Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2011, Rubrik Titelthema

Der politische Mensch

Demokratie als Lebensform*

Von Oskar Negt, Hannover

In einer Zeit, in der die Realpolitiker aller Schattierungen die entwickelten Gesell­schafts­ordnungen an den Rand eines Ab­grunds getrieben haben und nur noch Utopien, die positiven ebenso wie die negativen, realistisch erscheinen, in einer solchen Zeit mag es sinnvoll sein, einer zentralen Figur dieses globalen Trauerspiels größere Aufmerksamkeit zu widmen – dem politischen Menschen.

Wer ist das? Wie sieht er aus? In der Geschichte der Sozialphilosophie tritt diese Handlungsfigur in verschiedenen Rollen auf; die professionelle Prägung gruppiert sich um Macht und Herrschaft, um Machterwerb, Macht­erhaltung – trägt also wesentlich machttechnische Merkmale.
Ein politischer Mensch verfügt – so sagt man – über das Vermögen und die Fähigkeit, seinen Willen, auch gegen Widerstand der anderen, durchzusetzen. So heißt es bei Max Weber: »Politik würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung. Wer Politik treibt, erstrebt Macht.«
Das mag zutreffen, aber dieser eher staatsbezogen verengte, in der Wissenschaft jedoch geläufige Begriff des Politischen – als spezifisches Tätigkeitsmerkmal eines Berufs – unterschlägt vielfältige Handlungsfelder des homo politicus, die für den Zusammenhalt des gesellschaftlichen Ganzen von größerer Bedeutung sind als die machttechnischen Apparate, von denen wir gerade in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, wie schnell sie zusammenbrechen können.

Das zoon politicon, wie Aristoteles den politischen Menschen der attischen Demokratie im Zeitalter des Perikles definiert, enthält eine ganz andere Wesensbestimmung als die Macht: unpolitisch ist der, dem das Schicksal der Polis, des Gemeinwesens, gleichgültig ist, der den kollektiv erwirtschafteten Reichtum privatisiert und sich weigert, aktiv an den Volksversamm­lungen teilzunehmen.
Die von Perikles geprägte attische Demokratie begründet eine Tradition der Gesellschafts­philosophie, in der die Figur des politischen Menschen immer deutlicher eine eigentümliche und eigensinnige Gestalt annimmt, die von einer zur Lebensform gereiften demokratischen Gesamtorganisation nicht mehr zu trennen ist. Aufklärung und Französische Revolution haben dieser Gestalt unverwechselbare Charakterzüge verliehen: es ist der Citoyen, der öffentliche Bürger, der seinem Gegenpart, dem Bourgeois, dem homo oeconomicus die Grenzen seiner interessenbedingten Handlungsfreiheit zu setzen hat, in dem er mit dem Gesamtwohl gleichzeitig die Würde des Einzelnen einklagt. Der politische und der ökonomische Freiheitsbegriff kommen nie zur Deckung.

Es gehört zu den fatalen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte, dass die krebsartige Wucherung eines Menschenbildes, dass die charakteristischen Züge des homo oeconomicus, des unternehmerisch Tätigen, immer stärker in alle Kulturbereiche und selbst in die Denkweise der professionellen Politiker eingedrungen ist.

Welche Verarmung mit dieser betriebswirtschaftlich verengten Weltsicht verbunden ist, zeigen Ohnmacht und Phantasielosigkeit im Umgang mit der gegenwärtigen Krise: Den akkreditierten Realpolitikern fällt nichts anderes ein, als jene Machtmittel zur Bekämpfung der Krise einzusetzen, deren Missbrauch eben diese Krise verursacht hat. Die Schutz-Schirm- Milliarden wachsen von Tag zu Tag; es sind astronomische Zahlen, die genannt werden. Wie sollen die Menschen aber Achtung haben vor Politikern, die sich in der Öffentlichkeit als harte Realisten darstellen, aber am Sonntag Angst vor dem Montag haben, weil dann die Börsen wieder geöffnet sind. Die organisierte Verantwortungslosigkeit im Umgang mit den Produkten kollektiver Wertschätzung, die immer stärker dem Privatgebrauch zugeführt werden und oft einfach in Korruption versacken, ist jedoch nur Symptom einer viel tiefer gehenden Krise der Demokratie. Diese hat etwas damit zu tun, dass dort, wo der politische Mensch als Citoyen aus der Öffentlichkeit verschwindet, die Selbstreflexion einer Gesell­schaft ihre orientierende Kraft verliert.

Es ist bestürzend wahrzunehmen, wie wenig die gegenwärtige Krise gesellschaftliche Lernpro­zesse anstößt. Viele beschwören den Abgrund, aber es scheint alles normal weiter zu laufen. Wenige sprechen davon, dass wir uns inmitten radikaler Umbrüche zum Beispiel des Lernens und der Arbeitsgesellschaft befinden. In einer Zeit solcher Umbrüche – das wissen wir aus der Geschichte – vollziehen sich Wirklichkeits­spaltungen. Sie gehören zu den unmerklichsten gesellschaftlichen Veränderungen und gleichzeitig zu den folgenreichsten. Die subjektiven Orientierungen der Menschen und das System der Institutionen weisen weit auseinander. Die Menschen wenden sich in ihrer Orientierungs­suche zunächst, dann aber in rasanter Beschleunigung, vom vorgegebenen System ab, und es bilden sich politische Schwarzmarkt­phantasien, die auf eine Spaltung der Wirk­lichkeit drängen. Es entsteht eine gesellschaftliche Situation, in der die Menschen von Tag zu Tag die Wirklichkeitsebenen wechseln, weil sie unsicher sind, welche der Realitätsdefinitionen auf Dauer gelten soll.
Cicero hatte in diesem Zusammenhang eines Umbaus der Gesellschaft von einer »res publica amissa« gesprochen. Die Institutionen der römi­schen Adelsrepublik waren noch nicht abgeschafft, aber die politische Atmosphäre war angefüllt mit Unkenrufen, die auf ein ganz neues Herrschaftssystem hinwiesen – das des Prinzipats und das der Caesaren.
Die Klage Ciceros über die »res publica amissa« zeigt seine Sensibilität für die Gebrochenheiten einer Gesellschaftsordnung, in der das offizielle Institutionengefüge noch funktionsfähig erscheint, in der es aber im Inneren der Gesell­schaft brodelt und mit sozialen Unruhen zu rechnen ist. Dieses a-mitare, a-missum ist ja bedeutungsreich: Von »sich – gehen – lassen«, »wegschicken«, bis »entlassen«, aber auch »absichtlich fallen lassen«, »aufgeben«, »fahren lassen«.
Auf unsere heutigen Verhältnisse bezogen können wir, indem wir durch die Not der Krisen­erschütterungen belehrt, über Bildung und politische Urteilskraft erneut nachzudenken genötigt sind, dadurch von einer res publica amissa sprechen, von einer vernachlässigten Demokratie, einer Ordnung, in der die genuinen Demokraten, die eigensinnigen Menschen immer weniger werden.

Das Rückgrat der Demokratie als Lebensform mit weit gespannten Mit-Selbstbestimmungs­rechten ist der eigensinnige und politisch urteilsfähige Mensch. Es ist nicht der häufig beschworene Leistungsträger als Führungskraft und schon gar nicht der leistungsbewusste Mitläufer.
Der Hauptstrom der geistigen Entwicklung fliesst freilich in eine ganz entgegengesetzte Richtung. Umso dringender ist politische Bildung, die das Krisenbewusstsein schärft und die Urteilsfähigkeit der Menschen erweitert. Der Demokratie als einer gesellschaftlichen Gesamt­verfassung haftet freilich ein Makel an: Sie funktioniert nicht aus sich heraus, auch nicht, wenn man über die besten Institutionen und rechtlichen Verfahrensregeln verfügt. Das Schicksal einer demokratischen Gesellschafts­ordnung, die mit Leben erfüllt ist, hängt davon ab, in welchem Maße die Menschen dafür Sorge tragen, dass das Gemeinwesen nicht beschädigt wird und der politische Faden zum Wohlergehen des Ganzen nicht reißt.

Denn Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – nicht ein für allemal, so als könnte man sich einen gesicherten Regelbestand aneignen, der fürs ganze Leben ausreicht, sondern immer wieder, in tagtäglicher Anstrengung bis ins hohe Alter hinein. Und solch ein Lernprozess ist ohne praktische Übung nicht möglich. Nimmt man also das höchst strapazierte Wort vom lebensbegleitenden Lernen in den Mund, dann betrifft das in erster Linie auch das politische Lernen. Das man fortwährend lernen müsse, ist freilich ein uralter Topos, der seit Entstehen der kapitalistischen Wirtschaftsdy­namik mit der sie begleitenden Klage über die Enttraditionalisierung des Lebens aufs Engste verknüpft ist.

Schon Goethes »Wahlverwandtschaften« legen Zeugnis ab für dieses Erschrecken über die Not­wendigkeit fortwährenden Lernens und die gerin­ge Verlässlichkeit von Traditionsbe­stän­den: »Es ist schlimm genug«, rief Eduard (dieser reiche Baron im besten Mannesalter, wie Goethe ihn kennzeichnet) »dass man jetzt nichts für sein ganzes Leben lernen kann. Unsere Vor­fahren hielten sich an den Unter­richt, den sie in der Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.«

Demokratie macht Lernen in noch kleineren Zeitabschnitten notwendig. Und ohne Mit­be­stimmung in allen Lebensbereichen, die wichtige Angelegenheiten der Menschen betreffen und regulieren – und zu diesen gehören maßgeblich die wirtschaftlichen Produktionszusam­men­hänge –, ist demokratisches Lernen schwer vorstellbar und die Haltbarkeit eines demokratischen Gemeinwesens höchst zweifelhaft.
Es wäre an der Zeit, den öffentlichen Raum zu erweitern und weiter zu öffnen für jene Pro­zesse gesellschaftlicher Selbstverständigung, in denen Krisenlösungen als Akte der Befreiung, der Emanzipation verstanden werden. Der politische Mensch als Citoyen bekäme dadurch wieder die ihm zukommende zentrale Bedeutung für die demokratische Ordnung des Gemein­wesens.

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Anmerkung:

* Erstveröffentlichung als Hörfunkessay in der Reihe »Gedanken zur Zeit«, NDR Kultur, 12.9.2010. Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Oskar Negt und dem NDR.