Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 4-2014, Rubrik Titelthema

Stichwort: Pseudotabus

»Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! – BILD kämpft für Meinungsfreiheit.«

Wann publiziert: Die Headline der Bild-Zeitung vom 4.9.2010. Es folgten auf der Titelseite einige »unbequeme Aussagen« wie »Ich will mich nicht dafür entschuldigen müssen, ein Deutscher zu sein« oder »Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein«. Wer derartiges in Deutschland sage, werde »niedergemacht, ausgebuht, abgesägt!« Mit diesem Aufmacher schlug BILD die Brücke zur Debatte um das Buch von Thilo Sarrazin »Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen« und kommentierte: »Wir wollen keine Sprechverbote«.

Hintergrund: Den Aufmacher positionierte BILD auf dem Höhepunkt der medialen Aufregung um die Thesen Sarrazins (SPD), der die »Abschaffung« Deutschlands als Folge demographisch und sozial gegenläufiger Tendenzen ausgemacht hatte: Der Geburtenrückgang, eine wachsende Unterschicht sowie die Zuwanderung aus überwiegend muslimisch geprägten Ländern würden die »kontinuierliche Abnahme des quantitativen Potentials an wissenschaftlich-technischer Intelligenz« bedingen und seien »Zeichen des Verfalls« der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.

»Durfte« man das nicht sagen? Der BILD-Aufmacher war keineswegs ein Tabubruch. Schon vor der Buchpublikation Sarrazins hatten BILD und Der Spiegel in einer offenbar gemeinsamen Kampagne Teile des Buches vorab publiziert. Die Meinungsfreiheit war also nicht in Gefahr. Nirgends wurde nach Zensur gerufen. Allerdings erhielten die Thesen Sarrazins fundamentale Kritik (nachzulesen z.B. im Wikipedia-Eintrag zum Buchtitel: http://de.wikipedia.org/wiki/Deutschland_schafft_sich_ab).

Pseudo-»Tabus« und ihre unredlichen Brecher: Scheinbare Tabus zu errichten und diese sogleich selbst – im Sinne einer unterdrückten Meinungsfreiheit – zu durchbrechen, ist eine typische Masche rechtspopulistischer Meinungsmacher. Sie behaupten, »Klartext« zu reden und eine »unterdrückte Wahrheit« auszusprechen, wohingegen das politische Establishment allein um den heißen Brei herum reden würde. Sie unterstellen also Sprechverbote im Sinne einer Political Correctness: Die herrschende Politik und Mainstreammedien würden auf geradezu verschwörerische Weise »Tabus« errichten, indem sie dem normalen Bürger verböten, das zu sagen, »was wirklich Sache ist«. Diesen Popanz rhetorisch vorausgeschickt, inszeniert sich der Rechtspopulist, oder wie im zitierten Fall die BILD-Zeitung, als Tabubrecher: Stellvertretend für die zum Schweigen verdammte Mehrheit sprechen sie »unbequeme Sachen« offen an, die durch diese rhetorische Figur im Licht einer unterdrückten Wahrheit erscheinen.

Der Mechanismus: »Zunächst wird die eigene politische Position zum Tabu stilisiert. So kann die … kollektive Ablehnung von Tabus aktiviert werden. Dies ermöglicht, etwaige Kritik der eigenen Position zu diskreditieren, indem diese als bloße Verteidigung des vorgeblichen Tabus beschrieben wird. Als solche kann sie, ungeachtet ihres Inhalts, als Angriff auf Pluralismus und Meinungsfreiheit umgedeutet werden. Der Pseudotabubrecher selbst inszeniert sich demgegenüber als intellektuell redlicher Querdenker und mutiger Verteidiger dieser demokratischen Werte … Zweitens zieht ein inszenierter Tabubruch meist ein hohes Maß an Publizität nach sich. … Drittens kann die inhaltliche Position des  Pseudotabubrechers immunisiert werden, indem jegliche Kritik seiner Position in eine Verteidigung des konstruierten Tabus umgemünzt wird.« (s. Hensel u. a., S. 243)

Konklusion: Der »Kampf für Meinungsfreiheit« ist im Fall der BILD-Zeitung unredlich. Denn die Selbstinszenierung als »Tabubrecher« diskreditiert die Gegenposition bereits als ausgemachte Unwahrheit. Eine Kritik am Tabubrecher erscheint in dieser perfiden Logik als unmöglich und wird damit mundtot gemacht. Ein Eintreten für die Meinungsfreiheit sieht anders aus.

Weiterdenken + Weiterfragen: Ob durchinszenierte Parteitage oder mediengerecht aufbereitete Gipfeltreffen von Staatenlenkern in Strandkörben an der mecklenburgischen Ostseeküste: Politik folgt im Medienzeitalter zunehmend der Logik ihrer eigenen Theatralisierung. Das inszenierte Bild wird zur eigentlichen Botschaft. Bereitet eine Politik der totalen Inszenierung damit dem rechten Populismus einen fruchtbaren Boden? (jg)

Quellen: Alexander Hensel, Daniela Kallinich, Katharina Rahlf (Hg.): Parteien, Demokratie und gesellschaftliche Kritik, Stuttgart 2010
Robert Misik, Rechtspopulismus und Medien – eine nicht immer widerwillige Symbiose, www.boell.de/de/demokratie/parteiendemokratie-rechtspopulismus-medien-15225.html