Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3-2008, Rubrik Titelthema

Mr. Mario Goes to Washington

Wie Computerspiele in den Wahlkampf ziehen

Von Sebastian Deterding, Universität Utrecht

»Serious Games«, ernste Spiele, heißt ein neues Genre von Computerspielen, die für Bildung, Schulung, Werbung eingesetzt werden – oder für politische Kommunikation. Modewelle oder Zukunftsmarkt: Dieser Artikel vergleicht Entwicklungen in Deutschland und den USA und gibt Einblick in die Forschung zum Thema.

Das gibt es nur in Amerika: Zum finalen Showdown treffen die beiden Präsidentschaftskandidaten im von Musik und übergroßen Video-Animationen pulsierenden WWE Wrestling-Stadion aufeinander. Den ersten Auftritt hat der Herausforderer. Lässig die Schultern kreisend, federt er auf sein Podest, klatscht die Hände auf beide Knie und springt dabei in eine gespannte Hocke, aus der er die Menge mit einem Kampfschrei anheizt, unterstützt von einer Lafette Feuerwerk in seinem Rücken. Dann die Verteidigerin: Im roten Kostüm, der Laufsteg zum Ring scheint ihr ein Trampolin zu sein. Geschmeidig schlüpft sie zwischen den armdicken Ringseilen aus Gummi hindurch, um dann auf eine Ringecke zu springen und mit ausholender Geste eine Runde Gejohle aus den Zuschauerrängen einzustreichen. Richtig erkannt, das Match heißt Barrack vs. Hillary.

Keine Angst, Sie haben keine absurde Episode des demokratischen Kandidatenrennens für die amerikanische Präsidentschaft 2008 verpasst. Die wörtlich genommene Metapher vom Wahlkampf als Duell verdanken wir dem Spiele-Entwickler THQ Games und seinem Spiele-Editor WWE Smackdown vs. RAW 2008 – sowie gut einem Dutzend weiterer Varianten von Online-Box- und Karatespielen, in denen man Obama und Clinton gegeneinander antreten lassen kann. Wen es nach Abwechslung verlangt, der kann in Presidential Paintball im Weißen Haus Mitbewerber um die Präsidentschaft mit Farbe eindecken. Oder man versucht, als John McCain mit Vetos teure Staatsgefälligkeiten an Lobbygruppen abzuschießen – in Pork Invaders, einem Klon des klassischen Space Invaders, den das Kampagnenbüro des republikanischen Präsidentschaftskandidaten im Juni 2008 auf der sozialen Netzwerkseite Facebook einstellte.

Kandidaten-Karate

Nun gilt der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf zu Recht international als das Laboratorium für neue Formen politischer Kommunikation – und als Messlatte für Qualität und Innovationsreichtum der Wahlspektakel im eigenen Land. Entsprechend liest sich die aktuelle Berichterstattung: Da wird zum einen der souveräne Einsatz von Web 2.0-Angeboten wie YouTube, twitter, Facebook und MySpace in den US-Kampagnen bewundert, stets mit dem Hinweis, dass sich Barrack Obamas Erfolg vor allem den enormen Online-Spenden von Privatpersonen verdankt. Zum anderen wird halb bedauernd, halb spöttisch der im Vergleich altbackene Wahlkampf in Deutschland gegenübergestellt. »Obama online, Ole offline« heißt es dann etwa in der ZEIT. Wenn nun aber Obama und McCain neben Webvideos und Twitter-Meldungen auch Computerspiele lancieren – könnte es da sein, dass jene kleinen digitalen Scharmützel mehr sind als Spielerei im Wortsinne? Sind Videospiele vielleicht gerade dabei, sich als ernst zu nehmendes Medium der Politik zu etablieren? Und wenn ja, wo sind die deutschen Politspiele?

Keine Frage, Computerspiele sind das große »neue« Medium neben dem Internet, und verschmelzen mit diesem zunehmend: Laut einer Studie aus dem Jahr 2004 haben mehr Jugendliche in den USA Zugang zu Spielen als zum Web. Dazu finden sich in der Prime Time von acht bis zehn Uhr abends mehr von ihnen vor der Spielkonsole als vorm Fernseher. Spiele sind die am stärksten wachsende Branche im Medienmarkt: 2007 machte sie allein in Deutschland rund 1,36 Mrd. Euro Umsatz, absehbar werden Videospiele in den nächsten Jahren die Musikbranche an Umsätzen überholen. Online-Rollenspiele und virtuelle Welten wie World of Warcraft und Second Life füllen die Lifestyle- und Feuilleton-Spalten der großen Nachrichtenmagazine, und die Spiele entwachsen langsam dem Klischee der Nischenunterhaltung für männliche pubertierende Nerds: Immer größer, immer älter und immer weiblicher wird die Gemeinde der Computerspieler. Zeitgleich stecken Militär, Hochschulen und Unternehmen weltweit hunderte Millionen in die Erforschung und Entwicklung von Serious Games – dem Einsatz von Computerspielen zu »ernsten« Zwecken wie Training, Bildung und Rehabilitation.

Aus Spiel wird ernst – wortwörtlich

Um nur ein Beispiel zu geben: Der 2002 von der US Army kostenlos ins Netz gestellte Online-Shooter America’s Army gilt als die erfolgreichste Rekrutierungsoffensive seit langem, mit aktuell (April 2008) über neun Millionen registrierten Nutzerkonten. Der Clou: Laut Selbstaussage bietet einem das Spiel die Möglichkeit, einmalig realistisch Ausbildung und Missionen realer US-Soldaten nachzuerleben. Zeigen sich Spieler dabei erfolgreich und steigen in den öffentlichen Highscores auf, werden sie in den Online-Foren zum Spiel von realen Veteranen angesprochen: Ob sie ihr virtuelles Talent nicht auch in reale Taten umsetzen wollen?

America’s Army ist damit zum tausendfach zitierten Modell des kleinen, aber rasant wachsenden Spiele-Genres der »Persuasive Games« geworden – Spiele, die überzeugen wollen, sei es als Werbung, sei es als politische Propaganda – oder als sozialkritischer Kommentar. Das kleine Flashspiel September 12th etwa gibt den genauen Kontrapunkt zu den angeblich unvergleichlich realistischen Einsätzen im Nahen Osten, die man in America’s Army nachspielen und gewinnen kann. September 12th präsentiert nichts als eine namenlose arabische Stadt, in der sich Zivilisten und »Terroristen« (erkennbar an Kopftüchern und Maschinengewehren) tummeln, und lässt dem Spieler genau eine Option: per Fadenkreuz zeitverzögert eine Rakete auf die Stadt abfeuern – oder nicht. Feuert er, vernichtet der Einschlag einige Gebäude, »Terroristen« und Zivilisten. Diese werden von Umstehenden betrauert, die sich daraufhin selbst in »Terroristen« verwandeln. Simpler lässt sich die Moral »Gewalt erzeugt Gegengewalt« wohl kaum illustrieren. Greifbarer auch nicht.

Politisch »gehaltvolle« Spiele sind also durchaus kein Kind des jüngsten US-Präsidentschaftswahlkampfes. Pork Invaders etwa ist ein direkter Klon des schon 2004 erschienenen Spiels Tax Invaders, in dem man als George Bush Steuererhöhungen des damaligen Herausforderers John Kerry abzuschießen hatte. Und tatsächlich wiederholt das Rennen 2008 in vielerlei Hinsicht die Kampagne des demokratischen Außenseiterkandidaten Howard Dean 2004, die für ihren beispielhaften Einsatz neuer Medien vielfach gerühmt wurde. Für diesen entwickelte der Computerspielforscher Ian Bogost 2003 das The Howard Dean for Iowa Game, das in Idee und Ausführung Lichtjahre von den zahllosen Prügel- und Schießspielereien entfernt ist. Die Spieler platzieren sich als Unterstützer Deans in einem Distrikt auf einer virtuellen Karte des Bundesstaates Iowa und üben dort typische Unterstützer-Tätigkeiten aus: von Tür zu Tür gehen oder ein großes Howard-Dean-Schild auf einem öffentlichen Platz schwenken. Dabei unterstützen sich Spieler gegenseitig: Je mehr Spieler sich online im selben Distrikt tummeln, desto leichter können sie Unterstützung für ihren Kandidaten generieren – und so im Spiel unmittelbar die kollektive Macht der Arbeit vieler Einzelner erfahren. So zumindest die Idee. Denn die Gretchenfrage der persuasiven Spiele lautet natürlich: Überzeugen sie wirklich?

Die Verführungen der Simulation

Bogost, dessen Unternehmen mittlerweile an die 20 größere und kleine Spiele entwickelt hat, hat 2007 zu dieser Frage das einschlägige Buch Persuasive Games: The Expressive Power of Videogames auf den Markt gebracht. Spiele, so Bogost, präsentieren Meinungen und Aussagen fundamental anders als Bücher oder Filme. Sie zeigen nicht einfach ein Bild oder schreiben einen Satz, sondern bieten ein Modell, eine Regel, die auf die Aktion eines Spielers eine bestimmte Reaktion folgen lässt. Tust du dies, geschieht jenes; feuerst du eine Rakete, gibt es am Ende noch mehr Terroristen. Und das behaupten Spiele nicht einfach – sie lassen es den Spieler in der Interaktion mit dem Regelmodell selbst erfahren. Spiele könnten so eingefahrene Denkmuster weit wirkungsvoller vermitteln als andere Medien, meint Bogost. So simpel und belanglos ein Spiel wie Tax Invaders scheint: Statt einfach die typisch republikanische Behauptung zu wiederholen, dass Steuern ein feindlicher Eingriff des Staates sind, dessen man sich erwehren muss, lässt es einen dieses Konzept selber im Spiel erfahren.

Bogosts Buch ist mit dieser These nur der jüngste (und bislang umfänglichste) Beitrag zu einer Debatte über ideologische Wirkungen von Computerspielen, die seit nun fast 15 Jahren die Spieleforschung antreibt. Beeindruckt und beunruhigt von den Ähnlichkeiten der Stadtplaner-Simulation SimCity 2000 zu den realen Simulationen, die seinerzeit im Weißen Haus zur Prüfung und Planung des Staatsbudgets eingesetzt wurden, schrieb der Soziologe und Publizist Paul Starr 1994 im liberalen Magazin The American Prospect einen weitsichtigen Essay über The Seductions of Sim, die Verführungen der Simulation. Kommerzielle Simulationsspiele wie SimCity 2000 erschienen ungeheuer realistisch und würden daher oft für wahr genommen (tatsächlich werden sie durchaus im Geschichts- und Politikunterricht verwendet). Das liege vor allem daran, dass die Spieler anders als bei professionellen Simulationen nicht ins Innere, in die Spielregeln und zugrunde liegenden Modelle der Simulation schauen könnten. Dabei stecken sie wie jede Simulation voller Annahmen, Meinungen und politischen Tendenzen. Dass man etwa Steuern in SimCity 2000 nicht über 20% steigern kann, ohne die Bevölkerung komplett aus der Stadt zu jagen und die Wirtschaft in die Knie zu zwingen, ist eine reine politische Behauptung. Wer aber nur das Spiel spielt und nicht das Regelmodell dahinter zu sehen bekommt – oder gar die Möglichkeit erhält, es zu verändern und so die Veränderbarkeit jeder Simulation zu erfahren –, der droht, die »eingebaute« Ideologie eines Spiels unkritisch hinzunehmen.

Klicken durchs Raumschiff Bonn

Zahlreiche Forscher haben diese grundlegende Argumentation Starrs in den Folgejahren kommentiert und weiter verfolgt. Die bekannte Pionierin der Internet-Psychologie Sherry Turkle etwa meinte rund drei Jahre später in Reaktion auf Starr, mit den graphischen Benutzerinterfaces von Spielen und Microsoft Windows seien wir in eine echte »Kultur der Simulation« eingetreten, in der wir am inneren Räderwerk unserer Technik und Gesellschaft gar nicht mehr interessiert sind; wichtig ist nur, dass sie funktionieren. Und der Spieleforscher und Entwickler von September 12th, Gonzalo Frasca, fügte an, Spiele »verstecken« ihre Ideologie nicht nur im Regelmodell, sondern auch in den Spielzielen: Welches Handeln wird vom Spiel belohnt? Welches bestraft?

Leider ist es bislang bei solchen Argumenten und Kommentaren geblieben – empirische Studien zur Wirkung von persuasiven Spielen sucht man vergeblich. Amerikaner, Briten oder auch Niederländer hat das freilich nicht davon abgehalten, »Serious« oder »Persuasive Games« in Broschüren und White Papers als die Zukunft der Kommunikation anzupreisen und zu verkaufen. Heraus kommen dabei meist Simulationen, die die Komplexität eines Politikfeldes anschaulich machen wollen, wie zum Beispiel das britische Spiel FloodSim, bei dem der Spieler die politischen Maßnahmen zur Hochwasserbekämpfung gestalten und anschließend die Folgen beobachten darf.

In Deutschland hinkt der Markt im Verhältnis noch hinterher; die klassische Trennung in U- und E-Kultur, Ernst und Spiel scheint hierzulande immer noch tief verankert. So finden sich beim Rückblick in vergangene Bundestagswahlkämpfe nur die wohl unvermeidlichen Minispiele wie den Kanzlerkampf: Schröder vs. Merkel 2005. Unter kanzlerduell.de konnte man 2002 durch Manipulation der Objekte im gegnerischen Büro den Kandidaten in Missgeschicke bringen. Im gleichen Jahr bot die Wahlschlacht in Moorhuhn-Manier Schröder oder Stoiber zum Abschuss an. Und im Wahlduell 2002 konnte man wahlweise Westerwelle, Fischer, Schröder oder Stoiber zum Kanzler machen, indem man seine Kontrahenten umkegelte. Interessanterweise wird der PDS die Ehre zu Teil, das historisch erste deutsche Wahlkampfspiel zu verantworten: Das satirisch gedachte Point-and-Click-Adventure Captain Gysi und das Raumschiff Bonn erschien 1997 – volle sechs Jahre vor dem ersten US-Präsidentschaftsspiel – und erlebte sogar eine kommerzielle Fortsetzung.

Das aktuell komplexeste und populärste Wahlkampfspiel aus Deutschland ist freilich keine Wahlwerbung (oder Wahlsatire), sondern lässt den Wahlkampf selbst zum Spiel werden: Das Ende 2005 gestartete Multiplayer-Browsergame Power of Politics zählt heute über 36.000 aktive Spieler im deutschen Sprachraum, die mit anderen Parteien gründen, Themen besetzen, Wahlkampftermine abhalten und für Ämter kandidieren. Kern des Spielmechanismus – des Regelmodells – ist Popularität, die sich vor allem danach bemisst, ob man diejenigen Themen
besetzt hat, die in mehr als hundert vom Spiel laufend ausgewerteten realen Nachrichtenmedien gerade die meiste Berichterstattung erhalten. Wahlkampf als rein strategisches Surfen auf Nachrichtenkonjunkturen: Ob sich die Spieler und Macher dieser provokanten »eingebauten« These des Spiels bewusst sind? Die Demokratie-Initiative entscheidend-bist-du.at der österreichischen Regierung offenbar nicht, sonst würde sie wohl kaum als offizieller Medienpartner des Spiels fungieren.

Digitale Rhetorik

In jedem Fall gibt jener implizite Zynismus von Power of Politics noch zu einer anderen Frage Anlass: Ob nämlich Spiele als Wahlkampfmedium ihrerseits mehr erreichen können als ein Surfen auf dem Presse-Echo, das sie heute noch erregen. So lautet die Hauptkritik der kalifornischen Rhetorik-Forscherin Elizabeth Losh an Serious Games. Wenn politische Akteure heute neue Medien einsetzen – sei es das Internet, seien es Spiele –, dann geschehe das mehr, um sich selbst als innovativ darzustellen oder von der inhaltlichen Schwäche des derart digital Verpackten abzulenken. Das Web scheint mit den schon genannten harten Online-Spenden hier seinen Realitätstest bestanden zu haben. Was Spiele angeht, dürfen wir auf kommende Wahlen gespannt sein – in Deutschland und in den Vereinigten Staaten.


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Weiterführende Literatur:
Ian Bogost: Persuasive Games. The Expressive Power of Video Games. Cambridge: MIT Press.
Paul Starr: Seductions of Sim. Policy as a Simulation Game. 1994. Auf: http://www.prospect.org/cs/articles?article=seductions_of_sim
J. Patrick Williams, Jonas Heide Smith (Hg.): The Players' Realm: Studies on the Culture of Video Games and Gaming. Jefferson: McFarland 2007.