den Interessen und auf Unterhaltung abzielenden Freizeitlektüren der Jugendlichen zu tun hat. Dieses oftmals unterstellte Spannungsverhältnis zur sezierenden Analyse angestaubter, sprachlich komplexer Texte mit Richtigkeitsabo bei der Lehrperson unter der Zielstellung der abprüfbaren Leistung ist aus Sicht der Motivationspsychologie ein echtes Problem. Mehr noch: Es ist wirklich das Letzte, was man tun sollte, wenn man möchte, dass sich Personen engagiert mit einem Gegenstand auseinandersetzen. Über die zwei Fünftel der 15-Jährigen, die bei PISA angeben, sie läsen nicht zum Vergnügen, muss man sich manchmal eigentlich nicht wundern.

3.3 Verdrängungen und Rückgang des Lesens in der Freizeit?

Und dann kommen noch die Bildschirmmedien hinzu, die manch konservativem Leseförderer suspekt sind. Es gab und gibt immer wieder Befürchtungen, dass Bildschirmmedien das Lesen von Literatur verdrängen könnten. Aus vorliegenden Studien lässt sich eine solche Befürchtung weder rechtfertigen noch Handlungsbedarf ableiten; jedenfalls ist mir keine einzige Untersuchung bekannt, die eindeutig genug Verdrängen nachweist. Im Gegenteil scheint es, dass Jugendliche heute mehr denn je lesen und dabei ihre Zeit für jeweils verschiedene mediale Aktivitäten aufteilen. Es ist ein echter Glücksfall, dass in Deutschland seit inzwischen 15 Jahren jährlich die Studie »Jugend, Information, (Multi-)Media« (JIM) mit 12- und 19-Jährigen durchgeführt wird. In dieser repräsentativen Studie wird auch nach dem Medienverhalten im Sinne der Häufigkeit erfasst. Laut JIM hat sich seit 1998 nahezu eine Vollversorgung und alltägliche Nutzung von Computer und Internet ergeben. Die Frage ist, ob das zuungunsten des Freizeitlesens erfolgt ist.
Das nachfolgende Diagramm mit drei Printmedien zeigt, dass sich in den 15 Jahren die Zeitungslektüre um ein Drittel und die Zeitschriftenlektüre um die Hälfte verringert hat. Hier scheint sich eine Verschiebung zugunsten des aktuelleren Internets zu ergeben. Die Buchlektüre hingegen blieb stabil. Rund zwei Fünftel der Jugendlichen lesen mindestens wöchentlich Bücher, vermutlich auch belletristische, aber danach fragt man bei JIM nicht genauer. Fast wirkt es, als würde beim fortschreitenden Trend am Ende doch das Buch noch zum am häufigsten genutzten Printmedium bei Jugendlichen avancieren, ohne dass sich an der eigentlichen Nutzungsfrequenz etwas substanziell geändert hätte. Wenn sich Printmedien inzwischen warm anziehen müssen, sind es eher »Bravo« und Co.


4. Schlussbemerkung


Das Lesen von Literatur bei deutschen Jugendlichen ist ein normativ besetzter Bereich, da Literatur bzw. genauer: ein bestimmter Teil der Literatur – zum Teil völlig unhinterfragt – als wertvoll gilt. Dabei ist das Lesen von Literatur etwas, das noch vor gut 200 Jahren manchem Bildungsbürger ein Dorn im Auge war. Heute ist das genau andersherum: Wenig zu lesen, gilt als gesellschaftlich höchst unerwünscht.
Das literarische Lesen ist genau wie die Motivation, sich mit Literatur bzw. Texten allgemein auseinanderzusetzen, nicht angeboren. Wir erwerben beides in sozialen Kontexten, primär der Familie, aber auch in der Schule und in Freundeskreisen. Sind Wunsch, Verhalten und Fähigkeit in der Grundschule stabilisiert, setzt spätestens in der Sekundarstufe eine »Lesekrise« ein, die aber nicht nur rein negativ zu werten ist. Die Krise bzw. deren produktive Überwindung ermöglicht neue und andere Zugänge zu literarischen Texten. Eindeutig negativer zu bewerten ist, dass die Lesekrise mit einigen ungünstigen Veränderungen im Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe zusammenfällt. Das Hauptproblem ist, dass die hinsichtlich des literarischen Lesens ins Trudeln geratenen Jugendlichen dann am wenigsten Unterstützung in der Schule erhalten, wenn sie sie am dringendsten nötig haben.
Weiter gedacht wäre ein erhebliches Umdenken angezeigt. Dieses Umdenken hat damit zu tun, dass gemäß den IGLU-Studien jedes zweite deutsche Kind am Ende der vierten Klasse entweder nur die als notwendiges Minimum deklarierte Leseleistung (39 Prozent) bzw. nicht einmal diese (15 Prozent) erreicht. Wenn jemand Texte aber nur ungenügend versteht, wie soll diese Person denn gern lesen? Wer das literarische Lesen bzw. das Lesen von Texten allgemein fördern will, wird angesichts solcher Befunde nicht umhin kommen, bis in die hohe Sekundarstufe das Textverstehen zu fördern. Dazu kann man sich trefflich literarischer Texte bedienen, statt sie wie bisher zum sakrosankten Selbstzweck oder zum Unterrichtsgegenstand der literarischen Bildung zu überhöhen, was an den sonst üblichen Rezeptionsweisen und Gratifikationserwartungen von Jugendlichen zum Teil meilenweit vorbeigeht. Dies wäre eine mögliche Konsequenz, mit zwei Fünftel nicht zum Vergnügen lesender 15-Jähriger endlich produktiv umzugehen.