Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2015, Rubrik Titelthema

In Ungewissheit groß werden

Zu Besuch bei jungen Flüchtlingen in der Unterkunft Lokstedter Höhe

Von Sally Eshun, Hamburg

Die Umgebung ist ihnen fremd, die deutsche Sprache schwer zu erlernen, beengt sind Wohnräume und Spielmöglichkeiten. Und sie haben alle eine Fluchtgeschichte hinter sich, die viele nachts schlecht träumen lässt. Zudem herrscht Ungewissheit : »Bin ich angekommen? Oder geht die Flucht womöglich weiter?« Minderjährige Flüchtlinge stehen vor Herausforderungen, die ein normales Kinderdasein kaum vorstellbar macht. Erst recht wird es schwer, wenn Jugendliche ihre Pubertätszeit durchleben. Trotzdem überwinden diese Kinder und Jugendlichen viele Hürden und wachsen sogar an ihnen. Und ein ehrenamtliches Engagement, wie das Beispielhafte von Friederike Rehn, die vor Ort als Betreuerin agiert, hilft ihnen dabei.

Das Flüchtlingsheim in der Lokstedter Höhe liegt versteckt hinter einem Supermarkt und großen Büschen. Fast auffällig, wie unscheinbar das Heim in einer Seitenstraße platziert wurde. Abseits vom Niendorfer Quartiersleben und unweit von Hagenbecks Tierpark. Leise ist es trotzdem nicht. Der Straßenlärm der stark befahrenen Hauptstraße hallt durch die weiße Containerflucht und wird von den Metallwänden reflektiert. 200 Plätze bietet das Heim, das als Notmaßnahme vom Träger »fördern und wohnen« errichtet wurde. Es ist eine eigene kleine Welt, die große Millionenstadt scheint weit weg zu sein. Die Wachleute, die als Sicherheitsdienst für das Flüchtlingsheim eingeteilt sind, sprechen aufgeschlossen und freundlich mit den Bewohnern. Hamburger Schnack trifft auf gebrochenes Deutsch mit eritreischem Anschlag. Herzliches Hamburg. Friederike Rehn schließt den Spielcontainer auf, Kinder stürmen herein. Endlich ist »ihr« Container offen. »Wir können den Kinder-Container nur aufschließen, wenn wir mindestens drei Betreuer vor Ort sind. Sonst müssen die Spielstunden oder andere Angebote leider ausfallen«, sagt die 25-Jährige.
Seit neun Monaten ist sie bereits in dem Containerdorf in Lokstedt über den Verein »Herzliches Hamburg« tätig. Die Aktiven unterbreiten verschiedene Angebote für Flüchtlinge wie Deutschkurse oder eben Kinderbetreuung. Friederike ist mindestens dreimal pro Woche vor Ort. Und das ehrenamtlich. Das geht nicht ohne Überzeugung. Friederike ist letztes Jahr nach ihrem Studium in England nach Hamburg zurückgekehrt und war auf Jobsuche. Sie hatte plötzlich viel freie Zeit. »Ich wollte etwas Sinnvolles machen und mich durch die Arbeit für eine gerechtere Welt einsetzen. Das klingt immer so pathetisch«, schmunzelt Friederike, »aber es stimmt.« Ansturm. Es ist kurz nach 16 Uhr. Immer mehr Kinder kommen aus der Schule und gehen in den Spielcontainer. Ein kleiner Junge in orangener Weste zieht Friederike am Shirt und möchte Kicker spielen. Die beiden wechseln zum benachbarten Container. Hier stehen weiße Tische und Stühle, was den Container noch kahler aussehen lässt. »In diesem Raum findet auch der Deutschunterricht statt«, sagt Friederike mit Blick auf ein Poster, auf dem deutsche Possessivpronomen abgedruckt sind. Nur die zwei bunten Kicker lassen den Raum etwas aufleben. Der kleine Junge spielt fokussiert und sichtlich vergnügt mit Friederike am Kicker. Er berichtet nebenbei von seinem Alltag. Von den kleinen Dingen, die er heute erlebt. Schließlich singt er Friederike ein Lied vor, das er neulich erst in der Schule gelernt hat. Sein Deutsch ist sehr schwer zu verstehen. Es ist zumeist ein Nuscheln, aus dem man einzelne Worte heraushört. Friederike aber hört ihm aufmerksam zu und nickt, obwohl sie schon ziemlich erschöpft scheint. »So viele Worte braucht es nicht«, sagt sie nach dem Spiel. Den Kindern ist es wichtig, dass jemand für sie da ist, ihnen zuhört sowie Wärme und Vertrauen schenkt. Immer mehr Kinder finden sich am Kicker ein. Sie sind gut gelaunt, toben und hopsen, necken sich, feuern an oder streiten, wer als nächstes an die Kickerstangen zum Spiel ran darf. Und bei Toren gibt es Jubel – oder mürrisches Grummeln auf der Gegenseite. Ein gewöhnliches Bild von Kindern in ihrer Freizeit. Leere. Ihre Situation lässt sie aber kein gewöhnliches Kinderleben leben. Sie gehen zwar morgens wie jedes Kind in eine Kindertagesstätte oder in die Schule. Ihre Nachmittage sind aber oft wenig strukturiert. Kommen Friederike und ihre Kolleginnen heute oder bleibt der Spielcontainer verschlossen? Müssen die Eltern zum Deutschkurs oder Behördengänge erledigen? Oft sind sie dann mit sich und der kleinen, kahlen Containerwelt allein. Leere und Langeweile. Insbesondere ältere Jugendliche sind immer wieder unzufrieden. Ihnen fehlt der Freiraum, die Launen der Pubertät unter sich auszuleben. Oder Unternehmungen anzugehen, die sie von Altersgenossen in der Schule kennengelernt haben. Sie hocken auf ihrer kleinen Insel und wissen manchmal nicht recht was mit sich anzufangen. Reibereien aus Frust keimen dann schon mal auf. Zudem tragen sie früh Verantwortung. Die meisten sind von den Eltern angewiesen, auf die kleineren Geschwister aufzupassen. Dabei hätten sie so viel, was in ihnen gärt, raus und endlich hinter sich zu lassen.
Traumatisierungen. Denn alle jungen Flüchtlinge haben mehr und vor allem Schrecklicheres erlebt als deutsche Kinder und Jugendliche in ihrem Alter. Egal ob die Flucht in Syrien oder dem Kosovo begann, ihre Geschichten sind lang. Kriegswirren, Verfolgung, Flucht und Angst. All diese schrecklichen Erlebnisse können sie sich nicht erklären und noch weniger verarbeiten. »Viele Kinder und Jugendliche hier sind traumatisiert, aber darüber reden können nur die wenigsten«, berichtet Friederike. Und wenn, gelangen die freiwilligen Betreuerinnen auch an ihre Grenzen. Sie sind Pädagoginnen und keine Kinderpsychologinnen. Im normalen Spielealltag gelingt ihnen der Umgang mit kritischen Situationen. Es passieren auch Streitereien unter den Kindern, in denen man merkt, wer schnell und unkontrolliert handgreiflich wird. »Ich versuche dann zu deeskalieren und meistens beruhigt sich die Sache ziemlich schnell wieder«, bestätigt Friederike. Das Wichtigste, was sie und ihre Kolleginnen durch ihre Betreuung vor Ort erreichen können, ist, dass die Kinder wieder Vertrauen und Geborgenheit empfinden können. Nur wer unbedarft und frei spielen kann, entwickelt sich auch weiter. Und diesen Erfolg ihrer Arbeit kann Friederike beobachten : »Man merkt den Kindern auch an, dass sie sich hier sehr wohl fühlen und das beste aus allem machen.«
Ungewissheit. Belastend ist für Flüchtlinge die ungeklärte Aufenthaltssituation. Ohne es wirklich zu begreifen, erspüren auch Kinder diese Ungewissheit. Denn es färbt von ihren Eltern gewissermaßen ab. Sie merken und fühlen, ob ihre Eltern mental auf gepackten Koffern sitzen oder sich auf die neue Lebensumgebung offen einlassen. Im Containerdorf Lokstedter Höhe ist bei den meisten Kindern und deren Familien nicht klar, wie ihre Reise weitergeht. Es gibt dennoch Ausnahmen. »Im Fall der syrischen Flüchtlinge ist es relativ sicher, dass sie bleiben. Es ist aber genau so sicher, dass die Kinder aus dem Kosovo mit ihren Familien wieder abgeschoben werden«, erläutert Friederike und zeigt auf einen Jungen im Grundschulalter, der weiterhin am Kickertisch spielt. Seine Familie warte nur noch auf die Bustickets. An Schwierigkeiten wachsen. Während Teile der Hamburger Presse immer wieder mal über Einzelfälle von jungen Flüchtlingen berichteten, die kriminall auffällig wurden, sieht die Lage der großen Mehrheit ganz anders aus. Sie streben nach Integration. Trotz ungewisser Zukunft. Jenseits der Schulpflicht angekommen, haben die meisten jungen Flüchtlinge die Notwendigkeit einer Berufsausbildung verinnerlicht und zeigen großes Interesse nach sich bietenden Strohhalmen. Trotz des Inkrafttretens der Bleiberechtsregelung und des 2. Änderungsgesetzes zum Zuwanderungsgesetz, das Türen öffnen soll, ist für die meisten Flüchtlinge mit teils jahrelangem Aufenthalt nach wie vor der Zugang zu Aus- und Weiterbildung wie zum Arbeitsmarkt äußerst schwer. Es fehlt an speziellen Qualifizierungsinstrumenten, damit Flüchtlinge eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt aufnehmen können. Viele Organisationen und Vereine, wie beispielsweise Basis & Woge e. V., unterstützen junge Flüchtlinge mit Berufsberatungen, der Vermittlung von Arbeits- und Praktikumsplätzen und gleichzeitiger sozialpädagogischer Betreuung. Enge. Beschweren mag sie sich nicht gerne. Friederike hat Verständnis für die Stadt Hamburg, die die Zunahme von Asylbewerbern/ innen bewältigen muss. Letztes Jahr hat die Stadt etwa 6.600 Flüchtlinge aufgenommen. Für das Jahr 2015 rechnet die Innenbehörde mit rund 11.000 Flüchtlingen in Hamburg. Friederike kritisiert jedoch die Wohnsituation im Lokstedter Flüchtlingsheim. Die Container sind zu klein für vier Personen. Zudem müssen sich die Bewohner eine ebenfalls kleine Küche teilen. »Da kommt schon öfter Streit auf«, sagt Friederike. Gedacht war die Unterkunft für einen temporären Aufenthalt. Maximal drei Monate sollten Geflüchtete in den Containern wohnen. »Einige Kinder kenne ich schon seit meinem ersten Tag hier.« Also seit neun Monaten. Probleme. Ein freiwilliges Engagement stößt auch immer wieder an Grenzen. Das schwierigste für die Initiative »Herzliches Hamburg« sei, die Kontinuität der Angebote zu gewährleisten. Der Verein braucht mehr Freiwillige und speziell Pädagogen/ innen. Zudem sei es schwer, Freiwillige über einen längeren Zeitraum zu halten. Dabei sei gerade in der Arbeit mit Kindern die Kontinuität der Beziehung zu den Betreuern/  innen elementar. Anknüpfungspunkte. Das Beispiel »Herzliches Hamburg« zeigt, dass viele Wege beschreitbar sind, die Willkommenskultur für junge Flüchtlinge zu verbessern. Denn der Staat kann es mit regulären Angeboten nicht alleine richten. Friederike berichtet, dass es gerade bei jugendlichen Flüchtlingen einen großen Bedarf gibt, aus der Leere und Langeweile des Heimes zu entkommen. Die Angebote können einfach sein, von der Stadterkundung mit Gleichaltrigen über Sport bis hin zu kulturellen Angeboten. Alles Sachen, die Jugendverbände können. Wichtig ist, mal vor Ort hinzugehen und gemeinsame Interessen mit Geflüchteten zu finden. Schließlich sind Jugendverbände keine Dienstleister.