Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2014, Rubrik Titelthema

Erkundungen in Volksdorf

Eine Reportage über Jugendverbände in einer Bildungslandschaft im Umbruch

Von Marie-Charlott Goroncy, Hamburg, in Zusammenarbeit mit Melanie Babst (Recherche), Landesjugendring Hamburg

Eisen auf Eisen. Die U1 fährt sanft an und rollt gen Norden. In den Kurven ruckeln die Sitze, die Räder erzeugen auf den Schienen einen quälenden Ton. Doch die Pendler stört es kaum. Der städtische Trubel hat sie unempfindlich gemacht. Erst als die Waggons aus dem Tunnel schießen, heben sich die ersten Blicke. Die urbanen Klänge versiegen langsam und die ersten Waldstücke tauchen rechts und links der Gleise auf. Bäume reihen sich Ast an Ast – wie als Begrüßungskomitee für die einfahrenden Gäste. Und dann: Haltestelle Volksdorf – Ziel erreicht.
Es ist nur ein kleiner Fleck in Hamburgs Nordosten. Bekannt für seine Buchenwälder, das Museumsdorf, ländliches Ambiente und seine gut situierten Bürger/innen. Volksdorf wird seinem Namen gerecht: Noch immer weht dörfliches Flair durch die sauberen Straßen und Gassen – im Hamburger Randgebiet herrscht verglichen zum lauten, betriebsamen Zentrum der Hansestadt eine entspannte Urlaubsatmosphäre. Aber auch dieser Märchenbuch-Stadtteil muss sich den politischen Entscheidungen Hamburgs anpassen: An den Gymnasien Walddörfer und Buckhorn macht die Jugend nach acht Jahren Abitur und seit Beginn des Schuljahres 2013/14 wird an allen Schulen ganztägig unterrichtet. Wie gehen die Volksdorfer Jugendverbände und Schulen mit den Veränderungen an ihren Schulen um? Wir haben mal genauer nachgefragt.

Verborgen. Wer sich tiefer ins dörfliche Dickicht wagt, kleinen Straßen durch ein grünes Labyrinth folgt und auf der Hälfte des Weges nicht an seinem Orientierungssinn zweifelt, steht irgendwann vor St. Gabriel, der evangelisch-lutherischen Kirche in Volksdorf. Hier werden nicht nur Trauungen, Taufen und Gottesdienste veranstaltet – hier engagieren sich auch junge Menschen selbstlos zum Wohle anderer. Hier findet Ehrenamt statt. Eine Gruppe der Evangelischen Jugend Hamburg (EJH) wurde hier im Jahr 2000 ins Leben gerufen. Seitdem widmen sich zirka 40 Teamer/innen der Organisation und Durchführung der Konfirmanden/innenarbeit. Diese ist umfangreich und das Aufgabenfeld klar umrissen: Jedes Jahr findet das elftägige Konficamp statt, der Konfiunterricht, anschließende Treffen sind obligatorisch und die Teamer/innen bilden ihre eigenen Nachfolger/innen aus. Die unentgeltliche Tätigkeit für die Gemeinde nimmt wertvolle Zeit in Anspruch. Marie ist 18 Jahre alt und macht gerade Abitur. Sie leitet den Jugendtreff und ist Teamerin für Jugendarbeit und Konficamp. Seit fünf Jahren ist sie schon dabei, doch seit sie in der Oberstufe ist, wird ihr Zeitmanagement anspruchsvoller: »Ich habe hier schon in der 9. und 10. Klasse gearbeitet und das war überhaupt kein Problem, weil wir in der Schule nichts zu tun hatten. In der Oberstufe nimmt die Schule jedoch viel mehr Raum ein und ich habe gemerkt, dass ich mich öfter ransetzen muss, anstatt meine Zeit in die Jugendarbeit zu stecken.«

Sie sitzt im Keller der Gemeinde auf einem abgewetzten Ledersofa und blickt auf die Jugendlichen, die nach und nach eintrudeln. Heute findet der offene Jugendtreff, die »Kuhbar«, statt. Woher er seinen Namen hat, erspäht ein/e Besucher/in schnell: Schwarz-weiß gefleckt ragt die Bar, an der Limo und Cola verkauft wird, in den Raum hinein. Um die Bar beim Treffpunkt zu betreuen, müssen auch unter der Woche immer genügend helfende Hände anwesend sein. Dass man für seine Aufgaben in der EJH andere Dinge vernachlässigen muss, weiß auch Hendrikje. Sie ist schon 29 Jahre alt, wird von allen nur Henne genannt und ist die Erfahrenste in der Runde. »Das hat viel mit einer Prioritätensetzung zu tun. Ich glaube, dass Leute, die hier bei uns viel machen, es nicht noch schaffen, im Sportverein zu sein oder so«, stellt sie pragmatisch fest. Diese Erfahrung musste auch Marie machen: »Ich habe längere Zeit ein paar Instrumente gespielt. Der Unterricht dafür und das Üben zu Hause hat jedoch viel Zeit gekostet und ist irgendwann wegen der EJH etwas untergegangen.«

Wer sich engagiert, tut dies aus Leidenschaft und mit ganzem Herzen. Dafür wird Freizeit geopfert und keine Gegenleistung gefordert. Das war schon immer so. Die äußeren Umstände für das Ehrenamt haben sich jedoch verändert. Zeit ist zu einem wertvollen Gut avanciert, und das erschwert die freiwillige Arbeit. Marie stellt fest: »Wir merken die Veränderung: Wenn wir neue Projekte starten, nehmen sich am Anfang alle Zeit. Nach und nach werden es aber immer weniger, weil alle vom Alltag eingeholt werden. Und je weniger Leute mitmachen, desto mehr Stress wird es für die Übriggebliebenen.« Vor allem die Schule würde in den letzten Jahren mehr Zeit in Anspruch nehmen. Henne hat die Entwicklungen der vergangen Zeit begleitet und weiß, dass auch die Ausbildung der Konfirmanden/innen an die neuen Bedingungen angepasst werden mussten. Sie erklärt: »Das Konficamp ist ja eine Antwort auf die ganzen Schulreformen. Das wurde ins Leben gerufen, weil die Schüler nachmittags die Zeit nicht mehr hatten. Deshalb hat man sich darauf geeinigt, auf die Sommerferien und Wochenenden auszuweichen und nicht an dem wöchentlichen oder zweiwöchentlichen Modell festzuhalten.«

Immer mehr Leute tummeln sich jetzt im Jugendkeller. Sie werkeln am Kicker, lehnen am Billardtisch und unterhalten sich. Sie wirken entspannt. Diese Entspannung komme neuerdings viel zu kurz. Henne ist selbst als Lehrerin in der Stadtteilschule tätig. Sie hält vor allem die G8-Regelung für grundlegend misslungen. Statt einer Rückkehr zu G9 fordert sie sogar ein zehnjähriges Abitur: »Ich sehe im Moment einfach keinen Bedarf, die Schule zu reduzieren. Wir haben viele Arbeitslose und eine Gesellschaft, die immer älter wird. Man sollte in der 7. oder 8. Klasse lieber noch ein Spieljahr oder Projektjahr einrichten. Da ist sowieso nichts los in den Köpfen der Kinder.« Sie wirkt verärgert, und es macht sie traurig, dass viele Schüler/innen durch das Raster des aktuellen Systems fallen, obwohl das überhaupt nicht nötig wäre: »Das Hauptproblem ist, dass die Schule für die, die Mehrbedarf haben, kürzer ist als für die, die eh alles schnell begreifen.« Marie schaltet sich ein. Auch sie ist kritisch gegenüber der Schule, denn diese sei an ihrem Bildungsauftrag gescheitert – dieser gehe nämlich über eine reine Wissensvermittlung hinaus: »Im Schulgesetz ist ja verankert, dass Werte vermittelt werden sollen. Das habe ich nun gar nicht erlebt. Diese Werte musst du schon aus dem Elternhaus mitbringen oder eben in der Jugendarbeit erfahren. Die Konfis sind auf dem Camp immer ganz geschockt, was Gemeinschaft alles bedeutet und wie schön man eigentlich zusammenleben kann, solange man sich an ein paar Regeln hält. Für sowas würde ich mir mehr Zeit wünschen.«

Kluft und Halstuch. Zivilgesellschaftliches Engagement findet sich an vielen Orten wieder. Was Jugendliche in ihrer Freizeit auf die Beine stellen können, zeigen immer wieder die Pfadfinder/innen. Der Stamm Bapu des Verbands Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) ist vor kurzem aus Volksdorf nach Bergstedt gezogen. In Volksdorf räumlich eingeschränkt, können sie sich in der evangelischen Gemeinde Bergstedt nun richtig austoben. Der Gruppenraum ist leicht chaotisch. Aber auf eine charmante Art. Da stehen zwei Gitarren in der einen Ecke, ein paar weitere in einer anderen. Ein großer Aluminiumtopf, dessen Inhalt eine ganze Fußballmannschaft satt macht, dient als Tisch. Die gemütliche Couch lädt zum Rumhängen ein. Auf dem selbstgezimmerten Tisch steht Kuchen, an den Wänden hängen selbstgemalte Plakate, selbstgenähte Wimpel und an der Fensterscheibe steht, von draußen gut lesbar, in großen Buchstaben »Stamm Bapu«. Auf der Couch hocken zwei blinzelnde Gestalten. Es ist schon nach 18 Uhr und ihr Tag war lang. Erst als die Tür aufgerissen wird, schauen sie auf. Ein blonder Schopf reckt seinen Hals durch den Türspalt. »Wollt ihr Spaghetti Bolognese haben?« Er schaut fragend in die Runde und ergänzt etwas verärgert: »Meine Kinder haben gekocht und haben jetzt keine zehn Minuten länger Zeit, um ihre Nudeln selbst zu essen.« Die kurzen blonden Haare gehören zu Peer, auch lyto genannt. Er ist 18 Jahre alt und leitet seine eigene Gruppe im Stamm Bapu. Er hat gerade seine Gruppenstunde beendet und ist enttäuscht, weil seine Kinder übereilt nach Hause mussten. In solchen Momenten ist für ihn der erhöhte Druck auf die Schüler/innen direkt spürbar: »Die Kinder konnten keine 15 Minuten länger bleiben, weil sie noch was für die Schule machen müssen.«

Bemerkbar wird die Präsenz der Schule im Alltag der jungen Pfadfinder/innen jedoch nicht nur durch Zeitmangel. »Ich bekomme während der Gruppenstunden mit, dass sich die Kinder 70 bis 80 Prozent der Zeit nur über die Schule unterhalten. Es ist Gesprächsthema Nummer eins! Sie haben auf jeden Fall Druck, und das bekommen wir mit. Dabei sind die Kinder erst in der fünften oder sechsten Klasse – das fängt früh an«, Peer ist über diese Feststellung nicht sonderlich überrascht. Er selbst hat seine eigenen Konflikte mit der Schule ausgefochten. Das formelle Lernen hätte ihm nicht gelegen und er würde die Schule hassen. Bei diesen Worten werden seine Gesichtszüge hart, die eben noch so freundlichen Augen wirken abweisend. Nachdem er die Schule zunächst abgebrochen hat, versucht er nun gerade seinen Hauptschulabschluss nachzuholen. Doch das Erreichen eines offiziellen Bildungsgrades fällt ihm immer noch schwer. Sein größtes Problem dabei sei sein Ehrenamt. Er gibt zu: »Schwierig ist für mich, dass ich die Arbeit bei den Pfadfindern immer den Schulsachen vorziehe, weil es mir einfach mehr Spaß macht.« Und wer selbst mal im Verband tätig war, weiß, dass es meistens mehr Arbeit als Zeit gibt. Laut der Studie »Keine Zeit für Jugendarbeit!?« sind Ehrenamtliche im bundesdeutschen Durchschnitt fast sieben Stunden in der Woche aktiv – diejenigen, die zusätzlich einen Vorstandsposten bekleiden, wenden sogar noch zwei Stunden mehr auf. Ebenso wie Peer würde auch Caro, ebenfalls 18 Jahre alt, gern mehr Zeit mit ihrer freiwilligen Tätigkeit verbringen.

Caro sieht die Auswirkungen der Schule auf Jugendliche kritisch. Sie selbst macht am Gymnasium Buckhorn gerade ihr G8-Abitur und kann aus eigener Erfahrung berichten: »Stressig wird es in den Klausurenphasen. Ich habe eine 40-Stunden-Woche in der Schule. Wenn das Lernen für Klausuren dazu kommt, wird es ganz schön viel. Dann hab ich nicht immer den Kopf, alles gleichzeitig machen zu können. Entspannt ist es hingegen zum Halbjahreswechsel und in den Ferien.« Selbst noch sehr jung, bringt Caro, die bei den Pfadfindern/innen nur als fjaala bekannt ist, ihre aktuellen Beobachtungen auf den Punkt: »Für die Kinder, die wir betreuen und die sich im Wechsel zwischen vierter und fünfter Klasse befinden, ist die Ganztagsschule ein Problem. Da sie erst zwischen drei und vier Uhr nach Hause kommen, essen, Hausaufgaben machen und sich dann noch ihren Hobbies widmen. Sie haben meistens nicht nur die Pfadfinder, sondern auch noch Sport oder Musik. Das ist alles sehr zeitaufwendig. Wenn man wie früher um Ein Uhr Schluss hätte, bliebe viel mehr Zeit für die Pfadfinder oder andere Freizeitaktivitäten.« Sobald die Kinder dann älter werden, sei G8 ein Problem. Durch den erhöhten Druck, der sowohl von den Lehrern/innen als auch den Eltern komme, würden die Schüler/innen sehr viele persönliche Leidenschaften zurückstellen, um dem Lernstoff gerecht zu werden. »Das ist schade und wirklich blöd gemacht«, gibt Caro zu bedenken, »die Schule nimmt dadurch viele Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung.«

Die jungen Menschen sind allerdings erstaunlich flexibel. Zwar ist es ihnen kaum noch möglich, Termine für gemeinsame Fahrten am Wochenende zu finden, weil ihre Kinder entweder lernen oder zu Veranstaltungen in die Schule müssen, trotzdem nehmen sie die neuen Herausforderungen gelassen. Elias, der Dritte im Bunde, gibt pragmatisch zu verstehen: »Die Vereinbarkeit von Schule und Ehrenamt läuft ganz gut, weil alles bei den Pfadfindern der Schule angepasst ist«, sagt er. Diese Flexibilität scheint eine Kernleistung junger Menschen zu sein. Da heult keiner rum – Probleme werden angepackt und gemeinsam gelöst. Die größte Schwierigkeit im Stamm Bapu ist darum nicht etwa die Gewinnung von Nachwuchs, sondern die Phase zwischen 13 und 16, in der die Ansprüche der Schule an die Jugendlichen wachsen. »Wer diese Zeit jedoch übersteht, bleibt den Pfadfindern meistens für immer treu«, gibt der 16-jährige Elias, der lieber caupa gerufen wird, stolz zu.

Die Bildung im Fokus. In Hamburg hat sich die Bildungslandschaft in den letzten Jahren stark verändert. So wurde unter der CDU-geführten Regierung 2002 das verkürzte Abitur nach acht Jahren eingeführt – die ersten G8-Schulabschlüsse wurden bereits 2010 absolviert. Hinzu kam 2011 der Beschluss über einen flächendeckenden Ausbau der Ganztagsbetreuung in der Hansestadt. Neben der umstrittenen Bologna-Reform und der Umstellung auf das Bachelor- und Mastersystem, erweiterten die Schulreformen die Diskussion über die optimale Bildung von Kindern und Jugendlichen um zwei weitere meinungsgewaltige Konfliktpunkte zwischen den beteiligten Akteuren/innen. Hitzig und lautstark beziehen Vertreter/innen aus Politik, Lehrer/innen- und Elternschaft, den Jugendverbänden und aus der Wissenschaft Stellung – das Lager der Gegner/innen von G8 und Ganztagsschule ist ebenso von den eigenen Argumenten beflügelt wie das Lager der Befürworter/innen.

Generation Turbo. Dabei spielt weniger die Qualität der Bildung, welche durch die umstrittenen Reformen für alle Bevölkerungsschichten zu steigern erhofft wird, als vielmehr der Verlust von Lebensqualität für die Jugendlichen eine Rolle. »Kinder und Jugendliche haben weniger freie Zeit«, dies sei laut Mirja Lange und Karin Wehmeyer, Autorinnen der aktuellen Studie »Keine Zeit für Jugendarbeit!?«, die einhellige These. Das Aufwachsen junger Menschen in Deutschland hat sich in den letzten Jahren zusehends gewandelt und die Beschleunigung und Verdichtung von Bildungsbiografien ist längst keine Befürchtung mehr. Das Hauptproblem liegt für viele darin, dass Kinder und Jugendliche einen noch größeren Teil ihres Tages in der Schule verbringen – eine freie Freizeitgestaltung sei demnach nur schwer möglich. Zu dem Zeitdruck gesellt sich neuerdings auch ein Leistungsdruck, der durch den Bachelor und das verkürzte Abi begünstigt würde.

»Viele machen sich selbst den Druck, ein Einser-Abi zu schaffen, dann sofort ein Studium aufzunehmen, um dann mit 21 ins Berufsleben zu starten. Dabei wissen sie gar nicht, was sie überhaupt studieren sollen«, so die Studien- und Berufsberaterin Karin Wilcke gegenüber dem Spiegel. Sie warnt vor gestressten jungen Menschen, die bereits vor dem Berufseinstieg mit ihren Nerven am Ende sind. Auch die Hamburger Elterninitiative »G9-JETZT-HH«, die für eine parallele Wiedereinführung des neunjährigen Abiturs an allen G8-Standorten kämpft, sieht im gestrafften Bildungssystem eine Gefahr für die psychische Gesundheit ihrer Kinder.
Der Ärztliche Direktor der Kinder und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) gibt ihr in einem ZEIT-Interview recht. »Die G-8-Regelung hat den Lern- und Schuldruck verstärkt«, bestätigt er. Dadurch sei es in den letzten Jahren vermehrt zu Erschöpfungsdepressionen bei Kindern und Jugendlichen gekommen: »Ich selbst diagnostiziere Burn-out bei Jugendlichen seit etwa fünf Jahren.« Mit Aussagen wie diesen wird der Streit um die beste Bildung für die Sprösslinge angefacht.

Businessplan für Jugendverbände? Nach einem Burn-out sehen die Pfadfinder/innen des katholischen Stammes St. Martin nicht aus. Ruhig und gesittet sitzen sie an dem U-förmigen Tisch, der mehr an triste Sitzungen erinnert als an kreative Jugendarbeit. Dem Stamm hat vor allem die Umstellung von G9 auf G8 zu schaffen gemacht, die dazu führte, dass ein ganzer Jahrgang an Leiter/innen weggebrochen ist. Zudem bereitet auch ihnen der verlängerte Aufenthalt der Kinder und Jugendlichen in der Schule Schwierigkeiten. Nicht nur der vermehrt gestresste Nachwuchs ist ihnen dabei ein Dorn im Auge – für sie bedeutet der zeitlich verdichtete Nachmittag einen erhöhten Organisationsaufwand. Doch sie bleiben pragmatisch und gehen die Probleme wirtschaftlich an: »Ich glaube, dass Vereine immer mehr wie eine Firma geführt werden müssen. Auch wir müssen uns darum kümmern, dass unsere Kunden, die Kinder, kommen. Dafür muss man dann halt auch Werbung machen.« Maximilian ist 20 Jahre alt und studiert Betriebswirtschaftslehre. Er besticht nicht nur durch seinen starken Willen, Lösungen zu finden. Ebenso wie die Mitglieder anderer Jugendverbände, hat er die Bedürfnisse seiner Mitmenschen und seines Verbands verinnerlicht. Er ist mit und an den Pfadfindern/innen gewachsen, schon mit sechs Jahren machte er die ersten Schritte in der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DSPG). Er will Konzepte für ein erfolgreiches Weiterbestehen seines Stammes entwickeln: »Bei einem Pfadfinderstamm, der konfessionell gebunden ist, bleibt der Nachwuchs auch immer kirchenintern. Wenn nun die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt, kommen auch weniger Kinder zu uns. Also müssen wir den Kreis potenzieller Pfadfinder erweitern. Dabei bräuchten wir aber wahrscheinlich Hilfe, um uns richtig aufzustellen und ein gutes Konzept zu entwickeln.« Aus Maximilians Mund klingt alles ganz leicht.

Pflicht und Kür. »Ich hätte gerne mehr Zeit für das Pfadfinderleben, ohne immer die Verpflichtung im Nacken zu haben.« Auch wenn die Jugendlichen aller Verbände sich sehr flexibel an Veränderung anzupassen scheinen, spricht Jonathan, 18 Jahre, vom Stamm Hagen von Tronje ein insgeheimes Bedürfnis seiner Leute aus. Auch die anderen Mitglieder des Pfadfinder & Pfadfinderinnenbund Nordlicht e.V. beklagen sich über die Veränderungen. Doch anders als die Mitstreiter/innen von der DSPG wollen sie nicht nur die Symptome bewältigen – sie wünschen sich vielmehr die alten Bedingungen und mehr Zeit für die Pfadfinder zurück.

»Kinder haben mehr mit der Schule zu tun, sind länger in der Schule und müssen trotzdem noch Hausaufgaben machen. Sie sind zeitlich einfach stärker eingebunden«, stellt Jonathan fest. Dabei sollte es im Leben der Kinder noch andere Dinge geben, findet auch Leonhard, ebenfalls 18 Jahre jung: »Mir tut die Zeit, die ich bei den Pfadfindern bin, aber gut. Ich kann mal loslassen und die Schule vergessen.« Das Zeitproblem wird für alle zur Zerreißprobe. Statt den Pfadfindern/innen mehr Zeit einzuräumen, geben immer mehr junge Menschen ihr Hobby frühzeitig auf. Lea empfindet es jetzt gerade noch als vereinbar. Sie ist mit 16 Jahren eine der jüngeren Gruppenleiter/innen aus der Runde. Ihre Gruppe habe sie übernommen, weil ihre Vorgängerin die schulischen Anforderungen nicht mehr mit dem Ehrenamt in Einklang bringen konnte. Diese Erfahrung kommt nun auch auf sie zu. Gegenüber den anderen Leitern/innen, die allesamt eine Waldorfschule besuchen, macht sie ihren Abschluss auf der Stadtteilschule Walddörfer. Dort wird sie nicht freigestellt, wenn sich Schulveranstaltungen mit Terminen der Pfadfinder/innen überschneiden. Jonathan ist Waldorfschüler und profitiert in seinem Ehrenamt davon. Allen, die nicht in dieser glücklichen Lage seien, wünscht er weniger Stress: »Schule soll Kinder Kind sein lassen. Ich habe das Gefühl, Kindern wird ihre Kindheit weggenommen und sie müssen sich von Anfang an Druck machen, um irgendwann mal etwas Tolles studieren zu können. Und ich sehe das nicht nur als Nachteil für die Pfadfinder, sondern für die gesamte Jugend.«

Spürbare Folgen. Die Akteure der Jugendverbände schalten sich zunehmend in die Diskussion mit ein. Sie sehen das zivilgesellschaftliche Engagement durch die Schule gefährdet und mit ihm elementare Werte unserer Gesellschaft schwinden. Zudem sehen sie ihre Befürchtungen vielerseits durch Studien und Berichte zur Thematik bestätigt. So wird in der aktuellen Entwurfsfassung des Hamburger Kinder- und Jugendberichts, erstellt durch die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) offiziell proklamiert, dass Jugendverbände ihre Arbeitsweisen grundlegend überdenken und an die aktuellen Bildungsreformen anpassen müssten: »Die Ganztagsschule nimmt einen Großteil der Zeit in Anspruch, die bislang potenziell für die Kinder- und Jugendgruppenarbeit der Verbände zur Verfügung stand. Auch die auf acht Jahre verkürzte Schulzeit zur Erlangung des Abiturs […] nimmt die Zeitressourcen der Schülerinnen und Schüler mehr als bisher in Anspruch.« Diese Tatsache ist vor allem hinsichtlich der bedeutenden Rolle, die Jugendverbandsarbeit seit jeher in unserer Gesellschaft spielt, bedenklich. Die non-formale Bildung, die während einer Tätigkeit im Verband ganz nebenbei verläuft, ist charakteristisch für die Verbandsarbeit und trägt entscheidend zur Demokratiebildung von Jugendlichen bei. »Die Bereitschaft, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, ist bei jungen Menschen, die in einem Jugendverband ehrenamtlich tätig sind, weit höher ausgeprägt als bei vergleichbaren Altersgruppen«, stellt auch die BASFI fest. Jugendliche, die ihre Freizeit und Energie unentgeltlich für einen bestimmten Zweck stiften, machen eine ganz entscheidende Erfahrung, nämlich dass Leistung nicht zwangsläufig benotet wird und auch freiwillig erfolgen kann. Vor dem Hintergrund des steigenden Leistungsdrucks wird dieser Lernerfolg, der nicht ausschließlich dem Zweck des persönlichen Erfolges dient, zu einem kostbaren Gut.

Auch die Ergebnisse der Studie »Keine Zeit für Jugendarbeit!?« sprechen dafür, dass die veränderte Bildungslandschaft die Jugendverbandsarbeit wesentlich erschwert. Aus Sicht der Jugendverbände selbst hätten Jugendliche demnach weniger Zeit für die Ausübung ihres Ehrenamts. Besonders problematisch seien die Terminfindung und die Anpassung der Jugendarbeit an die veränderte Bedarfslage der jungen Menschen. Diese Herausforderung konstruktiv zu meistern, ist selbst für Verbände mit hauptamtlich tätigen Mitarbeitern schwierig. Andere, allein durch freiwillige Arbeit aufrecht erhaltene Verbände, stellt sie vor eine nur schwer überwindbare Hürde. Einen bitteren Beigeschmack hat eine weitere Erkenntnis der Studie: Die ehrenamtliche Arbeit nehme bei Jugendlichen einen hohen Stellenwert ein und viele Befragte würde sich gerne noch viel stärker in den Verband einbringen. Die zeitlich verdichtete Jugendphase – ausgelöst durch einen grundlegend reformierten (Hoch-)Schulalltag – legt folglich dem Erwerb wesentlicher sozialer Schlüsselqualifikationen Steine in den Weg.

Beschlüsse von oben. Die Jugendverbände reagieren – denn die Symptome von G8 und Ganztagsschule sind nun nicht mehr neu. Sie fragen sich: »Inwieweit sind wir von einer zeitlichen Verdichtung der Lebenswelt junger Menschen betroffen? Wo spüren wir das am stärksten? Gibt es überhaupt konkrete Auswirkungen oder sind es nur gefühlte Veränderungen, die auf anderen Ausgangslagen beruhen?« Während die Verbände, die ausschließlich von Schüler/innen am Leben gehalten werden, kaum Raum und Zeit haben, Angebote zu variieren und anzupassen, finden in Verbänden mit hauptamtlich Tätigen große Bemühungen statt, die aktuelle Lage zu analysieren und zu verbessern.
Wie bereits in der punktum-Ausgabe »Keine Zeit für jugendliches Ehrenamt?« (2/13) vorgestellt, hat auch der Landesjugendring Hamburg (LJR) mit Beschlüssen der Vollversammlung der derzeitigen Situation den Kampf angesagt. Von den Schulen und Universitäten fordert der LJR die vermehrte Anerkennung und Anrechnung von Ehrenamt, mehr Freiraum für verbändische Aktivitäten, eine bessere Planbarkeit von Ferienfreizeiten und eine nachhaltige Verknüpfung der verschiedenen Lernorte.
Auch der Bund der Deutschen katholischen Jugend (BDKJ) stellt auf seiner Diözesanversammlung 2014 in Hamburg eindeutige Forderungen, die aus einer einfachen Feststellung heraus entstanden: »Was uns im Laufe des Heranwachsens prägt, ist selten die Schule – sondern häufig eher das, was sich abseits der nötigen formalen Bildungswege abspielt: denn in diesem Sinne werden in Jugendverbänden soziale Kompetenzen gebildet, Gemeinschaft und Gesellschaft erlebt, identitätsstiftende Erfahrungen und der Einsatz für Andere erfahrbar gemacht.« Kleine Nachbesserungen können aus Sicht des BDKJ den Konflikt zwischen Schule und Jugendverbänden deutlich entspannen. So schlägt der BDKJ vor, einen bedingungslosen freien Freitagnachmittag einzurichten, sowie penibel darauf zu achten, dass nach dem Verlassen der Schule auch wirklich Freizeit zur Verfügung steht, Hausaufgaben dementsprechend im Ganztagsbereich verbleiben. Hinzu kommt der klare Wunsch nach einer 35-Stunden-Woche, die vor allem mit Hilfe einer Entschlackung der Lehrpläne erreicht werden soll. Auch die Diözesanversammlung wünscht sich darüber hinaus eine ehrliche Kooperation zwischen Schule und Jugendverbänden. Damit sind sich die Verfechter/innen des Ehrenamts einig. Theoretisch. Denn Beschlüsse auf dem Papier sind zunächst nichts weiter, als politisches Aufbegehren und ein kritisches Infragestellen des Status quo. Die Umsetzbarkeit der Vorschläge muss erprobt werden, um sie auf ihre Tauglichkeit in der Praxis zu prüfen.

Stadtteilschule: G9 bleibt. Jugendliche leben im Hier und Jetzt. Sie können ihre aktuelle Lage nur subjektiv beurteilen. Ihnen fehlt der Vergleich zu vergangenen Systemen, der objektive Blick auf die Vor- und Nachteile bestimmter bildungspolitischer Entscheidungen. Diese Problematik mussten auch Lange und Wehmeyer in der Ergebnisanalyse berücksichtigen. Die Autorinnen haben festgestellt, »dass sich die Sicht der Jugendverbände und die Sicht der Ehrenamtlichen in einigen Punkten deutlich voneinander unterscheiden.« Neben der auf die eigene Alltagsrealität bezogenen Perspektive der jungen Ehrenamtlichen, bietet die Beurteilung von G8 und Ganztagsschule durch Lehrer/innen einen generationenübergreifenden Blick auf mögliche Konflikte zwischen den betroffenen Akteuren.

Michael Kraft ist 52 Jahre alt. Sein Haar ist kurz geschnitten. An den Schläfen blitzen vereinzelt graue Strähnen. Die Augen, die durch eine randlose Brille schauen, sind forschend – der gradlinige Blick eines Lehrers, der die Menschen, die vor ihm sitzen, durchschauen will. Er selbst ist interessiert. An dem, was an seiner Schule passiert, daran, wie sich die Bildung in Volksdorf entwickelt. Das ist sein Job. Denn er ist nicht nur Lehrer, er ist Schulleiter – er überblickt die rund 1280 Schüler/innen der Stadtteilschule Walddörfer und ist zusammen mit seiner Lehrer/innenschaft dafür verantwortlich, bestmöglich auf die Bildungsreformen zu reagieren. Denn nicht nur Schüler/innen sind von den Folgen der Umstellung auf G8 und Ganztagsschule betroffen. Die Schulen und mit ihnen die Lehrenden sind in die Pflicht genommen, die undankbare Aufgabe der Umsetzung zu übernehmen und die bösen Stimmen der Kritiker zu tolerieren, ohne aber die Bildung ihrer Schützlinge zu vernachlässigen.
Als Stadtteilschule ist die Walddörfer Schule zwar von der Umstellung auf das achtjährige Abitur verschont geblieben, seit dem Schuljahr 2013/14 wird jedoch auch hier ein offenes Ganztagsangebot zur Verfügung gestellt. Die Anstrengung der Umstellung steht Kraft ins Gesicht geschrieben. Über die Diskussion um eine mögliche Rückkehr zu G9 ist er entrüstet: »Ich halte das für eine ganz große Katastrophe, vor allem wenn man pragmatisch überlegt, welche Baumaßnahmen in den letzten Jahren an Gymnasien und Stadtteilschulen auf den Weg gebracht wurden. Wenn es G8 nicht mehr gibt, muss alles neu überdacht werden.« Die Abschaffung des verkürzten Abiturs ist aus Sicht der Schulen – ob nun Gymnasium oder Stadtteilschule – eine absolut müßige Frage. Es sind Stadtteilschulen geschlossen und andere neu gegründet worden, um größere Standorte zu schaffen – vor allem dort, wo Stadtteilschulen aus alten Haupt- und Realschulen entstanden. Und vielleicht seien auch die über die Medien oder die Elterninitiative »G9-JETZT-HH« kommunizierten Probleme durch G8 überzogen. Kraft erinnert sich: »Damals, als die Gymnasien von G9 zu G8 umgestellt wurden, wurde auch die Überlegung angestellt, wie Eltern reagieren würden. Die Befürchtung war, dass Eltern glauben, dass der Stress für ihre Kinder unter G8 zu groß wäre. Es wurde ein großer Run auf die Stadtteilschulen erwartet – der bleibe jedoch aus.«

Allgemeinhin werde die Frage zwischen G8 oder G9 als einfache Ja- oder Nein-Entscheidung betrachtet. Wie so häufig sei die Thematik jedoch viel komplexer. So banal wie elementar sei insbesondere der finanzielle Aspekt. »Es muss wirklich bedacht werden, dass ein Wechsel auch wieder teuer wird. Und Geld ist immer ein Argument. Ich würde dieses Geld lieber in die Schulen investieren statt in einen erneuten Umbau der Schulgebäude.« Schulleiter Kraft gibt eindeutig zu verstehen, dass er das Hin und Her der Politik nicht tragen möchte, obwohl er zugibt, dass die Anfänge von G8 nicht fehlerlos waren. »Die Reform wurde sehr schnell umgesetzt und die Bildungspläne wurden nicht entsprechend entschlackt. Lange Zeit wurde versucht, den gleichen Stoff in kürzerer Zeit zu erarbeiten – das ist das große Problem gewesen. Daran haben die Gymnasien jetzt aber sehr lange Zeit gearbeitet und es mittlerweile sehr gut in den Griff bekommen.«

Ebenso klar äußert er sich zur Ganztagsschule: »Ich glaube, dass viele Kinder die Möglichkeit haben müssen, am Nachmittag betreut zu sein – egal ob in offener oder gebundener Form. Das sehen wir auch daran, dass es in den letzten Jahren bei Anmeldungen oder am Tag der offenen Tür vermehrt Nachfragen der Eltern dazu gab, ob ein Ganztagsangebot zur Verfügung steht.« Die offene Form der Ganztagsbetreuung sei für Volksdorf jedoch notwendig, da die Eltern in den meisten Fällen für eine Nachmittagsbeschäftigung ihrer Kinder sorgen würden. Sie bieten ihnen Freizeitangebote, welche die Kinder bei einer gebundenen Form aus Zeitmangel nicht mehr nutzen könnten. »Man muss allerdings immer schauen, wie sich die Schülerschaft verändert. Das hat was mit Kundenorientierung zu tun. Wir müssen einschätzen, wie sich die Nachfrage bei den Eltern verändert und das Angebot dementsprechend ausbauen. Egal, ob wir nun eine offene oder gebundene Form der Ganztagsschule anbieten.« Herr Kraft ist sensibel für die Bedürfnisse seiner Schüler/innen sowie deren Eltern und ist überzeugt von der guten Qualität des Nachmittagsangebots, das die Jugendlichen an seiner Stadtteilschule nutzen können. »Unser Bestreben war es, von Anfang an ein möglichst vielseitiges Angebot zur Verfügung zu stellen. Einfach war es in den Bereichen Sport und Musik, in denen wir als Schule selbst sehr breit aufgestellt sind. Schwieriger war es, besondere Angebote zu schaffen. Es kamen jedoch sehr viele Ideen von Eltern oder persönlichen Kontakten. Aber auch unter der Lehrerschaft haben wir interessante, versteckte Talente entdeckt.« Bei diesem Gedanken lächelt Kraft. Er ist zufrieden mit der Vielfalt, die er für seine Schüler/innenschaft zusammenstellen konnte. Dazu zählen auch die Kooperationen, an deren Verwirklichung dauerhaft gearbeitet wird.

Besonders stolz ist Kraft darauf, dass die Zusammenarbeit mit dem Malteser Jugendzentrum »Manna« bald aktiv in den Nachmittagsbereich einfließt. Seit drei Jahren wird auf diesen Zeitpunkt hingearbeitet – die Entkommunalisierung des Haus der Jugend habe seiner Meinung nach unnötig viel Zeit in Anspruch genommen. Die Hilfe von externen Kräften sei in der Nachmittagsbetreuung essenziell, beteuert Kraft. Dadurch können die Schüler/innen die Bereiche des Unterrichts und des Ganztagsangebots klar voneinander trennen, auch räumlich. Im Falle der Walddörfer Stadtteilschule wird der gesamte – unbenotete – Bereich des Chillens und der Freizeit an die Malteser abgegeben.

Wie so häufig bleibt es aber bei der Kooperation mit einem Träger der offenen Jugendarbeit. Die hauptamtlichen Strukturen, von speziell ausgebildeten Erwachsenen organisiert, haben erst einmal nichts mit dem freiwilligen Engagement Jugendlicher zu tun. »Die Jugendverbände sind halt noch nicht auf uns zugekommen«, die Frage nach einer zukünftigen Zusammenarbeit mit den jungen Volksdorfer Ehrenamtlichen tut Kraft mit einer kurzen Bemerkung schnell ab.

Ein Exkurs. Michael Kraft und sein Team an der Walddörfer Stadtteilschule haben es zwar geschafft, ein abwechslungsreiches Betreuungsprogramm auf die Beine zu stellen und sogar eine Kooperation ins Leben gerufen, die es möglich machen soll, den Schulflair am Nachmittag auszumerzen. Die Jugendverbände kommen in dieser Überlegung jedoch zu kurz. Diese Beobachtung hat auch der BDKJ in seinen Forderungen nach Frei- und Gestaltungsräumen neben dem Unterricht festgehalten, er wünscht sich »ein politisches Bekenntnis zu einer Kooperation zwischen Jugendverbänden und Schule auf Augenhöhe anstelle einer politisch gewollten, schrittweisen Verschiebung möglichst vieler Aktivitäten der Jugendhilfe in den schulischen Raum.«

Doch auch der LJR musste in der Vergangenheit bereits feststellen, dass es bei der Zusammenarbeit viele Hürden gibt. Gemeinsam mit der Jungen Presse Hamburg (JPHH) hat der Landesjugendring im Schuljahr 2011/12 ein einjähriges Pilotprojekt im Nachmittagsbereich am Alexander-von-Humboldt-Gymnasiun (AvH) in Hamburg-Harburg zu etablieren versucht. Die Durchführung des Kurses »Erstellung einer Schülerzeitung« wurde für die Ehrenamtlichen der JPHH zu einem wahren Kraftakt. Felicitas Mertin, heute 27 Jahre alt, war damals als zweite Vorsitzende des Vereins am AvH tätig und erinnert sich noch lebhaft an die schwierigen Stunden mit den Kindern: »Das Problem war, dass es sich nicht um freiwilliges Engagement handelte, weil es ein Pflichtkurs war. Die Jugendlichen wurden benotet.« Dieses Beispiel zeigt, wie schwierig Kooperationen zwischen Schulen und Jugendverbänden sind, weil sich beide Institutionen in ihrem Bildungsansatz grundlegend voneinander unterscheiden.

Wohin soll's gehen? Obwohl die Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendverbänden der einfache und folgerichtige Lösungsansatz für den Konflikt zwischen dem erhöhten Zeitdruck durch G8 sowie Ganztagsschule und Ehrenamt ist, tun sich beide Seiten schwer. Simon vom Stamm Amarganth des Pfadfinderinnen- und Pfadfinderbund Nord (PBN) hat mit seinen 19 Jahren bereits eine gefestigte Meinung zu dieser Thematik. Er will sich nicht auf eine Vermischung von Schule und Pfadfinderei einlassen: »Ich will nicht, dass wir mit Schule kooperieren! Schule kann nicht die gleichen Wahlmöglichkeiten bieten, die wir unseren Kindern ermöglichen.« Schon der Grundgedanke der Pfadfinderei würde eine Annäherung an die Schule grundsätzlich ausschließen. Simon beruft sich auf die Entstehungsgeschichte des Jugendverbandes. Demnach sei der PBN ein bündischer Pfadfinderverband, der aus der bündischen Jugendbewegung in Deutschland hervorging, deren Ziel die Emanzipation der Jugend von der Erwachsenenwelt war. Die Jugendlichen haben eine klare Vorstellungen über die Bedeutung ihres Engagements und können diese mit sehr viel Nachdruck vertreten. Simon und seine Mitstreiter sind sich darüber einig, dass die Pfadfinder eine Alternative zur Schule und deren Bewertungssystem darstellen. Die Aktivitäten im Verband bringen Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Milieus und Schulen zusammen, sorgen damit für eine soziale Durchmischung und viele Freiräume.

Caro vom Stamm Bapu ist offener für neue Kooperationen, sieht jedoch auch Probleme in der Umsetzbarkeit: »Man könnte in einem regulären Block im Nachmittagsbereich ganz normale Gruppenstunden nach Pfadfinderart anbieten. Ich glaube schon, dass das funktionieren könnte. Allerdings kann man die Pfadfinder nicht wie einen Sportkurs nur über ein halbes Jahr laufen lassen.«
Die anderen Gruppenleiter stehen der theoretischen Überlegung einer Annäherung zwischen den Konfliktparteien skeptischer gegenüber. Elias prophezeit eine ganze Kettenreaktion an Schwierigkeiten: »Ich denke, dass eine Zusammenarbeit kompliziert werden könnte. Da muss ja langfristig geplant werden – und zwar so, dass das Angebot über mindestens fünf Jahre läuft. Wenn die Kooperation nach einem Jahr plötzlich abbricht, wäre das doof für die Kinder. Und wenn sie dann in anderen Gruppen der Pfadfinder mitmachen wollen würden, stände ihnen vielleicht sogar das Nachmittagsangebot und damit wieder die Schule im Wege.« Die Herausforderungen für gemeinsame Pläne von Schule und Jugendverbänden sind groß. Die Haltung der Jugendlichen wirft die Frage auf, ob Kooperationen für eine Lösung des aktuellen Konflikts generell in Frage kommen oder ob sich das Potenzial für eine Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen »Branchen« der Verbände unterscheidet. Vielleicht muss jeder Jugendverband intern darüber entscheiden, ob er sich für die Ganztagsschulen öffnen kann und möchte. Dass die Pfadfinderei nicht vereinbar mit der formellen Bildung sind, gibt Peer noch mal lautstark zu verstehen: »Für viele sind die Gruppenstunden eine Flucht aus dem Schulalltag. Ich finde es schwierig, Pfadfinder unter dem Deckmantel Schule anzubieten.« Bei dem Gedanken an das Schulfach »Pfadfinder« läuft es auch Leonhard vom PBNL-Stamm Hagen von Tronje kalt den Rücken runter: »Dann kommen die Kinder zu den Pfadfindern, weil sie in dem Halbjahr vielleicht gerade keine Lust auf Volleyball haben. Das sind dann keine Pfadfinder mehr. Pfadfinder zu sein, ist eine Lebenseinstellung.«
 
Dafür gibt es Lehrer/innen. Auch im Sport liegt die Aufrechterhaltung von Schulkooperationen in hauptamtlichen Händen. Obwohl der Walddörfer Sportverein (WSV) an vielen Schulen Volksdorfs präsent ist und traditionell sogar vormittags bei der Ertüchtigung der Schüler/innen aushilft, sind die Mitglieder des Young Motion Team (YMT) nicht an der Zusammenarbeit beteiligt. Das YMT ging 2012 aus dem 1981 gegründeten Jugendausschuss des WSV hervor und soll für neuen Pepp unter den jungen Sportlern/innen sorgen. Die Ehrenamtlichen zwischen 16 und 26 Jahren organisieren Aktionen und repräsentieren die Jugend im Verein. Auf den ersten Blick ist ihre Existenz unscheinbar. Ein langer Gang im Sport- und Fitnesscenter des WSV führt zu einem kleinen Raum. Zwei Sofas und ein Schreibtisch finden darin Platz. Die Regale sind gefüllt mit Kartons und Getränken – hier wird gelagert, was gelagert werden muss. Auf den ersten Blick etwas beengt, ist ihr Jugendraum sehr strukturiert. An den Wänden hängen Terminplaner, verschiedene Farben weisen auf die To-Do's bei den vielen Veranstaltungen hin. Die Jugendlichen fühlen sich in ihrem ganz persönlichen Reich sichtlich wohl. Hier trifft man sich nicht nur zum Planen – auch Hausaufgaben werden an dem kleinen Tisch gemacht, Unterhaltungen geführt und die Freizeit genossen.
Die Jugendlichen des YMT haben ebenso wie die Pfadfinder/innen eine klare Vorstellung davon, was sie als Ehrenamtliche leisten können und wollen. Nadja, 20 Jahre alt, macht eine Ausbildung zur Sport- und Fitnesskauffrau und ist mit der zusätzlichen Arbeit im YMT ausgelastet – von den Schulen möchte sie sich nicht als billige Nachmittagskraft ausnutzen lassen. »Eine Schule hat uns gebeten, so sozial zu sein und auf einem Schulfest auszuhelfen. Wir sind aber keine Dienstleister, wir sind Ehrenamtliche und lassen uns nicht für irgendetwas buchen, das geht über unsere Kapazitäten hinaus. Wenn einer kommt, dann kommt der nächste, und das wollen wir nicht.«
Von den veränderten Bedingungen durch G8 und Ganztagsschule ist das Young Motion Team nicht betroffen – ihre Veranstaltungen finden nicht regelmäßig statt und können leicht an die zeitlichen Möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen angepasst werden. Diese Spontaneität kommt zwar ihrem eigenen Programm zugute, schließt für sie aber ein regelmäßiges Angebot an einer Schule aus, vor allem, weil sie selbst keine Sportarten unterrichten. Die Kooperation mit Schulen überlassen sie mit besten Gewissen den Hauptamtlichen und Auszubildenden. Allerdings sind sie der Meinung, dass die Unterrichtung in Sport Schulangelegenheit sei, und findet jedoch auch, dass die Relevanz von sportlicher Betätigung zum Ausgleich der geistigen Anstrengungen in der Schule nicht ernst genug genommen wird. »Sport gerät ins Hintertreffen. Weil es eben nur Sport ist, darf der Unterricht auch öfter mal ausfallen«, berichtet Jonas, 18 Jahre, aus seinen Erfahrungen vom Walddörfer Gymnasium. Problematisch sei auch, dass die Umstellung von 45-Minuten-Einheiten zu Studienzeiten von 70 Minuten zu einer Verkürzung des Sportunterrichts geführt hat. »Es wird oft vergessen, dass Kinder sich viel besser konzentrieren können, wenn sie sich bewegen. Dieses Auspowern fehlt an den Schulen derzeit aber, weil Sport einfach nicht als so wichtig erachtet wird wie zum Beispiel Mathematik.«

Nadja ist von der Situation an den Schulen enttäuscht und wünscht sich bessere Lehrkräfte. Der Verein könne nicht die Aufgabe der Lehrenden übernehmen. Vielmehr seien seine Angebote als Anschluss zum schulischen Sport zu sehen. Nachdem Kinder und Jugendliche koordinative Fähigkeiten im Schulsport erlernt und Interessen für bestimmte Sportarten entwickelt hätten, sollten sie im Verein ihre Fähigkeiten und Neigungen vertiefen können. Das Young Motion Team hat den Durchblick – denn anders als ihre erwachsenen Kollegen/innen analysieren und bewerten sie die aktuelle Situation aus der Perspektive der Betroffenen, der Schüler/innen. Dieses Wissen für das Ganztagsangebot nicht zu nutzen, grenzt an Verschwendung. Doch wieder einmal zeigt sich: Ehrenamtliche Strukturen erschweren kontinuierliches Arbeiten mit den Vertretern/innen der formellen Bildung. Der WSV kann seine erfolgreiche Präsenz an den Schulen nur durch festangestelltes und ausgebildetes Personal aufrechterhalten.
Diese Problematik kam auch auf der zweiten Regionalen Bildungskonferenz in der Region Mitte-Kern Anfang April diesen Jahres zur Sprache. Nach langen Ausführungen über den Nutzen offener Träger der Jugendarbeit für die Ganztagsschulen schaltet sich Melanie Babst als Vertreterin der Jugendverbandsarbeit ein. Sie bekleidet eine vom Senat unterstützte Projektstelle im LJR und erfasst derzeit die Gestaltungs- und Anpassungsprobleme der Jugendverbände, die aus der verkürzten und komprimierten Schulausbildung und den Erfordernissen ehrenamtlicher Tätigkeit erwachsen. Melanie gibt zu bedenken, dass Jugendverbände als »dritter Standort« für non-formale Bildung im Zuge der Ganztagsentwicklung oft vergessen werden. Dörte Feiß von der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) macht daraufhin eine klare Ansage: »An allen GBS-Standorten haben zwei Runde Tische stattgefunden, um Partner für den Ganztag zu finden. Die Jugendverbände sollten dabei nicht vergessen worden sein. Alle Partner müssen sich jedoch konzeptionell annähern.«

Besonnen prüfen und urteilen. Wir sind an einen Punkt gelangt, an dem es sich lohnt, innezuhalten. Die derzeitige Debatte ist hitzig – niemand möchte von der eigenen Überzeugung abweichen. Jede/r verteidigt den eigenen Vorteil. Die Entrüstung über G8 war deutschlandweit so groß, dass sich erste Bundesländer von einer Reform der Reform überzeugen lassen, die ursprünglich nur zum Zwecke der internationalen Vergleichbarkeit ins Leben gerufen wurde. Niedersachsen hat unlängst eine Rückkehr zu G9 bestätigt. Auch in Hamburg sorgt die Kampagne der Elterninitiative »G9-JETZT-HH« für ordentlich Wind. Eine aktuelle Befragung der Schulkonferenzen aller Hamburger Gymnasien durch Schulsenator Ties Rabe ergab jedoch eine große Mehrheit (87 %) für die Beibehaltung von G8. In Volksdorf das gleiche Bild: Bei der Schulkonferenz am Gymnasium Buckhorn stimmten von den zwölf anwesenden Mitgliedern neun gegen die Wiedereinführung von G9 und nur drei dafür. Und am Walddörfer Gymnasium votierten 14 Mitglieder der Schulkonferenz pro G8, zwei pro G9 (bei einer Enthaltung). Unabhängig von der Umfrage des Schulsenators sprachen sich zudem die Schüler/innen- als auch die Eltern- und die Lehrer/innenkammer jüngst für die Beibehaltung von G8 aus.

Um den Kritikern von G8 weiteren Wind aus den Segeln zu nehmen, soll zum Schuljahr 2014/15 eine Verordnung des Schulsenators in Kraft treten, die ein geregeltes und angemessenes Lernpensum für die Hamburger Gymnasiasten/innen zum Ziel hat. Zukünftig soll es pro Woche nicht mehr als 34 Unterrichtsstunden, zwei Klausuren und fünf Stunden Hausaufgaben geben. In den Klassen 5 und 6 soll die Obergrenze bei 30 bzw. 31 Unterrichtsstunden liegen. Damit reagiert der Schulsenator Ties Rabe auf den Vorwurf der Volksinitiative G9-JETZT HH, dass Schüler/innen aktuell ein zu hohes Arbeitspensum von ca. 36 Wochenstunden plus Hausaufgaben und Lernzeiten zu bewältigen haben.

Aus Sicht der Jugendverbände geht es dabei jedoch um viel mehr als die Frage, ob nun das acht- oder neunjährige Abitur besser für die Entwicklung junger Menschen sei. Es geht um eine Verhandlung darüber, welche Werte und Institutionen davor bewahrt werden sollen, dem Bildungswandel zum Opfer zu fallen.

Wenn die U1 wieder Richtung Innenstadt gleitet, graue Fassaden das Blickfeld verdüstern und sich der raue Klang der Großstadt über die Gedanken legt, fragt man sich, wie all diese Gegensätze und Probleme in der Hamburger Bildungslandschaft einmal zu lösen wären. Zudem: Zu finden wäre kein Volksdorfer Weg – sondern eine Lösung für Hamburg.