Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 4-2013, Rubrik Titelthema

Blickwechsel und Beseitung von Zugangsbarrieren

»Stärkere Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund an den Angeboten der Jugendarbeit« – Interview mit Christian Weis, Deutscher Bundesjugendring, zum richtungsweisenden Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz

Die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) hat im Juni 2013 einen Beschluss zur stärkeren Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund an den Angeboten der Jugendarbeit gefasst. Was ist das Richtungsweisende an diesem Beschluss?

Christian Weis: Aus Sicht des DBJR sind zwei Dinge besonders wichtig. Ausgangspunkt für diesen Beschluss war die gemeinsame Arbeitstagung »Potenziale nutzen – Teilhabe stärken. Zusammenarbeit aller Akteure der Jugendarbeit zur Unterstützung und Einbindung von Vereinen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund« vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und DBJR. Sie hatte genau dies zum Ziel – eine Stärkung des Themas in allen Bundesländern. Dieser Beschluss zeigt, dass die Tagung, an der auch die Landesjugendringe und Vertreter/innen einiger Bundesländer teilgenommen haben, Wirkung gezeigt hat.
Mit diesem Beschluss positioniert sich die JFMK (und damit alle Länder) erstmals und einstimmig zur Interkulturellen Öffnung als Aufgabe der Länder: »Angesichts der besonderen Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten im Bereich der Jugendarbeit zählt eine stärkere Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund an den Angeboten der Jugendarbeit zu den zentralen jugendpolitischen Anliegen der Länder.« Damit gibt es einen Ansatzpunkt für weitere politische Aushandlungsprozesse vor allem in den Ländern, die sich in diesem Themenbereich bisher noch nicht so stark engagiert haben.
Und aus Sicht des Jugendverbände ist natürlich das Bekenntnis zu den Leistungen der Jugendverbände sehr positiv: »Die Förderung des ehrenamtlichen bzw. freiwilligen Engagements junger Menschen im Rahmen selbstorganisierter und partizipativer Strukturen ist dabei ein wichtiges Anliegen.«

Wo lagen die Defizite bei der Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund?

Christian Weis: Die Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund war bisher nicht in allen Bundesländern ein Thema. Naturgemäß wurde dieses Anliegen der Jugendverbände und -ringe vor allem in den Ländern mit hoher Priorität angegangen, in denen viele junge Menschen mit Migrationshintergrund leben und vor allem, wo es viele ihrer Zusammenschlüsse bzw. Selbstorganisationen (VJM und MJSO) gibt. Diese haben zusammen mit anderen Jugendverbänden und den Jugendringen dieses Recht auf Beteiligung eingefordert und zusammen mit den jeweiligen Ländern die Voraussetzungen dafür geschaffen.
Langsam und durch den Beschluss hoffentlich gestärkt, nehmen sich auch diejenigen Länder des Themas an, in denen junge Menschen mit Migrationshintergrund keinen so hohen Bevölkerungsanteil haben, bzw. ihre Zusammenschlüsse und Selbstorganisationen noch fehlen und sie damit wenig sichtbar sind.

Nun steht das Thema überall auf der Agenda. Ist damit ein Blickwechsel verbunden?

Christian Weis:
Junge Menschen mit Migrationshintergrund sollten vor allem nicht mehr unter diesem Fokus gesehen werden. Vielmehr sollten ihre jeweiligen Interessen, Wünsche und Bedarfe im Mittelepunkt stehen. Wo sich junge Menschen selbstorganisiert zusammenschließen, sollte dies deutlich unterstützt werden. Dazu gehört, dass ihnen ermöglicht wird, ein selbstverständlicher Teil der Jugendverbandslandschaft zu werden. Dazu müssen alle Seiten ihren Beitrag leisten und tun dies auch. Die sogenannten tradierten Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse müssen sie willkommen heißen, mit ihnen solidarisch sein und sie unterstützen. Die Länder und Kommunen müssen ihnen die entsprechenden Möglichkeiten und Ressourcen zur Verfügung stellen. Oft sind diese MJSO noch verhältnismäßig junge Strukturen im Aufbau, deren Etablierung und Einbindung in die jeweiligen Netzwerke vor Ort oder auf Landesebene noch nicht abgeschlossen ist. Dies erfordert von allen Beteiligten Geduld, Respekt und Unterstützung.

Drei Maßnahmen benennt die JFMK, um die Teilhabe von jungen Menschen mit Migrationshintergrund zu erhöhen. An erster Stelle wird die interkulturelle Öffnung der Strukturen durch die Beseitigung von Zugangsbarrieren und die systematische Entwicklung interkultureller Kompetenzen genannt. Welche Zugangsbarrieren gibt es?

Christian Weis:
Es gibt ganz reale faktische Zugangsbarrieren und zudem einige in den Köpfen. Letztere bestehen vor allem darin, dass die Sicht auf junge Menschen mit Migrationshintergrund und auf ihre Zusammenschlüsse zumeist durch Schlagworte wie Migrationshintergrund, Benachteiligung, Integration etc. geprägt ist – und nicht verbindende Begriffe gewählt werden wie junge Menschen, Vielfalt, Chancen, Selbstorganisation, Jugendverband etc.. Notwendig ist also eine positive Sicht, losgelöst vom Migrationsaspekt. Es ist nicht lange her, dass in Selbstorganisationen junger Menschen mit Migrationshintergrund noch die Gefahr einer »Parallelgesellschaft« gesehen wurde.
Die faktischen Zugangsbarrieren ergeben sich vor allem daraus, dass viele Regeln, Abläufe usw. nicht auf neue, kleine und erst im entstehen begriffene Organisationen ausgerichtet sind und schon gar nicht die Besonderheiten der MJSO berücksichtigen. Dazu gehört z.B. die regional sehr inhomogene Entwicklung ihrer Strukturen und Mitgliederzahlen. Oft sind gut begründbare, bewährte und grundsätzlich berechtigte Regelungen in der Jugendhilfe aus Sicht von MJSO unüberwindbare Zugangsbarrieren, auch wenn dies nie beabsichtigt war. Oft genannt werden in diesem Zusammenhang Förderrichtlinien und Mitgliedschaftsvoraussetzungen bei Landesjugendringen. Inzwischen gibt es erste Schritte, diese Problematik gemeinsam und mit Kreativität und Phantasie anzugehen. Dazu sind aber das Verständnis für das Problem auf der einen Seite ebenso nötig wie für die Gründe und Ziele dieser Regelungen auf der anderen.
Eine weitere Barriere sind die Richtlinien zur Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe nach § 75 SGB VIII. Diese sind sehr alt. Die »Grundsätze für die Anerkennung von Trägern der freien Jugendhilfe nach § 75 SGB VIII der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugendbehörden« wurden am 14.4.1994 beschlossen und in den letzten Jahren zumindest in den Bereichen Jugendarbeit / Jugendverbandsarbeit wenig genutzt. Oft gibt es nur noch wenige Erfahrung mit dem Anerkennungsverfahren. Hier wäre eine Überarbeitung sehr sinnvoll – nicht nur im Interesse der MJSO.

Als zweite Maßnahme – laut JFMK-Beschluss – sollen MJSO/VJM als Träger von Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit mehr Unterstützung erfahren. Was ist hier erforderlich?

Christian Weis:
Beratung und Begleitung sind notwendig. Beispielhaft sind hier die Tandem-Projekte zu nennen oder im Bereich der internationalen Jugendarbeit auf Bundesebene das Projekt »International.Interkulturell: Jugendverbände gestalten Zukunft«, das als Beitrag zur jugendpolitischen Initiative »JiVE – Jugendarbeit international – Vielfalt« läuft. Hier wie dort ist die Bereitstellung von Ressourcen notwendig.

Drittens wird im Beschluss die Anpassung von Förderrichtlinien gefordert, die Du bereits angesprochen hast. Wo liegen die abzubauenden Hürden?

Christian Weis:
Konkret geht es vor allem um die Zugänge zur Förderung. Das SGB VIII setzt bei einer auf Dauer angelegten Förderung die Anerkennung nach § 75 SGB VIII voraus. Dies ist für viele MJSO noch ein Problem. Hier liegt die Lösung aber nicht in einer Anpassung der Förderrichtlinien, die sich am Gesetz orientieren, sondern tatsächlich in der Überprüfung der Anerkennungsrichtlinien.
Die andere Schwelle, die für MJSO schwer zu überwinden ist, ist die i.d.R. bei (Struktur-)Förderung auf Landes- oder Bundesebene vorausgesetzte sogenannte landes- bzw. bundesweite Bedeutung. Deren aktuelle Konkretisierungen, z.B. durch Festlegung von Mindestmitgliederzahlen oder einer Zahl von Landkreisen bzw. Bundesländern, in denen eine Aktivität des Verbandes nachgewiesen werden muss, sind für MJSO deshalb schwer zu erfüllen, da sie zum einen noch in einer Phase des Strukturaufbaus sind und ihre regionale Verbreitung aus historischen Gründen oft sehr inhomogen ist.
Hier gilt es aus meiner Sicht – bei der Beibehaltung der Voraussetzung einer landes- bzw. bundesweiten Bedeutung, die Kriterien auf den Prüfstand zu stellen, nach denen dies beurteilt wird.

Auch innerhalb der Jugendverbände und Jugendringe wird über interkulturelle Öffnung beraten. Verschiedene Aktivitäten und Programme haben dieses zum Ziel. Welche Ressourcen benötigen die Jugendverbände und Jugendringe dafür?

Christian Weis:
Jugendverbände und -ringe stehen der interkulturellen Öffnung sehr positiv gegenüber und tun, was in ihren Möglichkeiten liegt. Aber es muss auch ehrlich gesagt werden, dass sich dieses Ziel in eine immer länger werdenden Reihe von Anforderungen und Zielstellungen einreiht, die oft von außen durch Politik und Verwaltung gesetzt werden. Auf der anderen Seite sind die personellen, ehrenamtlichen »Ressourcen« und auch die materiellen endlich. Meistens stagniert die Förderung der Jugendverbände und -ringe seit Jahren, was faktisch ein Rückgang bedeutet; oft ist sie auch nominal zurückgegangen.
Dies bedeutet ganz klar: Interkulturelle Öffnung muss auch finanziert werden können. Dazu müssen die Jugendverbände in die Lage versetzt werden. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Jugendringen zu. Sie müssen in der Lage sein, ihren Mitgliedsorganisationen bei deren Interkulturellen Öffnung zu unterstützen und gleichzeitig auf die MJSO und VJM zuzugehen und sie in vorhandene Strukturen einzubinden. Dies bedarf i.d.R. finanzieller Ressourcen, die auch eine zumindest befristete Bereitstellung von Personal ermöglicht. Das jetzt gestartete Modellprojekt der Landesjugendringe Hamburg und Berlin soll u.a. genau zeigen, was mit entsprechenden Ressourcen alles möglich wäre.
Zu den »benötigten« Ressourcen gehört aber auch eine deutliche Entlastung der Ehrenamtlichen, z.B. durch Bürokratieabbau.


Die Fragen stellte Gudrun Bauch, LJR Hamburg


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Info:
Die Jugend- und Familienministerkonferenz – kurz JFMK – ist eine von mehreren Fachministerkonferenzen in Deutschland, die der Zusammenarbeit und der Koordinierung der Länderinteressen dienen. Die in den Ländern zuständigen Minister/innen sowie Senatoren/innen setzen sich in diesem Fachgremium mit der Weiterentwicklung wichtiger Fragen der Kinder- und Jugendpolitik, aber auch mit familienpolitischen Inhalten auseinander.

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Dokumentation: Der JFMK-Beschluss im Wortlaut
»Stärkere Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund an den Angeboten der Jugendarbeit«
Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) am 6./7. Juni 2013 in Fulda

1. Die Jugend- und Familienministerkonferenz begreift Jugendarbeit als bedeutsames außerschulisches Bildungsangebot. Die Förderung des ehrenamtlichen bzw. freiwilligen Engagements junger Menschen im Rahmen selbstorganisierter und partizipativer Strukturen ist dabei ein wichtiges Anliegen. Angesichts der besonderen Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten im Bereich der Jugendarbeit zählt eine stärkere Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund an den Angeboten der Jugendarbeit zu den zentralen jugendpolitischen Anliegen der Länder. Sie würde zu nachhaltig positiven Auswirkungen im Bereich der Aneignung von Kompetenzen (kulturelle, instrumentelle, soziale und personale Kompetenzen) und der sozialen Inte-gration sowie zu einer Stärkung und Sicherung des bürgerschaftlichen Engagements führen.

2. Um die Teilhabe junger Menschen mit Migrationshintergrund an den Angeboten der Jugendarbeit zu erhöhen, werden die Länder insbesondere auf folgende Maßnahmen hinwirken:
• Interkulturelle Öffnung der vorhandenen Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit durch Beseitigung von Zugangsbarrieren und systematische Entwicklung interkultureller Kompetenzen
• Unterstützung bei der Etablierung und Qualifizierung von Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit in Trägerschaft von Migrantenjugendselbstorganisationen/Vereinen junger Menschen mit Migrationshintergrund
• Anpassung von Förderstrukturen mit Blick auf Angebote im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit von Migrantenjugendselbstorganisationen / Vereinen junger Menschen mit Migrationshintergrund.

Quelle: www.jfmk.de